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»Es gibt viel mehr«

Bauhaus-Vizedirektorin Regina Bittner über 100 Jahre Avantgarde, würdiges 
Gedenken an 89 und Stadthäuserzitate

  »Es gibt viel mehr« | Bauhaus-Vizedirektorin Regina Bittner über 100 Jahre Avantgarde, würdiges 
Gedenken an 89 und Stadthäuserzitate

Ausgerechnet gegenüber vom Gohliser Schlösschen wohnt die Wächterin über das Bauhaus. Regina Bittner ist Vizechefin im Dessauer Bauhaus. Ihr Wohnzimmer vereint Stuck mit bauhaustypischem Mobiliar aus Stahl. Sie bittet an einen Tisch aus Metall und Glas, reicht Tee und stellt gleich zu Beginn fest, dass es beim hundertjährigen Jubiläum der Kunsthochschule nicht um rückblickende Museumsarbeit geht.

kreuzer: Die New York Times hat Dessau gerade zu einem Place to visit ernannt. Ist Dessau ein Place to visit?Regina Bittner: Da ist zuallererst das Bauhaus, das hat schon Strahlkraft für Touristen, klar. Aber Dessau ist darüber hinaus interessant. Diese Bemühungen, eine attraktive Stadt zu sein, der Umgang im Alltag mit dem Bauhaus, der Geschichte, den Veränderungen nach der Wende, das alles kann man dort entdecken. Wenn ich mit älteren Menschen spreche, dann haben sie ihre eigenen Erinnerungen ans Bauhaus, das in der DDR bis zur Wiedereröffnung 1976 eine Berufsschule war.

kreuzer: Wie sind Sie ans Bauhaus gekommen?Bittner: Zunächst arbeitete ich in Dresden an der TU an einem Institut für Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften. Dann kam die Friedliche Revolution, an der ich mich auf Dresdens Straßen beteiligte – aber der Fachbereich fiel weg. So betätigte ich mich zunächst als Journalistin, was ich auch spannend fand, sich mit
ständig neuen Themen zu beschäftigen. Im Bereich Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit wollte ich bleiben. So bewarb ich mich in Dessau für eine Stelle
in der Öffentlichkeitsarbeit. Im Haus habe ich mich dann weiterqualifiziert, wurde wissenschaftliche Mitarbeiterin, übernahm die Leitung der Akademie und wurde schließlich stellvertretende Direktorin. Und seit vielen Jahren habe ich das Vergnügen, Ausstellungen zum Bauhaus zu kuratieren.

kreuzer: Sie sind Ethnografin, haben zu den Transformationsprozessen in Ostdeutschland gearbeitet. Derzeit wird viel über die besondere ostdeutsche Identität gesprochen. Wie sehen Sie das Thema?Bittner: Mit dem Begriff Identität habe ich meine Probleme und bin vorsichtig, den 
zu verwenden. Was genau soll das sein? Ich habe in der Region Bitterfeld/Wolfen nach der Wende ethnografische Forschungen unternommen, hier, wo ein Großteil der alten Industriebetriebe quasi über Nacht geschlossen worden ist und viele Menschen arbeitslos wurden. Sie haben natürlich ihre Umbruchserfahrungen gemacht, die Abwertung der eigenen Biografien erfahren, das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, das war oft bitter. Aber man darf nicht vergessen zu erinnern, dass diese Menschen auch Besonderes geleistet haben. Ihnen brach die Welt weg und sie mussten sich neu orientieren. Und sie haben sich neu orientiert. Das ist eine Leistung. Da kann man sie auch als Avantgarde sehen.

kreuzer: Wie Wolfgang Engler, der von den Ostdeutschen als Avantgarde schrieb?Bittner: Genau. Diese Leistung kann ihnen niemand nehmen. Man hört es nicht
gern, aber die Ostdeutschen lassen sich auch als Menschen mit Migrationserfahrung beschreiben. Die Erfahrung eines »Kulturschocks«, wenn sich alles ändert, das
erfordert eine enorme Anpassungsleistung. Sie kamen aus einem anderen Land, nur die Sprache war gleich.

kreuzer: Und sie hatten Probleme bei der Integration, weil man ihnen dabei auch nicht geholfen hat?Bittner: Ja, es gab keine Integrationsangebote, wahrscheinlich hat man sie gar nicht als Migranten wahrgenommen und sich selbst haben die Ostdeutschen sicher nicht so gesehen. Es gibt Studien zu Ostdeutschen, die gleich nach der Wende ins internationale Ausland gegangen und dann erst später wieder zurückgekommen sind. Sie werden als »Heimkehrer« beschrieben, die in ein ihnen fremdes Land zurückkehrten, wo sie nicht zu Hause waren. Das ist der Erfahrung türkischstämmiger Menschen vergleichbar, die nach langen Jahren in Deutschland wieder in die Türkei zurückgekehrt sind und weder hier noch da einen Ort der Bleibe finden.

