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Kultur

Atemlos in die Barbarei

Planspiel »On the Other Side« lädt zur Radikalisierung ein

  Atemlos in die Barbarei | Planspiel »On the Other Side« lädt zur Radikalisierung ein

Im interaktiven Planspiel »On the Other Side« sind Publikum und Spielende in enger Interaktion miteinander. Das Projekt zeigt auf, wie die Strukturen sozialer Medien zur Radikalisierung ihrer Nutzerinnern führen können.

Im Foyer des Theaters der Jungen Welt empfängt Katharina Müller (Lena Maria Eikenbusch) vom Prognostic Department der neuen Social Media Platform Hydra die heutigen Testerinnen. Die Testerinnen, das ist das Publikum. Der Test ist die heutige Vorstellung, ein Planspiel von Veravoegelin und Sebastian Ryser (Regie, Konzept, Bühne und Kostüm). Noch im Foyer werden die Rollen verteilt. Die Teilnehmerinnen teilen sich auf in Content Creator und Influencer, sie werden eingeteilt in Teams, die den Algorithmus bestimmen, in der Schaltzentrale platziert, die den Traffic überwacht, das Team des Prognosting Eye soll den Überblick über die trending Themen bewahren.

Die Testerinnen werden in den großen Saal begleitet, den Hydra für die Datenerhebung angemietet habe. Der Bühnenraum ist das Spielfeld. Die Teams werden an die ihnen zugeteilten beleuchteten Tische verwiesen. Sie bekommen farblich einheitliche Westen. Die Content Teams geben sich Namen. Ihr Content wird gerated, also bewertet. Der Score wird jederzeit sichtbar sein. Dies wird ein Wettkampf um Likes.

Hydra, sagt Mitarbeiterin Katharina Müller stolz, sei das nächste »Big Thing« in Europa, denn: »Habt ihr davon gehört? Von dem Urteil?«, fragt Friederike Leker (Clara Fritsche), die zweite Hydra-Mitarbeiterin. Der europäische Gerichtshof habe entschieden, dass Daten von europäischen Bürgerinnen nur auf europäischen Servern gespeichert werden dürfen. Als Reaktion darauf werden sich der Social-Media-Riese Meta (Facebook, Instagram) und sein chinesischer Konkurrent TikTok aus Europa zurückziehen, so dass bald nur noch eine Plattform bleiben werde: Hydra, allein im prophezeiten Social-Media-Wasteland EU. In dieser drohenden Wüste will der Tech-Guru Tom Fisher (Martin Klemm) Hydra erblühen lassen. Ein Werbevideo wird eingespielt, das Fisher in lichtdurchfluteter Silicon-Valley-Kulisse zeigt.

Das Spiel beginnt. Die Content-Creator-Gruppen stehen sofort unter Druck. Die Algorithmus-Gruppe gibt den Ton an. Das Prognostic Eye versucht am Puls des Moments zu bleiben. Die Eyes geben Themen an die Schaltzentrale weiter, die diese auswertet. Das Spielgeschehen entwickelt sich und die Dynamik ist zwingend. Es wird immer schneller. Kommen anfangs Selfcare-Posts noch besonders gut an, generieren sie bald schon weniger Likes und werden politischer, dann radikaler. So wandelt sich der Content innerhalb von Minuten von Urlaubsbildern und Rat zur geistigen Gesundheit zu Kriegsbildern und Gewaltsprache. Immer wieder werden Testerinnen in einen Nebenraum geführt, wo ihnen Visionär Fisher in kurzen Monologen seine Allmachtgelüste offenbart.

Dann wird die Simulation gehackt. Das Licht flackert, die Bildschirme sind gekapert. Hacker-Aktivistin Sinistra (Philipp Zemrich) unterbricht das Spiel und zeigt den Twitch-ähnlichen Stream von Jules (ebenfalls Philipp Zemmrich), dem man in kurzen Abschnitten bei seiner persönlichen Radikalisierung folgen kann, die bei der anfänglichen Begeisterung für die neue Plattform beginnt und bei brutalsten, misogynen Gewaltfantasien endet. Außerdem werden Details über Unternehmer Fisher gezeigt.

Die Archetypen der Brutalen sind hier die Typen und auch sonst ist der Abend gelungen. Die Spielerinnen haben das Spiel im Griff, sodass das Spiel geführt, befreit gespielt werden kann. Das Spiel macht Spaß, macht aufmerksam, macht nachdenklich.

Weitere Vorführungen am 9. und 10. Juni, jeweils 11 Uhr, Theater der Jungen Welt

Foto: Tom Schulze


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