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Stadtleben

»Schwimmen lernen ist ein Menschenrecht«

Warum Grundschulen in Leipzig ihrer Verpflichtung kaum nachkommen können

  »Schwimmen lernen ist ein Menschenrecht« | Warum Grundschulen in Leipzig ihrer Verpflichtung kaum nachkommen können

Zwischen 10 und 20 Prozent der Drittklässler in Leipzig können nicht richtig schwimmen. Dabei sieht der sächsische Lehrplan vor, dass jedes Kind nach der zweiten Klasse schwimmen können soll. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein Text aus dem Heft 07/20.

Frühling in Leipzig, noch vor der Corona-Krise, morgens 8 Uhr, vor einer Schwimmhalle im Leipziger Norden: Ein Blick durch die Glasscheibe genügt, um Kinder mit bunten Badekappen und Schwimmnudeln zu erkennen, die um den Beckenrand flitzen. Die Tür ist abgeschlossen. Zumindest für Journalisten. »Wenn ihr was erleben wollt, dann kommt am Mittwoch vorbei.« So klang die Einladung einer zuvor kontaktierten Schwimmlehrerin. Doch daraus wurde nichts.

Die Leiterin der Leipziger Schulschwimmzentren benachrichtigte am Morgen sowohl die Lehrerin als auch das Schwimmhallenpersonal, außerdem die Rektorin der Grundschule und verwehrte den Zutritt – aus Datenschutz- und Sicherheitsgründen sowie weil die Schulleitung nicht vorab informiert worden sei, hieß es. Zudem verordnete sie ein Auskunftsverbot. Die Lehrerin, genau wie alle daraufhin kontaktierten Leipziger Schwimmlehrkräfte, verweigert ein Gespräch. Warum? Das weiß niemand genau.

Denn Redebedarf ist eigentlich da: Der Anteil der Kinder, die nicht gut schwimmen können, wird größer. 2018 ertranken in Deutschland 71 Personen unter 21 Jahren. 27 mehr als im Vorjahr. Der sächsische Lehrplan sieht vor, dass jedes Kind nach der zweiten Klasse schwimmen können soll. Nach Angaben des Sächsischen Kultusministeriums sind in Leipzig nach Beendigung der zweiten Klasse aber 11 Prozent der Schülerinnen und Schüler Nichtschwimmer. Die Zahlen stammen nicht aus einer amtlichen Statistik, sondern aus freiwillig erhobenen Daten in den Schulschwimmzentren. Mehrere befragte Leipziger Lehrkräfte schätzen die Zahl sogar auf etwa 20 Prozent Nichtschwimmer nach der 2. Klasse. »Mittlerweile scheinen die Zahlen so sensibel zu sein, dass die auch nicht mehr öffentlich gemacht werden«, sagt Ralph Petzold, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Leipzig. Petzold forscht seit Jahren zum Thema Grundschulschwimmen in Sachsen.

Frank Irmler, Vorstand der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) Leipzig, sieht die Schulen in der Verantwortung: »Es darf nicht sein, dass unser Bildungssystem es zulässt, dass Heranwachsende im Wasser sterben, weil sie nicht richtig schwimmen können. Schwimmen lernen ist ein Menschenrecht.«

In Sachsen ist der Schwimmunterricht an Grundschulen in sogenannten Schulschwimmzentren organisiert. »Diese Organisation stammt eigentlich aus DDR-Zeiten. Das gibt es in keinem anderen Bundesland«, berichtet Forscher Petzold. »In den Schulschwimmzentren arbeiten abgeordnete Sportlehrer, die den Schwimmunterricht übernehmen«, ergänzt Paul Döring vom Sportlehrerverband Sachsen.

Im sächsischen Lehrplan ist der Schwimmunterricht fest verankert. »Da gibt es eine Verpflichtung seitens des Staates«, erklärt Döring. In insgesamt 35 Unterrichtsstunden in der zweiten Klasse sei das »Erproben, Erlernen und Festigen der schwimmerischen Grundfertigkeiten unverzichtbarer Bestandteil des Unterrichts« – und »Voraussetzung für das Beherrschen mindestens einer Schwimmtechnik«. In anderen Worten: Nach Beendigung der zweiten Jahrgangsstufe sollen alle Kinder schwimmen können. Eine Illusion. »Wir bewegen uns da bei 55 bis 60 Prozent Nichtschwimmern zu Beginn des Schuljahres. Wiederum etwa 20 Prozent schaffen es auch während des Jahres nicht, schwimmen zu lernen«, berichtet ein Schwimmlehrer einer Leipziger Grundschule. Seinen Namen möchte er nicht nennen. Eine einfache Antwort auf die Frage, warum so viele Kinder Nichtschwimmer bleiben, gibt es dabei nicht. Es ist wie immer ein Zusammenspiel aus verschiedenen Ursachen.