kreuzer: Sind Sie von »100 Jahre Bauhaus« schon genervt?Bittner: Nein, wir haben lange auf das Jubiläumsjahr hingearbeitet, und da freue ich mich auch darauf. Die Vorbereitungen laufen seit zehn Jahren. Neben dem neuen Museum, wo wir erstmals die Sammlung umfassend zeigen, veranstalten wir eine Reihe von Festivals. Das erste, im März stattfindende Festival »Schule Fundamental« entwickelten wir vor dem Hintergrund unserer eigenen Bildungsprogramme. Wir nehmen das Gebäude als gebautes Curriculum ernst und stellen die Frage, wie denn heute eine Bauhausschule wäre. Es kommen internationale Initiativen alternativer Design-Pädagogik zusammen, die Gestaltung als soziales Projekt begreifen. Das sind Beispiele, die sich gegen die 
Ausbildung, die heute an den Hochschulen passiert, die immer wieder als verschult kritisiert wird, wenden. Zum Programm 2019 gehören auch die offenen Gespräche …

kreuzer: … unter dem Motto »Kultur unter Druck. Wie umgehen mit Ansprüchen der extremen Rechten an die Kultur?«, die Gesprächsreihe, die nach der Absage des Konzerts der Punkband Feine Sahne Fischfilet initiiert wurde. Die Absage wurde mit der Angst vor rechten Aufmärschen begründet und führte wenig überraschend zum Eklat.Bittner: Darüber wollte ich eigentlich gar nicht mehr sprechen. Wir waren alle
entsetzt über die Absage. Vor allem aber die Darstellung des Bauhauses als unpolitisch, die nicht unserem Verständnis des Bauhauses entspricht. Das hat auch in der Institution eine breite und kontroverse Diskussion ausgelöst. Die offenen Gespräche sind ein Weg, diese mit der Öffentlichkeit zu führen.

kreuzer: Bauhaus Dessau versteht sich nicht als Museum, das bloß ein Früher ausstellt?Bittner: Die Institution hat immer versucht, den Brückenschlag in die Gegenwart zu üben. Wir sind schon qua Stiftungsgesetz, und dazu gehört auch die Geschichte
der Institution vor 1989, eine hybride Institution zwischen Kulturhaus, Museum, Schule und Gestaltungsinstitut. Der Bezug zur Gegenwart hat nicht immer oder
nur bedingt funktioniert. Das ist eben die Spannung: Da ist der Ort und dann der Anspruch der internationalen Reichweite und des wahnsinnigen Mythos. Der
lastet auf den Schultern, man muss und will ihn bedienen. Das ist ein Spagat.
Es gibt in Dessau wie ich das nennen würde »schmutzigere« Bezüge zum Bauhaus – meint: alltäglichere. Die kommen in den Leuchtturmdebatten um das nationale Erbe oder um Weltkultur nicht vor.

kreuzer: Sie meinen anderes als die Designschiene?Bittner: Ja, wenn es beispielsweise um Ingenieurleistung in der Architektur geht, kommen die Leute. Diese Felder versuchen wir zu bedienen. Städte haben ja eine 
innere Logik, und das unterscheidet Dessau zum Beispiel von Weimar. Genau deshalb fanden die Bauhäusler Dessau so attraktiv. Hier weht schon der Geist des 20. Jahrhunderts, hieß es. Um die Stadt ringsum standen die Schornsteine,
Unternehmer hatten sich hier angesiedelt, in Politik und Kultur herrschte ein liberales Klima.

kreuzer: Was hat sich daran geändert?Bittner: Die Logik der Stadt war bisher industriell. Es gibt jetzt jüngere Leute aus
dem Dienstleistungssektor, die das Bauhaus stilistisch, als Lebensstil entdecken. Man sieht das gut in der Siedlung Dessau-Törten. Da hat man lange die wilden Ostler gescholten für ihre Art des Umgangs mit den Gropiusbauten. Jetzt akzeptiert man, dass repariert, verändert, angeeignet wurde und die Leute die Häuser weitergebaut haben. Inzwischen haben die Bewohnerinnen den »Bauhausstil« für sich entdeckt, die Fassaden werden weißer. Dass das Bauhaus im Alltag als 
Lebensstil angekommen ist, kann man auch in Leipzig sehen, schon aus meinem Küchenfenster. Ich bin umgeben von weißen Kuben und Flachdacharchitekturen, 
wo das Bauhaus als Applikation dient.

