Es ist so eine Sache mit den Dingen, die sich jähren. Sie erinnern uns an Tragödien oder ganz profan daran, dass Zeit eben doch fliegt und man schon wieder älter geworden ist. Und dann gibt es noch eine Sonderform der Jubiläen: die überraschenden, unverhofften und erfreulichen. So eines gab es kürzlich – am 11. September – im Kino der Jugend zu feiern: Die Leipziger Rocklegende Tino Standhaft spielte mit seiner Band ein Konzert in dem baufälligen, seit 1987 geschlossenen Kino auf der Eisenbahnstraße. Das war auch daher ein besonderes Event, weil Standhaft als junger Mann im Oktober 1987 eines der letzten Konzerte in ebendiesem Veranstaltungsort spielte. Back to the roots und Zeitreise in einem also.
Das imposante alte Kino der Jugend steht jenseits des Torgauer Platzes auf der Eisenbahnstraße, einer Ecke des Leipziger Ostens, die viele Menschen kaum auf dem Schirm haben. Um das Gebäude vor dem unweigerlich voranschreitenden Verfall zu retten und es als Kultur- und Begegnungsraum für Volkmarsdorf zu erhalten, engagiert sich seit 2015 die IG Fortuna. 2020 gewann sie mit ihrer Idee für das Kino der Jugend ein Konzeptverfahren der Stadt, durch das die Initiative künftig das Erbbaurecht für das denkmalgeschützte Lichtspielhaus erhalten soll. Langfristiges Ziel ist es, das Kino als Kulturort zu erhalten. Um auf das Potenzial der Lokalität aufmerksam zu machen und mehr (Ost-)Leipziger einzubinden, veranstaltete die IG in der Vergangenheit bereits mehrfach Veranstaltungen im Kino der Jugend.
Helmpflicht im Kinosaal
Die Bauhelmfestspiele Anfang September 2022 reihen sich hier ein. Die IG Fortuna zeigt mit einem bunten Programm, warum das Kino als Kulturort im Leipziger Osten gebraucht wird. Auf dem Programm stehen unter anderem ein Filmabend mit der Globale, Musik von DJ Schellack und dem Arbeiterliederchor AL.LE sowie Lichtinstallationen im alten Kinosaal. Dieser ist klar das Zentrum des vielseitigen Programms. Bis auf die Leinwand komplett entkernt, bietet er normalerweise einen gespenstischen Eindruck. Je nach Veranstaltung, Licht und Musik zeigen sich aber verschiedene Potenziale und Stimmungen. Die Besucherinnen und Besucher der Bauhelmfestspiele dürfen in begrenzter Anzahl in den Saal – aber nur mit einem der bereitgestellten Bauhelme. Parallel dazu wird das Geschehen drinnen nach draußen auf eine Leinwand an der Rückseite des Gebäudes projiziert.
Standhaft zum Kino-Ende 1987 und zum Festivalabschluss 2022
Als letzten Programmpunkt haben sich die Organisatoren der IG Fortuna etwas Besonderes überlegt: Tino Standhaft und Band spielen den Abschluss des Bauhelmfestivals 2022. Der umtriebige Altrocker Tino Standhaft ist bekannt für seine kernige Rock- und Bluesmusik und hat schon in etlichen Bands in Leipzig und Berlin gespielt. Den Auftritt des jungen Standhaft im Kino der Jugend 1987 belegt eine alte Konzertkarte, die er auf seiner Website präsentiert. Er gibt zu Protokoll, sich nicht mehr allzu gut erinnern zu können – er habe einfach zu viele Konzerte im Laufe seiner Karriere gespielt. Als ihn die damalige Filmtheaterleiterin Gabi Sergel aber fragt, ob er nach 35 Jahren nicht ins Kino der Jugend zurückkehren wolle, lässt er sich nicht lange bitten. Mit seiner Band, die in der Konstellation erst den vierten Auftritt hat, kehrt er zurück an einen Ort seiner musikalischen Anfänge.
Um 20 Uhr verteilen sich die Gäste auf den Hof mit der Leinwand (die rauchenden) und das Innere des Kinos (die behelmten). Vor der alten Kinoleinwand steht eine Bühne, auf der Standhaft und Band in Stellung gehen und direkt loslegen – es werden nicht viele Worte verloren. Anders als zu den bluesigen Anfängen spielt Standhaft mittlerweile einen recht rockigen Sound, der hier im Kino durchaus Angst vor bröselndem Putz auslöst. Das Publikum sitzt behelmt auf Bierbänken und wippt zu den mitreißenden Gitarrenriffs. Hin und wieder wandert der Blick durch den Saal: Stilvolle Lichtinstallationen in kühlen Farben auf und um die alte Leinwand herum erwecken ein wohlig-gespenstisches Gefühl.
Der Bandleader sorgt für einige Lacher im Publikum, als er erklärt, sich durchaus selbst zu spüren an diesem Ort. Apropos Publikum: Einige der Anwesenden werden 1987 dabei gewesen sein, andere waren damals noch nicht mal geboren. Nach knapp zwei Stunden endet das Konzert und damit das Bauhelmfestival 2022. Als letzten Song hat Standhaft, als der Neil-Young-Aficionado, der er ist, einen besonderen Hit ausgesucht: »Rockin’ in the Free World«. Am Jahrestag von 9/11 durchaus ein symbolträchtiger Song. Die Spinnweben an den Bauzäunen um die größten Löcher im Boden werden noch mal ordentlich zum Schwingen gebracht. Und dann schließen sich mit dem letzten Akkord einige Kreise, hier im Kino der Jugend, das in der Zukunft eine zweite Jugend erleben könnte.
Titelfoto: Fabian Heublein.