Nils Schuhmacher beschäftigt sich an der Universität Hamburg in der Kriminologischen Sozialforschung mit der extremen Rechten und mit autonomem und militantem Antifaschismus. Er begleitet das Modellprojekt »Mut – Interventionen. Vielfalt. Lokal. Stärken« der Arbeitsgemeinschaft Jugendfreizeitstätten Sachsen (AGJF). Das sogenannte Antifa-Ost-Verfahren um Lina E. beobachtet er seit Beginn. Im Interview spricht er über Schreckensbilder der RAF, Wahrnehmungsschablonen der Polizei und die bittere Pointe des Prozesses.
Wie haben Sie den Prozess um Lina E. wahrgenommen?
Ich glaube, wenn wir den gesamten Kontext dieses Verfahrens verstehen wollen, dann kommen wir nicht umhin, über die Bedingungen in Connewitz, in Sachsen und die politischen Entwicklungen im Allgemeinen zu sprechen. Von der Bundesanwaltschaft und dem Vorsitzenden Richter hingegen wurde das im Prozess ja eher versucht kleinzuhalten. Da hat man eher die Gewalt fokussiert. Aber die Gewalt, die von den Täterinnen und Tätern ausgeübt wurde, hatte ja nun offenbar einen politischen Kontext.
Wie gestaltet sich dieser politische Kontext in Ihren Augen?
In großen Teilen Sachsens herrscht eine verfestigte Struktur der äußersten Rechten und eine lange Geschichte rechter Gewalt. Es gibt hier relativ klare Kräfteverhältnisse, was das Verhältnis zwischen rechter Mobilisierung und Gegenmobilisierung unterschiedlicher Art angeht. In den gesellschaftlichen Debatten und im politischen Umgang mit dem, was man Rechtsextremismus nennt, ist es fast schon Tradition, immer wieder zu verharmlosen. In den politischen Kontext gehört sicherlich auch der Status, den alternative oder linke Jugendliche und junge Menschen in der Provinz haben. Die haben das Gefühl, sehr marginalisiert zu sein und im Grunde genommen gar keine Unterstützung zu erfahren. Stattdessen erfahren sie eine negative Etikettierung, wenn sie sich in irgendeiner Art und Weise gegen Rassismus und die extreme Rechte engagieren, zum Beispiel, indem sie als linksextrem gelabelt werden.
Behördenkreise sprachen nach der Verhaftung von Lina E. davon, ihre Taten hätten sich »an der Schwelle zum Terrorismus« bewegt. Was für eine Wirkung hat das?
Ich habe den G20-Gipfel in Hamburg sehr genau beobachtet und das Muster beim Tag X ist eigentlich genau dasselbe: Sie haben im Vorfeld eine Gefahreneinschätzung, die keiner nachprüfen kann und die teilweise auf wackligen Füßen steht. Da hat irgendjemand ins Internet geschrieben: »Es wird knallen«, und dann fließt das in die Gefahrenprognosen ein. Dann sagen die Behörden, man rechne mit etwa tausend Gewaltbereiten, die Leipzig in Schutt und Asche legen wollen. Die tatsächliche Situation passte aber gar nicht zu diesen Bildern. Die Zahl der militanten Demonstrantinnen und Demonstranten ist auch viel niedriger. Anschließend wird dann gesagt: Wenn wir nicht so gehandelt hätten, wie wir gehandelt haben, dann wäre das alles passiert. Das entbehrt aber jeder Grundlage. Dass der Innenminister gesagt hat, es hätte eine Scherbendemo gegeben, hätte man die Demo laufen lassen, stammt aus dem Reich der Märchen. Die polizeiliche Stärke hätte das verhindert, auch angesichts der Größe des protestierenden Spektrums dort. Da werden Bilder von Gefährlichkeit produziert, die weit über die Gruppe um Lina E. hinausgehen. Im Grunde hat die Allgemeinverfügung die Zuschreibung von Gefährlichkeit auf größere Kreise von Leuten ausgeweitet, die sich ja aus unterschiedlichen Gründen mit den Angeklagten solidarisieren. Das geht weit über eine Auseinandersetzung mit den Leuten hinaus, die gewalttätig gegen Neonazis geworden sein sollen.
Könnte das Menschen mobilisieren, die sich vorher gar nicht in diesen Kampf involviert sahen?
Es ist fast eine bittere Pointe zum Ende des Prozesses hin, dass die Debatten um Rechtsextremismus in der Öffentlichkeit auch wieder eine neue Aufmerksamkeit erhalten. Auf die rechtsextremen Raumnahmen in Eisenach wurde von zivilgesellschaftlichen Akteuren jahrelang hingewiesen – mit mäßigem Erfolg. Da gleicht es einem Treppenwitz, wenn die Generalbundesanwaltschaft sagt, die Gewaltaktionen rund um Lina E. in Eisenach hätten die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus gestört. Das ist absurd, denn es gab ja diese zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung so gar nicht. Im Zuge der Diskussionen um den Prozess wurde das Versagen der Politik und der Sicherheitsbehörden erneut sichtbar und auch zum Politikum gemacht. Inwieweit das aber längerfristige Folgen hat, lässt sich aktuell gar nicht einschätzen.
Foto: privat.
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