kreuzer: Bauhaus ist ein Aushängeschild für ganz Deutschland, sehen Sie das kritisch?Bittner: Nach 1990 wurde das Bauhaus zum kulturellen Leuchtturm mit der Idee
einer trotz geteilter Staaten bestehenden Kulturnation Deutschland. Die Neugründung als öffentliche Stiftung mit dem Engagement von Bund und Land ist Ausdruck dieser Bedeutung. Interessant ist, dass fast alle Posten in ostdeutschen
Kulturinstitutionen 1990 neu besetzt worden sind und damit auch die Deutungshoheit anders verteilt wurde. In Dessau nicht. Das hatte vielleicht auch etwas mit dem hybriden Status der Institution vor 1990 zu tun: weder Uni noch Museum.

kreuzer: Wie präsentiert Dessau die 100 Jahre Bauhaus?Bittner: Es wird ein viel uneindeutigeres Bild der sechs Jahre Bauhaus in Dessau geben, weg vom Kanon der chronologischen Darstellung. Wir versuchen die inneren Widersprüche des Bauhauses zu zeigen, die Kontexte und Vernetzungen. Wir erarbeiten gerade die Soundinstallation für den Museumseingang, bei der wir die 
Zeitungsartikel aus den zwanziger Jahren durchgehen. Das ist schon erschreckend, wie früh das Bauhaus angefochten wurde und wie das dem Heute ähnelt. »Was sollen wir mit den Ausländern?« ist so eine Überschrift und macht auch deutlich,
in welchen Zwangslagen und Konfliktsituationen sich das Bauhaus immer
schon befand.

kreuzer: Wie empfinden Sie Leipzig? Ist Leipzig für Sie eine moderne Stadt?Bittner: Eine interessante Stadt. Ich erlebe sie immer noch eher als Besucherin,
weil ich zu wenig Zeit habe. Ich hoffe aber, das ändert sich mal. Die Stadt hat eine enorme Veränderung mitgemacht: von der schrumpfenden zur boomenden Stadt.
Ich empfinde sie als Bürgerstadt – auch wenn das jetzt so ein Slogan ist – im Vergleich zu Dresden. Es gibt ein anderes Verständnis von Stadtaneignung. Das ist hier wie so ein großes Wohnzimmer. Auch wenn das jetzt nach Euphorie der zweitausender Jahre klingt vor dem Boom. Aber nichtsdestotrotz zehre ich davon immer noch ein bisschen. Ich lebe sehr gerne hier, weil es die Erfahrung gibt.

kreuzer: Wie meinen Sie das?Bittner: Wenn man sich anschaut, wie sie Feste feiert oder sich erinnert, erkennt man ganz gut, wie eine Stadt tickt. Diese artifizielle Inszenierung des Lichtfestes 2018 entsprach nicht mehr dem, worum es eigentlich mal ging. Gleichwohl ist mir auch klar: Wie soll man an den 9. Oktober 1989 erinnern? Das ist sehr schwierig.
Als ich da letztes Jahr stand, merkte ich, dass die jungen Studierenden um mich herum überhaupt nichts darüber wissen. Die gehen da hin und konsumieren das
und unterhalten sich dann – warum sind wir eigentlich hier? Auf der anderen Seite: Wenn man in einer Institution arbeitet, die sich immer schon mit Geschichte beschäftigt hat, dann entwickelt man ein Verständnis von Erbe. Wir schauen uns das Erbe immer aus den Fragen der Gegenwart an. Wir erzählen Geschichte immer aus diesem Blick. Dabei fällt einiges weg, denn Erbe ist immer Konstruktion. Wir nehmen es als Material und fragen, was können wir damit aus der Perspektive von heute noch anfangen?

kreuzer: Was könnte man damit anfangen?
Bittner: Was brauchen wir denn angesichts der Wahl 2019? Wie erzählen wir dieses Ereignis für eine Generation, die daran überhaupt nicht mehr beteiligt war? Es geht 
nicht mehr um Zeitzeugenschaft, sondern darum, wofür könnte dieses Ereignis 
heute stehen, worauf können wir uns zurückversichern; was müssen wir uns vergegenwärtigen? Was hilft uns angesichts der drohenden politischen Entwicklung in diesem Bundesland? Dann ist es umso ärgerlicher, wenn vielen Menschen vorgeführt wird, dass sie über vierzig Jahre ein falsches Leben geführt haben. Das ist genau der falsche Weg.

