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Stadtleben

»Ich bin da, wo die Mannschaft mich braucht«

Anja Mittag hat alle großen Titel im Fußball gewonnen, seit 2019 lebt, spielt und trainiert sie in Leipzig – ein Interview über Leistungssport, Sexismus und Fußball-Podcasts

  »Ich bin da, wo die Mannschaft mich braucht« | Anja Mittag hat alle großen Titel im Fußball gewonnen, seit 2019 lebt, spielt und trainiert sie in Leipzig – ein Interview über Leistungssport, Sexismus und Fußball-Podcasts

Es ist kurz vor neun, als Anja Mittag im Trainingsanzug über den Parkplatz geschlendert kommt. Wir treffen uns im RB-Trainingszentrum am Cottaweg. Auf die Frage, ob sie vorm Interviewtermin schon laufen war, lacht Mittag überrascht auf. Wer so lange auf so hohem Niveau gespielt und trainiert hat, freut sich, einen Tag auch mal gemütlich beginnen zu können.

kreuzer: Sie haben ja schon an vielen Orten in Sachsen gespielt. Hand aufs Herz: Welches ist der schönste?

Anja Mittag: Der schönste Fußballplatz? Puh, das ist schwer. Man verbindet mit so einem Fußballplatz ja auch immer Erinnerungen. Deswegen würde ich sagen, beim Chemnitzer FC im Neubauernweg, da trainieren die ihren Nachwuchs und da habe ich viel Zeit verbracht. Ich weiß nicht, ob es der schönste oder der beste Rasenplatz ist, aber zumindest hängen da viele Erinnerungen dran. 
 

Sie sind mit RB vor zwei Jahren in die zweite Liga aufgestiegen. Dann haben Sie die Karriere beendet und sind doch noch mal zurückgekommen. Jetzt spielen Sie bei Eintracht Leipzig-Süd und sind bei RB Co-Trainerin. Fällt es Ihnen schwer, den Fußball sein zu lassen?

Ja, klar. Wenn man tagtäglich mit der Mannschaft trainiert oder auf dem Platz steht, dann bekommt man natürlich schon Lust, in der ein oder anderen Übung mit auszuhelfen und einzuspringen. Manchmal mache ich das auch, wenn eine Spielerin fehlt. Ich habe das Gefühl, dass ich das körperlich noch kann. Nicht täglich und nicht jedes Wochenende ein Spiel. Aber ich habe noch Lust – und wenn sich das vereinbaren lässt mit unseren Trainingszeiten, dann versuche ich gerne, mich fit zu halten.
 

Spielen Sie dann im Sturm oder eher weiter hinten? Oft ist es ja so, dass Leute, die auf hohem Level gekickt haben, dann eher defensiver spielen, wo sie mehr Überblick haben und die anderen abfedern.

Wenn ich jetzt bei Eintracht Leipzig-Süd im Sturm spiele – und das meine ich nicht despektierlich –, dann kriege ich auch mal weniger Bälle. Deswegen lasse ich mich absichtlich manchmal ein bisschen tiefer fallen, um meine Mitspielerinnen zu bedienen. Und ich weiß, dass ich da ein bisschen mehr ins Spiel eingebunden bin. Ich bin da, wo die Mannschaft mich braucht.
 

Wie sind Sie eigentlich dazu gekommen, Fußball zu spielen?

 

Der Klassiker: Wie bei vielen Fußballerinnen durch den älteren Bruder. Ich habe zwei Brüder und der eine hat auch Fußball gespielt. Da war es normal, mit ihm auf dem Hof zu kicken. Früher war ich öfter draußen und habe viel gespielt. Ich habe auch schnell gemerkt, dass da eine Begabung oder Talent vorhanden ist, und bin drangeblieben.
 

Oft gibt es ab einem gewissen Alter keine Mädchenmannschaft mehr und man muss das Team wechseln. Wie war das bei Ihnen?

Mit 12 musste ich damals zu einer Mädchenmannschaft wechseln. Und Gott sei Dank, dass ich in der Großstadt aufgewachsen bin, da war es für mich relativ einfach. Aber es gibt viele Mädchen, die den Aufwand nicht mehr tragen wollen, für eine Stunde woanders hinzufahren, um zu trainieren. Es ist beim Sport wichtig, sich als Mädchen oder Frau akzeptiert zu fühlen. Für mich war es in dieser Hinsicht auch nicht immer einfach.
 

Bestimmt ist das auch für Ihre jungen Mitspielerinnen gut, da jemanden zu haben, der so eine Routine hat und seine Erfahrung teilen kann, oder?

