»Unser Stadtkern ist Produkt jahrhundertelanger Kulturentwicklung, seine Geschichte ist in den Steinen der Häuser aufgehoben. Er hat sein Gesicht im Laufe der Zeit zwar ständig gewandelt, es aber trotz Kriegszerstörungen und Fehlentscheidungen der letzten 40 Jahre glücklicherweise niemals verloren. Darin liegt unsere Chance.«
– Präambel der Gestaltungssatzung für das Leipziger Stadtzentrum vom 18. Dezember 1991
Bereits in den Morgenstunden finden sich in der Leipziger Innenstadt Studierende, Geschäftsleute und Touristen ein. Auf engstem Raum werden verschiedenste Nutzungsmöglichkeiten – Handel, Gastronomie, Kultur, Arbeit und Wohnen – kombiniert. Doch es kommen Transformationsprozesse auf unsere (Innen-)Städte zu. Denn sie sind durch ihre dichte Bebauung, hohe Ressourcennutzung und Emissionserzeugung sowohl Treiber als auch Hauptbetroffene des Klimawandels. Damit stehen sie vor der großen Herausforderung, klimaneutral und resilient zu werden. Aber wie sieht es mit modernen Gestaltungskonzepten und der bisherigen Aufenthaltsqualität im Leipziger Zentrum überhaupt aus?
Als viertgrößte Stadt und eines der Rüstungszentren Deutschlands erlebte Leipzig im Dezember 1943 eines der schwersten Bombardements durch die britische Royal Air Force.
Bis zum Kriegsende 1945 verloren bei den Luftangriffen in Leipzig über 5.000 Menschen ihr Leben, ganze Wohnblocks und Straßenzüge wurden vernichtet – unter anderem in der Leipziger Innenstadt, die zu rund 60 Prozent zerstört wurde. Im Vergleich zu anderen Großstädten – wie Dresden, Magdeburg, Köln und Hannover – war das Ausmaß der Zerstörung dennoch deutlich geringer.
Ab 1949 wurde versucht, die innerstädtischen Brachflächen und Baulücken in Leipzig zu schließen. »Das Leipziger Zentrum wurde in Teilen zu einem sozialistischen Stadtzentrum umfunktioniert. Dies sieht man heute noch am Augustusplatz (1945–1990: Karl-Marx-Platz): Da die umliegenden Bauten nach der Bombardierung zerstört waren, konnten dort neue Repräsentationsbauten errichtet werden. Die Oper (1960), der Uni-Komplex (1972) und das Gewandhaus (1981) entstanden und prägen noch heute das Bild der Leipziger Innenstadt«, erklärt Dieter Rink, der seit 2004 als Stadtsoziologe am Zentrum für Umweltforschung (UFZ) arbeitet und seit 2013 Professor an der Uni Leipzig ist.
Kritisch sieht der Soziologe, der am UFZ zu nachhaltiger Stadtentwicklung forscht, dass sich die Leipziger Stadtplanung in den sechziger und siebziger Jahren insbesondere an den Architektur-Paradigmen der Moderne und nicht an den historischen Stadtstrukturen orientierte: »Bei Neubauten spielten weder die ehemaligen Grundrisse noch die bisherigen Gebäudehöhen eine Rolle. Dadurch entstanden zum Teil viel höhere Bauwerke, wie zum Beispiel der Uniriese und das Brühlpelzgebäude.«
Neue Gestaltungssatzung nach der Wende
Am 18. Dezember 1991 wurde eine neue Gestaltungssatzung für das Leipziger Stadtzentrum erlassen, die noch gültig ist und im Wesentlichen fordert, das historisch gewachsene Stadtbild und die Stadtgrundrisse zu erhalten. Man verabschiedete sich von der Architektur der DDR, riss ab und baute neu. »Zum einen wollte man keine monofunktionale Innenstadt schaffen, in der nur Handel oder Gastronomie oder Büroräume existieren. Es sollten verschiedene Nutzungsmöglichkeiten angestrebt werden, welche die Innenstadt insgesamt beleben. Dazu gehörte auch, dass die Wohnfunktion in der Innenstadt erhalten blieb. Dafür musste bei der Sanierung und Entstehung von Neubauten immer auch Wohnraum geschaffen werden. Das Zentrum ist nach der Wende stark kommerzialisiert worden«, fasst Rink zusammen.
Basierend auf der neuen Gestaltungssatzung wurden nach der Wende außerdem das Konzept der »autoarmen Innenstadt« und die Leitlinien des Gestaltungskonzeptes von 1997 für den öffentlichen Raum der Leipziger Innenstadt festgelegt. Der Plan einer »autoarmen Innenstadt« ist seit den sechziger Jahren weitestgehend aufgegangen. Zwar gibt es unterirdisch ruhenden Verkehr – am Markt, Burgplatz, Augustusplatz –, aber innerhalb des Zentrums wurde der motorisierte Verkehr durch Fußgängerzonen verdrängt. »Durch die Kompaktheit der Leipziger City ist es leicht möglich, die Hauptlast von motorisiertem Individualverkehr am Ring in Parkgaragen abzufangen und die Innenstadt den Fußgängern zu überlassen. Hier ist Leipzig auf dem richtigen Weg. Ein zunehmendes Problem ist der wachsende Konflikt zwischen Radverkehr und Fußgängern, die verkehrsrechtlich oftmals auf dieselbe Bahn gelenkt werden – auf kombinierten Fuß-Radwegen. Hier gibt es auch für die Leipziger Innenstadt noch Klärungsbedarf.«, sagt Ronald Scherzer-Heidenberger, der an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) Professor für Regionalplanung und Städtebau ist.