Beginnend mit der offensichtlichsten: Die Schwimmhallen sind überfüllt – der Platz nicht ausreichend. Seit Jahren steigt die Einwohnerzahl Leipzigs stetig an. Doch mit steigender Attraktivität wird die Stadt auch vor neue infrastrukturelle Herausforderungen im Bildungsbereich gestellt. Sowohl das Lehrpersonal als auch der Sportlehrerverband sind sich einig, dass es in Leipzig zu wenige Schwimmhallen gibt und die existierenden häufig nicht auf die Bedürfnisse der Kinder zugeschnitten sind. Die Wege von den Schulen zu den Schwimmhallen sind so lang, dass oftmals pro Doppelstunde nur 20 bis 30 Minuten an effektiver Schwimmzeit verbleiben. Hinzu kommen Fehltage. »Man kann damit rechnen, dass der Schwimmlehrer im Jahr ein bis zwei Mal ausfällt. Dann kommen Feiertage dazu – Dinge, die dafür sorgen, dass wir im Laufe des Jahres fünf, sechs, sieben Ausfallstunden haben«, bestätigt der befragte Schwimmlehrer. Außerdem: Die Schwimmhalle, die er mit seinen Schülern normalerweise besucht, sei aufgrund von technischen Problemen derzeit geschlossen.

In Leipzig gibt es acht Schwimmhallen, auf die sich im letzten Schuljahr 7.636 Zweitklässler von 79 Grundschulen verteilen mussten. Das sind fast 1.500 Schüler mehr als noch im Schuljahr 2013/2014. »Beim aktuellen Wachstum bräuchten wir theoretisch pro Jahr eine neue Schwimmhalle, um das frühere Niveau zu halten«, meint Sebastian Schwenke, Pressesprecher der Schwimmstart Gemeinschaft SSG Leipzig. 2008 eröffnete in Leipzig das Sportbad an der Elster und ersetzte damit die kleinere Schwimmhalle Südwest, erklärt Katja Gläß, Pressesprecherin der Sportbäder. Bis voraussichtlich Ende 2020 werde mit dem Baubeginn der Sportschwimmhalle auf dem Otto-Runki-Platz im Leipziger Osten gerechnet. 2023 soll dann die neue Schwimmhalle eröffnen. Zudem laufe die Standortsuche für eine weitere Schwimmhalle im Leipziger Süden.

Doch selbst mit ausreichenden Schwimmhallen ließe sich ein anderes Problem nicht lösen: die Gruppengröße. Auf eine Lehrkraft kommen bis zu 16 Kinder. Zum Vergleich: Bei DLRG-Kursen ist ein Ausbildungsassistent für sechs Nichtschwimmer zuständig. Beim Postschwimmverein, Leipzigs größtem Schwimmverein, kommen drei bis vier Trainer auf 15 Kinder. »Bei höheren Schülerzahlen entstehen natürlich eher große Gruppen, weil zunächst die Kapazitäten voll ausgeschöpft werden sollen«, erklärt der Wissenschaftler Petzold. Die Zustände führen dann auch dazu, dass Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder in private Schwimmkurse schicken, bevor das Schulschwimmen losgeht. Engagement und finanzielle Möglichkeiten der Eltern tragen so auch zum Erfolg oder Misserfolg des Schwimmenlernens bei.

Zudem müssen die Kinder häufig von ihrer ersten Schwimmstunde an im tiefen Wasser üben und haben wegen fehlender Flachwasserbecken kaum Chancen, ihre Angst vor dem Wasser Schritt für Schritt zu verlieren. Bis zu 32 Schwimmanfänger, die auf fünf 25-Meter-Bahnen mit einer Wassertiefe von 1,80 Metern umherpaddeln, – das ist für alle eine Herausforderung. Und weil das auch gefährlich ist, kommt ein weiteres Problem hinzu: mangelnde Sprachkenntnisse. In der Regel besuchen Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund sogenannte DaZ-Klassen, die zur sprachlichen Vorbereitung dienen. Vom Kultusministerium gibt es keine einheitliche Regelung, über welchen Wortschatz Kinder aus DaZ-Klassen verfügen müssen, um am Schwimmunterricht teilnehmen zu dürfen. Die Entscheidung obliegt den einzelnen Schulen, wobei sich in Gesprächen mit Lehrkräften gezeigt hat, dass Schüler und Schülerinnen aus DaZ-Klassen oftmals nicht den Schwimmunterricht besuchen, da ohne eine problemlose Verständigung um die Sicherheit der Kinder gefürchtet wird.

Auch diesem Problem könnte man mit einer kleineren Gruppengröße beikommen. Um die zu reduzieren, wären mehr Lehrkräfte nötig, doch die Personalentwicklung ist »in den letzten Jahren in Sachsen eine Katastrophe«, sagt Ralph Petzold von der Uni Leipzig. Als Reaktion auf den Vorwurf des Lehrermangels versichert das Kultusministerium, dass ihm die kontinuierliche Sicherung des Schwimmunterrichts »sehr wichtig« sei. Doch die Realität sieht anders aus, wie Paul Döring vom Sportlehrerverband Sachsen verärgert berichtet: »Die Schule hat nun mal als Institution für die Gesellschaft eine wichtige Aufgabe. Aber es wird strukturell nichts geändert – da müssen Gelder da sein.«

Zu wenige Schwimmhallen, zu wenige Möglichkeiten für Kinder mit Migrationshintergrund und zu wenige Lehrkräfte – das sind Gründe, warum effektiver Schwimmunterricht an Schulen gefährdet ist. Ein Leipziger Lehrer zieht einen drastischen Schluss: »Wir als Lehrer sind schon der Meinung, dass die Eltern viel mehr auf die Straße gehen und sich beschweren müssten, wenn sie wüssten, was an den Schulen los ist.« Ein Appell, der wohl noch mehr sagt als die verschlossenen Türen zu Beginn dieser Geschichte.


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