Bei Eintracht Leipzig-Süd ist es nicht so, dass da viele junge Spielerinnen auf mich zukommen und mit mir reden, sondern ich gehe eher proaktiv auf sie zu. Aber ich denke schon, dass sie sich freuen.
 

Sie sind 2019 vom FC Rosengård aus Schweden nach Leipzig gewechselt. Wie kam es zu dem Wechsel?

Damals war Katja Greulich Cheftrainerin von RB Leipzig. Wir hatten Kontakt und kannten uns schon ein bisschen länger. So kam es zustande, dass ich hier die Möglichkeit bekommen habe, bei RB Leipzig zu spielen und angestellt zu sein. Ansonsten war ich früher natürlich oft in Leipzig, zum Beispiel bei Turnieren des sächsischen Fußballverbands.
 

Sie sind jetzt Co-Trainerin und Individualcoach. Wo liegt der Schwerpunkt in Ihrer Arbeit?

Wir haben zwei Co-Trainerinnen, ich bin quasi die zweite – und Individualtrainerin. Deswegen liegt mein Schwerpunkt auf der Einzelarbeit. Das bedeutet, gelegentlich die Morgeneinheiten zu steuern und zu übernehmen und individuell mit den Spielerinnen zu arbeiten. Je nachdem, an welchen Schwerpunkten sie arbeiten wollen. Bei Stürmerinnen ist es natürlich häufig der Schuss, damit die Spielerinnen noch effektiver vor dem Tor sind.
 

Damit kennen Sie sich ja auch aus.

Klar, das Offensive liegt mir ein bisschen besser.
 

Sie hatten viele Stationen bei verschiedenen Vereinen. Würden Sie sagen, dass es eine erfolgreiche Männer-Mannschaft braucht, damit auch der Frauenfußball erfolgreich sein kann?

Ich glaube schon, dass da eine Entwicklung stattgefunden hat. Vor vielen Jahren war es noch etwas Besonderes, wenn die Vereine eine reine Frauenmannschaft hatten. Es bringt natürlich auch viele Vorteile mit sich, wenn finanzkräftige Männer- und Lizenzvereine dahinterstehen: in der Infrastruktur, bei Rasenplätzen, bei der Qualität und natürlich auch bei den Finanzen. Das kann den Frauenfußball langfristig unterstützen. Gerade wenn man hoch hinauswill, sei es in der ersten Bundesliga oder der Champions League. Denn auch im Frauenfußball braucht es Unterstützung, um oben mithalten zu können gegen Vereine wie Barcelona, Bayern München oder Paris St. Germain, um mal einige zu nennen. Da hat sich schon sehr viel entwickelt und ich glaube, dass es auch für die Fans der Lizenzvereine interessanter ist, sich mit der eigenen Frauenmannschaft zu identifizieren, weil man dasselbe Logo trägt. Ich glaube, das macht die Sache ein bisschen spannender.
 

Wie ist Ihr Gefühl hier in Leipzig? Wie wird da der Frauenfußball angenommen?

Ich glaube schon, dass das Interesse da ist. Es ist sicher noch ausbaufähig, keine Frage. Wir spielen unsere Spiele drüben in Markkranstädt. Das hat natürlich auch einen historischen Grund, deswegen sind wir froh über die Möglichkeit, dort zu spielen. Langfristig wollen wir aber in Leipzig spielen und hoffen, dass noch mal ein größerer Bezug entsteht. Und je höher wir spielen, desto größer wird die Fannähe.
 

Daran anschließend: Sie haben mehr Länderspiele absolviert als Lothar Matthäus, der deutscher Rekordnationalspieler bei den Männern ist. Werden Sie oft auf der Straße erkannt?

Früher, zur aktiven Zeit, ist das schon öfter passiert. Jetzt hat es deutlich nachgelassen. Es ist eher so, dass Leute gucken und dann wahrscheinlich denken: »Ah, irgendwo kann ich sie einordnen, aber ich weiß nicht, wo.« Aber das war auch früher nicht schlimm. Ich glaube, dass man im Frauenfußball nie in die Sphären reinrückt wie vielleicht ein männlicher Fußballprofi. Wir haben da mehr Privatleben, was auch nicht schlecht ist.
 

Denken Sie dennoch manchmal: Ich hab Olympia-Gold und die WM gewonnen, dreimal die EM – das wird nicht wertgeschätzt in der Gesellschaft und Medienlandschaft?

