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»Leipzig ist ein blöder Bruder«

Schriftsteller Dmitrij Kapitelman über seine Hassliebe zur Stadt, Humor beim Weinen und Konflikte mit den Eltern

  »Leipzig ist ein blöder Bruder« | Schriftsteller Dmitrij Kapitelman über seine Hassliebe zur Stadt, Humor beim Weinen und Konflikte mit den Eltern

Während des Gesprächs ist Dmitrij Kapitelman Hausgast beim Literarischen Colloquium Berlin am Wannsee, weswegen wir ihn nur digital zu Gesicht bekommen. Gebräunt sitzt er vor der bordeauxroten Wand in seinem Zimmer, vor dem ab und zu ein Partyboot vorbeifährt. Keine Sekunde vergeht, da ist Kapitelman wieder ganz in seinem Element und erzählt amüsiert von seinen Alltagsbeobachtungen – aber auch über die Eisenbahnstraße, seine Familie und den Zynismus beim Schreiben.

kreuzer: In Ihrem ersten Roman »Das Lächeln meines Vaters« erzählen Sie auch von Ihrer Jugend in Grünau in den Neunzigern, wo Sie vor »Neonazis mit Messern, Neonazis mit Hunden und Neonazis mit Baseballschlägern« flohen. Jetzt sind Sie wieder nach Leipzig zurückgekehrt. Was verbinden Sie heute mit der Stadt? Dmitrij Kapitelman: Ich verbinde inzwischen deutlich mehr mit der Stadt als die Scheiß-Nazizeit in Grünau. Aber vergessen habe ich sie auch nicht. Leipzig ist für mich wie ein blöder Bruder, den man nicht richtig lieben und nicht richtig hassen kann. Er ist da, er verschwindet nicht. Leipzig ist zugegebenerweise auch die Stadt, in der ich nicht darüber nachdenke, in welcher Stadt ich gerade bin. Und das macht sie dann wohl zu meiner. Dazu kommt, dass ich mich zu sehr liebe und mich zu sehr achte, um mich dem Mietmarkt in Berlin zu stellen.

kreuzer: Als Kind zogen Sie mit Ihrer Familie aus Kiew nach Meerane und kurz danach nach Leipzig. Später lebten Sie einige Jahre in Berlin und München. Wie kam es dazu, dass Sie jetzt wieder hier leben? Kapitelman: Die vergangenen drei Jahre habe ich in Frankfurt verbracht. Aber meine Beziehung dort ist zu Ende gegangen. Und dann verschlechterte sich auch die Gesundheit meines Vaters deutlich, so dass ich näher bei der Familie in Leipzig sein wollte.

kreuzer: Erleben Sie Leipzig heute anders als in Ihrer Kindheit und Jugend? Kapitelman: Ja, das hängt aber mehr damit zusammen, dass ich jetzt in der Eisenbahnstraße lebe. Und zwar, um genau das zu vermeiden: dass sich mein Leben in Leipzig wie früher anfühlt. Deswegen ist auch Connewitz gleich rausgeflogen. Da bin ich zuletzt 2011 weggezogen. Ich habe mir wahrscheinlich die am wenigsten leipzigartige Leipzigstraße ausgesucht, weil es sich nicht wie Stagnation anfühlen sollte.

kreuzer: Und wie finden Sie es dort? Kapitelman: Es ist hier ein Querschnitt aus Neukölln und Frankfurt – also das Leipziger Hybrid davon irgendwie. Ich muss auch sagen, dass das Klischee der hyperkriminellen Eisenbahnstraße so nicht stimmt. Aber das weltumarmende Gegennarrativ der multikulturellen Oase stimmt auch nicht.

kreuzer: Wie beurteilen Sie denn das Zusammenleben? Kapitelman: Ich finde es ganz spannend, dass die Nebenstraßen total anders aussehen. Also wenn die Eisenbahnstraße das kleine Damaskus ist, dann sind die Nebenstraßen plötzlich Baden-Württemberg. Beim Rabet gibt es einen angrenzenden kleineren Park, den ich den Weißen-Park nenne aus offensichtlichen Gründen. Komisch, dass das alles so nebeneinanderher sozialisiert.