Diese Meinung teilt auch Rink vom UFZ: »Die verkehrliche Anbindung und Erreichbarkeit des Zentrums ist durch den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs gestiegen. Es handelt sich um ein verdichtetes, attraktives und stark frequentiertes Stadtzentrum. Man hat aus meiner Sicht in den letzten 30 Jahren vieles richtig gemacht.«
Robin Spanke, der seit 2021 als »Citymanager« bei der Leipziger Tourismus- und Marketing-GmbH die Interessen und Aktivitäten zur Belebung des Leipziger Stadtzentrums koordiniert, ist von der heutigen Funktionsmischung der Innenstadt überzeugt: »Wir haben den klassischen Handel und die Gastronomie in der Innenstadt, aber auch – und das ist, finde ich, sehr wichtig – Kunst und Kultur. Gleichzeitig befindet sich die Leipziger Universität mittendrin und auch Arbeiten und Wohnen finden Platz.« Die Attraktivität der Leipziger Innenstadt belege auch die Studie »Vitale Innenstädte« des Instituts für Handelsforschung Köln vom letzten Jahr: »Dort sind wir mit unserer Innenstadt wieder der Top-Performer in Städten ab 500.000 Einwohnern. Über 95 Prozent der Innenstadtgäste empfehlen die Innenstadt an Freunde oder Bekannte weiter – das ist ein klasse Wert. Gleichzeitig geben 57,8 Prozent an, dass sich die Attraktivität der Leipziger Innenstadt verbessert hat«, resümiert der 31-Jährige.
Mit der Gestaltungssatzung konnten in der Tat Sanierungen durchgeführt und Baulücken geschlossen werden, zum Beispiel die Hainspitze. »Die Aufenthaltsqualität ist auch gestiegen, nicht in allen Bereichen, da es ein historisches Stadtzentrum ist, aber mit Blick auf den Augustusplatz oder die Thomaswiese sind auch kleine Oasen in der Innenstadt entstanden«, sagt Dieter Rink.
Kritik an Gestaltungskonzepten und Transformationsbedarf
Diesem durch und durch positiven Urteil stimmt HTWK-Prof Scherzer-Heidenberger nicht zu: »Leipzig hat eine der ›steinernsten‹ Innenstädte Deutschlands. Außer der kleinen Platzfläche östlich der Thomaskirche gibt es keine grünen Orte, die zum Aufenthalt einladen. Gemildert wird diese Situation ein wenig durch die Kompaktheit der City: Vom Marktplatz aus ist man in fünf bis sieben Gehminuten am inneren Ring, der noch Fragmente der ehemaligen Lenné-Grünanlage zeigt.«
Tatsächlich fehlen in der Innenstadt Spielplätze, Sitzgelegenheiten, Elemente zur Erhöhung der Klimaresilienz wie Fassadenbegrünung und Sonnensegel oder einfache Grünflächen, die zum Verweilen einladen. Moderne Konzepte wie Spalier- und Fassadenbegrünung oder Nebelduschen, wie man sie aus anderen Großstädten wie Freiburg, Wien und Paris kennt, bleiben bislang unberücksichtigt. »In Leipzig ist diese ›grünräumliche Mangelsituation‹ nicht historisch bedingt, sondern hausgemacht. Ich möchte dies an der für mich folgenschwersten Fehlentscheidung der letzten 25 Jahre festmachen: der Bebauung des ehemaligen Sachsenplatzes aus Anlass des Neubaus des Museums der bildenden Künste.«, so Scherzer-Heidenberger. Der Sachsenplatz, der 1969 auf einer Brachfläche zwischen der Reichs- und Katharinenstraße entstand, besaß Springbrunnenanlagen samt Sitzmöglichkeiten und Grün und wurde ab 2000 neu bebaut. »Hier ging es sehr vordergründig um die maximale ›Verwertbarkeit‹ der Grundstücke und nicht um Aufenthaltsqualität. Als Vorwand dienten damals unter anderem Schlagworte aus dem Gestaltungskonzept wie ›den historischen Charakter bewahren‹ – für mich ein argumentativer Taschenspielertrick, um die ökonomischen Interessen zu kaschieren. Denn gerade am ehemaligen Sachsenplatz gab es keine Historie mehr zu bewahren, sondern ein neues Stück Leipzig zu gestalten«, kritisiert Scherzer-Heidenberger, der von 2005 bis 2019 Sachverständiger im Ausschuss für Stadtentwicklung und Bau der Stadt Leipzig war.
Anfang 2023 äußerten auch die Grünen Kritik am Gestaltungskonzept von 1997 und forderten Oberbürgermeister Burkhard Jung dazu auf, dieses neu zu fassen. »Trotz der bemerkenswerten Erfolge in der Sanierung der Innenstadt werden vielfach Defizite wie zu wenig Sitzgelegenheiten, Grün und Wasser festgestellt. Themen der Klimawandelanpassung und Schwammstadt, die relevant für Grünflächen und Regenwassermanagement sind, werden nicht betrachtet. Mit einer grundlegenden Neufassung können die Ziele einer besseren Klimawandelanpassung, einer höheren Aufenthaltsqualität und der Stärkung von Fuß- und Radmobilität in konkrete Gestaltungsgrundsätze für weitere Planungen übersetzt werden«, heißt es in der Begründung des Beschlussvorschlags der Grünen für den Stadtrat.