Na klar, es ist ja auch immer eine Wertschätzung, wenn man angesprochen wird. Man wird wahrgenommen für das, was man auf dem Platz geleistet hat. Aber natürlich bin ich auch froh, dass ich nicht diesen Hype auslöse, mit dem ich nicht mal in Ruhe einen Kaffee trinken könnte. Es ist so ein bisschen beides.
 

Apropos Nationalmannschaft, Sie haben Ihre Karriere dort 2017 beendet. Haben Sie noch Kontakt zu Ihren ehemaligen Kolleginnen?

Ich verfolge die Mannschaft natürlich sehr intensiv, gerade auch bei der letzten EM in England. Ich war auch bei ein paar Spielen vor Ort und bin großer Fan. Ich freue mich, wenn da eine Entwicklung zu sehen ist und die Mannschaft erfolgreich spielt. Kontakt habe ich hin und wieder zu Spielerinnen, aber nicht regelmäßig.
 

Wäre das auch etwas, das Sie reizen würde: irgendwann beim DFB-Team zu arbeiten?

Klar, die Nationalmannschaft ist immer ein spannendes Thema. Aber nichts, das aktuell für mich in Frage kommt. Ich fühle mich ganz wohl hier.
 

Die EM tauchte diesen Sommer in den Medien häufiger auf als in den Jahren zuvor. Es gab auch eine NDR-Doku, in der Spielerinnen von Sexismusvorfällen berichtet haben. Wie war das in Ihrer Wahrnehmung?

Man hat ja grundsätzlich immer viel – bewusst oder unbewusst – mit Diskriminierung zu tun oder sexistischen Sprüchen. Ich weiß nicht, wie es heute für junge Spielerinnen ist, aber ich habe viel erlebt und musste mir viel anhören. Ich habe viel weggesteckt und viel weggelächelt. Deswegen ist das Thema schon allgegenwärtig im Frauenfußball. Ich glaube aber auch, dass da die eine oder andere gesellschaftliche Veränderung stattfindet. Ich habe den Eindruck, dass viel mehr darüber gesprochen wird, dass die Spielerinnen natürlich auch an Stimme gewinnen oder mutiger werden, weil es viele Vorbilder gibt, die sich erheben und sagen: »Hey, das ist nicht okay.« Es gibt viele Anlaufstellen, nicht nur für Frauen, an die sich Betroffene wenden können. Das bedarf natürlich auch viel Mut. Es wird nun mehr drüber gesprochen und die Thematik wird sichtbarer.
 

Noch mal zurück zu den schönen Seiten des Fußballs: Was war der tollste Moment in Ihrer Fußballkarriere?

Wir haben mit Turbine Potsdam 2010 die Champions League gewonnen. Das war ein besonders schöner Moment. Wir haben im Elfmeterschießen gewonnen, es stand lange 0:0. Der Olympiasieg 2016 in Rio war auch ein besonderes Highlight. Ich habe ein Jahr später aufgehört, deswegen war das noch mal ein perfekter Abschluss für mich.
 

Gewöhnt man sich irgendwann an diese Titel?

Wir hatten eine Zeit mit der Nationalmannschaft, die sehr erfolgreich und mit vielen klasse individuellen Spielerinnen gespickt war. Aber ich würde nie sagen, dass das eine Gewohnheitssache ist. Jeden Erfolg muss man sich hart erarbeiten, man braucht viel Glück, man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Man muss verletzungsfrei bleiben, damit man die Möglichkeit hat, alles mitzuerleben. Und ich weiß jetzt, wie viel Arbeit dahintersteckt, auch vonseiten der Mannschaft und des Trainerteams. Es ist immer ein langer, steiniger Weg, egal, ob das jetzt eine Saison mit 26 Spieltagen oder ein Turnier mit nur sechs Spielen bis ins Finale ist.
 

Biografie

Anja Mittag wurde 1985 in Karl-Marx-Stadt geboren und begann mit dem Fußballspielen beim VfB Chemnitz und Chemnitzer FC. Nach Stationen bei Turbine Potsdam, FC Rosengård, Paris St. Germain und dem VfL Wolfsburg wechselte sie 2019 zu RB Leipzig, wo sie nun als Trainerin arbeitet. Aktiv ist sie weiterhin beim Regionalligisten SV Eintracht Leipzig-Süd. Mit ihren Vereinen gewann Mittag die Champions League und den UEFA Women’s Cup, dreimal den DFB-Pokal, sechsmal die deutsche und zweimal die schwedische Vereinsmeisterschaft. Mit der Nationalmannschaft wurde sie einmal Weltmeisterin und dreimal Europameisterin und gewann 2016 olympisches Gold. Insgesamt hat Mittag 158 Nationalmannschaftsspiele absolviert und ist damit auf Platz vier der ewigen Rangliste der deutschen Frauen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Frauenfußball hat sich über die letzten Jahre technisch, strategisch und athletisch enorm gesteigert, in vielen europäischen Ländern steigen die Zuschauerzahlen – trotzdem nimmt die Anzahl der Mädchen und Frauen in Deutschland ab, die im Breitensport spielen. Woran liegt das?