kreuzer: Deutsch lernten Sie nach Ihrem achten Lebensjahr – heute arbeiten Sie als Autor und Journalist in dieser Sprache. Kapitelman: Ich habe ein besonderes Verhältnis zu der deutschen Sprache. Zum einen ist sie das Einzige von Deutschland, was ich bedingungslos annehmen und lieben kann. Bei ganz vielen anderen Sachen kann ich das nicht, aus verschiedenen Gründen. Aber die Sprache war immer da für mich, durch die Sprache ist mein Leben auch besser geworden. Nicht nur, weil ich Bücher verkauft habe, sondern weil ich Worte gefunden habe, um mich zu verstehen, um mich auszudrücken.

kreuzer: In Ihren Büchern schreiben Sie sehr autobiografisch und persönlich – auch über Ihre Familie. Was hat die dazu gesagt? Kapitelman: Da sind wir immer noch bei dem Sprachdilemma. Ich habe Bücher über meine Familie geschrieben, über die Entfremdung durch unseren Umzug von der Ukraine nach Deutschland. Diese Bücher können sie aber nicht verstehen, weil sie auf Deutsch sind. Oder zumindest nicht so gut lesen, wie ich mir das wünschte. Das erste Buch haben sie sich erzählen lassen.

kreuzer: Hat Zynismus auch etwas mit Selbstschutz zu tun? Kapitelman: Ja, ich habe das Gefühl, eine Menge Autoren kommen nicht so richtig aus der Deckung in dem, was sie so schreiben. Nicht, dass man das immer muss, aber es braucht etwas Eigenes, sonst profiliert man nur sehr gutes Handwerk, nicht viel mehr.

kreuzer: Meinen Sie, man kann die Leute sonst nicht berühren? Kapitelman: Ja, man muss etwas riskieren. Ein Türchen aufmachen. Etwas exponieren und verletzlich sein. Ich vermute, dass die Leserinnen das bei meinen Büchern sehr genau spüren und auch mögen, dass dieses Buch eben keine abgeschlossene Fassade hat. Sondern dass es auf die eine oder andere Art offen für sie ist.

kreuzer: Sie haben in diesem Jahr einen Text über den Antisemitismusbeauftragten geschrieben, in dem Sie sich damit auseinandergesetzt haben, was er eigentlich leisten kann. Seit Kurzem gibt es nun auch einen jüdischen Militärseelsorger bei der Bundeswehr. Kapitelman: Eine perfekte Vorlage, um zynisch zu sein. Zu urteilen: Symbolpolitik, die Nazi-Scheiße überdecken soll. Aber was dann? Where do you go from this? Schwierig. Ich bin grundsätzlich kein großer Freund der Bundeswehr oder überhaupt von Militarisierung. Und dann gibt es ja auch noch diese ganzen KSK-Enthüllungen und den ganzen rechten Corps-Scheiß. Aber die Frage ist ja, wenn ich jetzt die jüdische Seelsorge in der Bundeswehr zerrede, was habe ich gegen diese andere Schweinerei, die ich gerade beschrieben habe, bewirkt? Also, aus der Perspektive von tatsächlich einer jüdischen Wehrdienstleistenden ist es natürlich gut, gerade mit so viel Nazi-Scheiße, dass es da eine jüdische Seelsorge gibt. Wenn ich das jetzt politisch zerreiße, was bringt das? Also, sagen wir so: Ich traue dem Braten nicht, aber das Rezept für diesen Braten liest sich ganz gut.