kreuzer: Was schlagen Sie vor?Bittner: Ich erinnere mich sehr gerne an F-Stop 2018 und die Installation »Das
Jahr 1990 freilegen« auf dem Wihelm-Leuschner-Platz, bei der es um die Bilder der Selbstermächtigung von Ostdeutschen nach 1989 ging. Nicht das Bild des Jammerossis oder der in der Schlange steht und giert, endlich die Westwaren zu 
bekommen, sondern umgedreht nach dem Motto: »Nein, wir lassen uns das hier nicht gefallen!« Das ist die Frage: Was müssen wir aus diesen Jahren erzählen?
Wir müssen genau das erzählen: »Hey Leute, ihr habt mal Mut gehabt! Und zwar anderen Mut! Es ging euch um Solidarität, um eine Gemeinschaft, die sich darum 
bemüht, ihre eigene Zukunft zu sichern.« Das ist doch notwendig zu erzählen! Diese Courage! Das sind doch die Momente der Selbstermächtigung, von denen man heute erzählen muss.

kreuzer: Haben Sie ein Beispiel?Bittner: Michael Hofmann hat diese Protokolle herausgegeben zu den Reden an
den Runden Tischen und in der Öffentlichkeit. Heute mit dieser Wut und diesem Hass und dieser gruseligen Rhetorik beim Sprechen in der Öffentlichkeit, in der
alle Dämme eingerissen sind. Das sind wichtige Momente, wenn es um das
Erinnern geht.

kreuzer: Leipzig als Ort der Selbstermächtigung?Bittner: Ich bin mir bewusst, dass das auch schon ein Mythos des Redens über die Stadt ist, aber man sieht es an der immer noch sichtbaren relativen Vielfalt der 
Lebensstile, trotz aller Kritik und trotz Marketings. Manchmal schaut man mit etwas Neid nach Dresden auf die Großkulturinstitutionen wie die Staatlichen Kunstsammlungen oder das Hygienemuseum. Das ist schon sehr bemerkenswert, was sie trotz oder wegen der schrecklichen politischen Entwicklung machen, wie sie Widerstand leisten und was sie tun. Leipzig hat nicht solche mächtigen Tanker, aber besitzt dafür mehr Vielfalt. Es gibt viel mehr.

kreuzer: Wenn man rausgeht aus der Blase Leipzig, sieht es im ländlichen Raum darum herum ganz anders aus …Bittner: Das ist ein wichtiger Punkt. Beim zweiten »Offenen Gespräch« im Dezember war David Begrich zu Gast und er hat die Spaltung Ostdeutschlands in Metropolen betont, im Umfeld und Land. Dieses Gefälle ist immer größer geworden, es besteht wechselseitiger Hass und Neid. Er erzählte von Bemerkungen, die er in Bitterfeld gehört hat, dass in Leipzig nur noch Wessis und Türken wohnen, da könne man 
sowieso nicht mehr hin. Ein Hass auf die Zentren, der äußerst problematisch ist.

kreuzer: Aber schottet sich nicht auch die Stadt vom Land ab?Bittner: Ja. Als »alte« Stadtforscherin weiß ich von der enormen Emanzipationskraft
in Metropolen, die Motoren sind, die vieles möglich machen. Sie sind politische Orte, in denen man viel mehr aushalten muss. Das ist der Vorteil von Städten als Lernorte. Das ist das Tolle an Leipzig für kosmopolitisch orientierte besserverdienende Milieus, die ziehen alle hierher, nabeln sich ab, und dann kommt dieses politische Gefälle zustande. Das ist äußerst fatal. Daher gibt es viele Bemühungen um den ländlichen Raum, wie von der Bundeskulturstiftung. Es ist sehr schade, dass solche Projekte zu wenig in die Öffentlichkeit gelangen. Da muss ich auch ein wenig Medienschelte betreiben. Weil – es gibt sie und es bedarf guter Beispiele, die sichtbar werden müssen.

kreuzer: Und es ist nicht umsonst, dass im urbanen Diskurs nach 25 Jahren
Abfeiern der Metropolen jetzt auf das Land geschaut wird, denn man weiß,
das ist ein politisches Dilemma.Bittner: Man darf nicht vergessen, dass Leipzig zu den ärmsten Städten gehört. Es ist keine wohlhabende Stadt. Und selbst hier in Gohlis – man muss nur auf die Georg-Schumann-Straße gehen, dort herrscht eine völlig andere Realität. Ich gehe dort sehr gerne hin. Wir wissen auch, wie schnell das Reden über und die Praxis von Gentrifizierung greifen. Aber ich denke, mal lieber genauer hingucken.


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