Nach der EM gab es wohl einen kleinen Boom, viele Mädels haben angefangen zu kicken und einige Vereine konnten dem gar nicht nachkommen. Ich weiß nicht, ob es Corona-bedingt weniger Frauen und Mädchen gab, die Fußball gespielt haben. Ansonsten glaube ich, dass die Entwicklung schon abhängig vom Erfolg der Frauennationalmannschaft und deren Sichtbarkeit ist. Ich meine, wenn 18 Millionen das Finale schauen, dann wirkt das auch auf eine kleine 10-Jährige oder 12-Jährige. Das bedingt sich auch. Es gab lange kein großes erfolgreiches Turnier der deutschen Nationalmannschaft. Deswegen hofft man natürlich, dass die Medien helfen, die Sichtbarkeit durch die Übertragung von Spielen zu erhöhen.
 

Und an Sie als Trainerin: Ihr Plan ist der Aufstieg?

Auf jeden Fall.
 

In dieser Saison?

Hoffentlich. Endlich. Das wäre sehr schön. Es ist noch eine lange Saison. Wir haben 4 von 26 Spieltagen gespielt, sind Tabellenerster. Der Aufstieg ist das Ziel. Wir sind das dritte Jahr in der zweiten Liga. Wir versuchen, verletzungsfrei zu bleiben und eine gute Saison hinzulegen.
 

In Ihrem Podcast »Mittags bei Henning«, den Sie mit Ihrer ehemaligen Kollegin Josephine Henning machen, plaudern Sie über Dinge des alltäglichen Lebens, die Welt des Fußballs und laden verschiedene Gäste ein. Brauchte die Welt noch einen Sport-Podcast?

(Mittag lacht.) Vor allem brauchte es einen von Frauen gemachten. Deswegen ist der auch entstanden. Im Mai 2020 kam mir die Idee. Ich hatte Zeit und es sind damals viele neue Podcasts entstanden. Ich habe die Sport-Kategorie durchgeguckt und wollte etwas mit Bezug zum Fußball hören. Und es waren Männer, Männer, Männer, Männer und Männer, die alle über Fußball gesprochen haben. Ich dachte mir: Das kann doch nicht sein. Es muss doch auch Frauen geben, die über Fußball sprechen. So ist die Idee entstanden. Heute ist die 49. Folge rausgekommen, in zwei Wochen die 50. Wir sind stolz darauf, wie sich das Ganze entwickelt hat. Wir können vielen, nicht nur Fußballerinnen, eine Plattform geben oder zumindest Gehör.
 

Wenn Sie nicht gerade trainieren, spielen oder podcastinieren: Wo halten Sie sich gerne in Leipzig auf?

Ich habe zwei Jahre in Plagwitz gewohnt, bevor ich dann ins Zentrum gezogen bin. Plagwitz fand ich immer schön. Die Karl-Heine-Straße finde ich super, das war für mich ein Wohlfühl-Ort, da bin ich gerne spazieren gegangen. Zu wissen, dass man abends immer auf ein Getränk rauskann, ist klasse.
 

Leipzig langfristig oder noch mal woanders hin? Zurück nach Chemnitz?

Nee, nee, Chemnitz nicht (lacht). Ich fühle mich sehr wohl in Leipzig. Leipzig ist eine sehr schöne Stadt. Ich mag es, wenn man alles fußläufig oder mit dem Fahrrad erreicht. Es ist toll, dass das Stadion mitten in der Stadt ist und dass man zum Beispiel nicht eine Dreiviertelstunde rausfahren muss mit der Bahn. All so was macht eine Stadt lebenswert. Leipzig ist nicht zu groß, nicht zu klein, es hat eine schöne Größe. Für mich ist das ein absoluter Wohlfühlfaktor und die Stadt ist auch noch nicht so überlaufen von Touristen. Deswegen hat Leipzig eine hohe Lebensqualität.


Titelfoto: Anja Mittag. Copyright: Christiane Gundlach. 


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