kreuzer: Vor Kurzem haben Sie eine Reisereportage veröffentlicht, das erste Mal Reisen nach Corona. Darin schreiben Sie: »Ich liebe das am Reisen, Teil von Begebenheiten zu werden, mit denen ich normalerweise nichts zu tun haben würde. Mir hat diese Querverstreuung des Seins so krass gefehlt im Lockdown.« Wie sind Sie in dieser Zeit über die Runden gekommen? Kapitelman: Meine Lieblingsbeschäftigung war tatsächlich Schneeschippen. Ich war gerade schiffbrüchig bei meinen Eltern, und sie haben so eine Art Terrasse, die wäre eingestürzt, wenn man nicht den Schnee geschippt hätte. Und diese Stunde körperliche Arbeit auf der Terrasse manchmal in der Januar-Sonne, das waren teilweise die besten Momente. Ansonsten war ich sehr viel spazieren mit meinem Freund Stephan. Wir sind wirklich durch jeden Winkel Leipzigs gekrochen, um irgendwie aus dem Haus zu sein. Dann habe ich mit meinem Brother from another Vater Benjamin Hucke sehr viel Karten gespielt. Wir reden hier von Hunderten Partien. Ja, und so klischeemäßig es klingt, ich habe wirklich viel gelesen, wenn gar nichts mehr half.

kreuzer: Konnten Sie in der Zeit viel kreativ arbeiten? Kapitelman: Die Sache am Schreiben für mich ist, ich brauche eine gewisse Grundspannung in meinem Leben. Ich muss Sachen erleben. Ich muss Leute treffen, die entweder sehr kluge oder sehr dumme Dinge sagen, aber irgendetwas muss passieren. Sachen aus dem toten Winkel heraus zu schreiben, fiel mir persönlich relativ schwer. Das Schreiben selbst ging eigentlich erstaunlich unbeeindruckt von allem, was auf der Welt passiert. Die Arbeit bleibt einfach die Arbeit, der ist es egal, was mit uns ist. Aber mich dafür zu motivieren, zu arbeiten, das war echt schwer. Ich war zwischendurch sehr traurig wegen verschiedener Sachen und habe auch einfach nicht eingesehen, warum ich jetzt arbeiten soll, wenn ich nicht mal rausgehen darf. Oder du arbeitest und du bist doch glücklich mit dem Text, den du geschaffen hast, und dann schickst du den weg und sitzt immer noch in deinem Zimmer in Unterhose. Dieser Text über den Antisemitismusbeauftragten, der war richtig anstrengend. Ich musste für 16 Bundesländer recherchieren und mir angucken, wie da die Behördenstrukturen sind. Du brauchst eigentlich Meer, Strand und Pomelo und ein bisschen Nähe zu Menschen – aber liest von Richtlinienkompetenzen. Na ja, zum Glück leben wir im Kapitalismus. Der Druck, Geld zu verdienen, ist immer für einen da und umarmt einen auch sehr fest. Ich habe mich da jetzt aber ein bisschen reingesteigert. Andererseits hätte ich nach zwei Tagen ohne Arbeit auch rumgeheult und gesagt: Was soll ich mit mir anfangen?

kreuzer: Wie geht es weiter mit Ihrer Arbeit? Gibt es schon Ideen für ein nächstes Buch? Kapitelman: Überhaupt nicht. Also wirklich nichts. Aber es ist immer nichts bei mir, bis etwas da ist. Ich verlasse mich jetzt einfach darauf, dass das wieder so kommt. Die letzten 15 Monate waren schon ganz stabile Eselscheiße. Ich brauche jetzt erst einmal wieder ein bisschen Leben und dann ist auch an ein Buch zu denken. Das Schöne ist, jetzt, da ich ein zweites Buch geschrieben habe, habe ich nicht mehr diese Stimme im Kopf, die sagt, du musst beweisen, dass du kein One-Trick-Pony bist, du musst ein zweites Buch schreiben. Das ist jetzt weg. Also ich bin jetzt ein Two-Trick-Pony. Irgendwie fühle ich tatsächlich nicht so viel Druck, das dritte zu schreiben. Heute Abend treffe ich meinen Verlag, die werden versuchen, den Druck aufzubauen (lacht kurz). Da ich viele längere Reportagen schreibe, fühlt es sich für mich nicht an, als hätte ich jetzt mit dem Buch auch aufgehört zu schreiben. Die Bücher sind die Olympiade und zwischenzeitlich halte ich mich bei den Reportage-Regionalmeisterschaften fit. Hauptsache, ich kann weiterschreiben, das ist mir schon sehr wichtig.


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