Leipzigs Kulturbetrieb steht seit Tagen still. Künstlerinnen, Einrichtungen und Mitarbeiter bangen um ihre Existenz. Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke über die Situation der Leipziger Kulturszene und mögliche Hilfen der Stadt
kreuzer: Wie schätzen Sie die aktuelle Situation für den Kulturbetrieb in Leipzig ein?SKADI JENNICKE: Vor allem für Solo-Selbständige bedeutet die aktuelle Lage einen sofortigen Totalausfall aller Einnahmen, viele können die nächste Miete nicht bezahlen.
kreuzer: Was kann die Stadt tun?JENNICKE: Wir erleben eine Situation, zu der wir – zumindest im Deutschland der letzten 70 Jahre – keinen Vergleich haben. Die bevorstehende nahezu komplette Einstellung des öffentlichen Lebens wird vermutlich länger andauernde Folgen haben, weit über den Zeitraum der akuten Krise hinaus. Unsere Gesellschaft wird nicht mehr dieselbe sein wie zuvor.Die Situation für Künstlerinnen und Künstler, die mit der Absage aller Veranstaltungen als erste und in großer Breite betroffen sind, ist dramatisch. Ich weiß, dass viele existenzielle Ängste haben, weil durch die ausbleibenden Honorarzahlungen kein Geld für Miete, Strom und Wasser da ist.
kreuzer: Wie viel kann die Stadt kompensieren?JENNICKE: Die Stadt Leipzig wird die Ausfälle nicht vollständig auffangen. Wir suchen nach einem rechtlich möglichen Weg, auf Rückforderungen von Fördermitteln zu verzichten, wenn eine Veranstaltung nicht stattfinden konnte. Wir werden uns dazu mit Bund und Land abstimmen. Darüber hinaus braucht es ein Soforthilfe-Programm. Auch dazu gibt es Überlegungen in der Stadt. Die Dimensionen werden jedoch so groß sein, dass es ein Bundesprogramm brauchen wird.
kreuzer: Worin bestehen im Moment Ihre Aufgaben?JENNICKE: Ich sitze seit über einer Woche täglich in mehreren Krisensitzungen. Es gilt, in der Abwägung von epidemiologischen Risiken und öffentlichem Druck täglich neue Entscheidungen zu fällen. Das geschieht mehrheitlich im konstruktiven, verantwortungsbewussten Dialog aller Akteure. Viele hunderte Detailfragen sind zu klären, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wollen Antworten auf ihre Fragen. Gleichzeitig läuft das Tagesgeschäft zum Teil weiter, was zuweilen zu merkwürdigen Konstellationen führt.
kreuzer: Was meinen Sie damit?JENNICKE: Verwaltungsabläufe und rechtliche Gegebenheiten müssen natürlich eingehalten werden, obwohl sie unter den derzeitigen Entwicklungen manchmal zweitrangig und drittrangig erscheinen.
kreuzer: Wie werden Sie die Verluste auffangen, die städtische Kulturhäuser wegen abgesagter Veranstaltungen haben werden?JENNICKE: Noch sind die Verluste nicht exakt definierbar. Die Häuser haben in der aktuellen Situation auch andere Sorgen. Der Schutz von Publikum und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hat absoluten Vorrang. Zudem versuchen wir selbstverständlich, Kosten spürbar zu reduzieren. Es wird einige Zeit dauern, ehe wir zum Normalbetrieb zurückkehren. Erst dann können wir seriös abschätzen, wie hoch die Defizite sind und wie wir damit umgehen.
kreuzer: Gibt es die Möglichkeit, die Ausfälle der freien Mitarbeiter von städtischen Kulturbetrieben abzufedern?JENNICKE: Das Infektionsschutzgesetz regelt die Entschädigung von Selbständigen, die selbst erkrankt sind oder unter Quarantäne gestellt werden. Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung bald klare Entscheidungen zu möglichen weiteren Entschädigungsansprüchen fällt. (Anm. d. Red.: Unmittelbar nach dem Interview kündigte der Bund ein Milliarden-Hilfsprogramm für Kleinstunternehmer an)
kreuzer: Was sind Ihre Hoffnungen für die nächsten Wochen?JENNICKE: Ich wünsche mir, dass wir aus dieser ungewöhnlichen Erfahrung Kraft und Zuversicht als Zivilgesellschaft schöpfen, wir Solidarität miteinander üben und es ungewöhnliche Begegnungen gibt, die uns zusammenwachsen lassen, auch wenn das im Moment eher digital geschehen sollte. Ich hatte schon einige sehr berührende Erlebnisse. Die Bilder des singenden Italiens haben mich sehr bewegt. Vielleicht ist so etwas auch hier möglich?