Zwischen einem modernen Parkhaus und schäbigen Hintereingängen an der Westseite des Hauptbahnhofs sitzen Menschen in kleinen Gruppen zusammen oder dösen allein in der Sonne. Einige versuchen in einem Eimer Wäsche zu waschen und hängen diese über einem Baustellenzaun auf. Daneben große, bunte Einkaufstaschen, Einkaufswagen und Schlafsäcke, etwas versteckt auf der rechten Seite ein Schild: weißer Kreis, rotes Kreuz, eine gelbe Linie und rings herum der Schriftzug »Bahnhofsmission«.
Der Eingangsbereich ist eng, besonders wenn sich eine Schlange von Menschen bildet, die auf Kaffee und etwas zu essen warten. Das vorsichtige Vorbeischieben wird zum Balanceakt, immer darauf bedacht, nicht den Anschein zu erwecken, man würde sich vordrängeln. Hinter dem Eingang öffnet sich der Aufenthaltsraum der Ehren- und Hauptamtlichen der Bahnhofsmission. Ein Raum, wie ihn jede:r schon einmal gesehen hat. Pragmatisch eingerichtet, zusammengewürfeltes Geschirr, zwei Kaffeebereiter, die ohne Probleme 30 Liter fassen. Es könnte ebenso gut ein Raum in einem Kirchgemeindehaus oder einer Jugendherberge sein.
»Bitte einen Kaffee komplett!«
Auch gegen 12 Uhr mittags reißt die Schlange an der Kaffeeausgabe nicht ab. Die Bahnhofsmission hat unter der Woche von 9 Uhr bis 18 Uhr geöffnet – viele Gäste warten morgens daher schon sehnsüchtig auf den ersten heißen Kaffee. »Was bekommst du?« – die freundliche Begrüßung erinnert eher an ein hippes Café als an eine Verpflegungsstelle für Wohnungslose. Die meisten Menschen bekommen einen »Kaffee komplett«. »Komplett« bedeutet, mit Kaffeeweißer und Zucker. Viel Zucker. Manche möchten bis zu zwölf Teelöffel. Auf Nachfrage wird klar, warum. Essen ist knapp, Kohlenhydrate sind knapp. Da helfen zwölf Teelöffel Zucker.
Gegen 15 Uhr ist es ruhig in der Bahnhofsmission. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter führen Beratungsgespräche, die Ehrenamtlichen erledigen kleinere Aufgaben. Eine Frau steht in der Tür. Braungebrannt, lila Haare, über 60. Sie nestelt mit Formularen herum, erzählt Geschichten aus ihrem Leben. Wie viel davon stimmt, weiß niemand. Spätestens, als Franz Josef Strauß in der Geschichte auftaucht, wird es abenteuerlich. Jedoch: Alle hören gebannt zu. Zuhören ist wahrscheinlich das Wichtigste in der Bahnhofsmission. Den Gästen ein offenes Ohr zu schenken, ohne zu belehren, zu beraten, zu verurteilen. Einfach da sein und die Gäste sein lassen.
Hilfe brauchen ist nicht Hilfe wollen
Doch dann plötzlich Trubel. Das Sicherheitspersonal der Bahn steht in der Tür. Man habe einen Mann am Bahngleis aufgegriffen, der im Rollstuhl sitzt und es nicht geschafft hat, nach Berlin zu fahren. Jetzt soll er wieder zurück in sein Pflegeheim gebracht werden. Eine kurze Absprache, dann steht fest: Die Bahnhofsmission kümmert sich. Eine solche Aufgabe fällt nicht unbedingt in den Bereich der Einrichtung, aber sie ist heute personell gut aufgestellt. Vor dem Westausgang des Hauptbahnhofs warten fünf weitere Sicherheitsbeamte mit dem Mann. Er wirkt teilnahmslos und müde. Amputierte Beine, Katheter, Rum-Cola, Zigarette in der Hand. Es ist klar, warum der Mann Hilfe braucht. Das Sicherheitspersonal informiert den Ehrenamtlichen Malte darüber, dass der Mann zurück in den Leipziger Westen muss. 30 Minuten Bahnfahrt. Kein Problem.
Die Bahn ist voll, Feierabendverkehr. Menschen drängen sich aneinander. Es ist warm. Mittendrin der Mann im Rollstuhl. Er entschuldigt sich oft – wofür, ist nicht ganz klar. Er beteuert, er kenne jetzt den Weg zum Pflegeheim. Doch den Mann allein zu lassen, kommt nicht in Frage, erklärt Malte. Er ist zu betrunken, der Katheter kaputt. Nach einer halben Stunde ist die Bahn am Rande der Stadt angelangt. Hier ist nicht mehr viel vom Charme der Leipziger Innenstadt übrig. Plattenbauten haben die restaurierten Altbauten abgelöst und Kioske die schicken Cafés. Von der Haltestelle sind es noch etwa sieben Minuten zum Pflegeheim. Malte schiebt den Mann, bis der plötzlich zu verstehen scheint, dass er zurück ins Heim gebracht wird. Abrupt zieht er die Bremse. Er gehe nicht zurück ins Pflegeheim, auf gar keinen Fall. Er schäme sich und dort werde sich ohnehin nicht gut um ihn gekümmert. Wiederholtes Auf-ihn-Einreden bringt nichts. Er will partout nicht. Also muss ein neuer Plan her. Anruf im Pflegeheim. Es klingelt zweimal, dann nimmt jemand ab. Malte erklärt, dass ein Bewohner am Bahnhof aufgegriffen wurde und die Bahnhofsmission die Aufgabe bekommen hat, ihn zurückzubringen. Der Mann weigere sich aber. Was tun? Die Antwort überrascht: »Lassen Sie ihn einfach dort stehen. Wir wissen Bescheid.« Das sei schon öfter vorgekommen. »Wir können niemanden zwingen, bei uns zu bleiben.« Auch auf die Hinweise, dass der Mann alkoholisiert sei und einen kaputten Katheter habe, reagiert der Mann am Telefon gelassen. Ja ja, das wisse man. Eine schwierige Situation für Malte. Er fragt den Mann im Rollstuhl erneut, ob er wirklich nicht zurückwill. »Nein, auf keinen Fall!« Er bettelt förmlich. Somit ist Malte machtlos. Es liegt nicht mehr in seiner Verantwortung, den Mann nach Hause zu bringen. Das Pflegeheim weiß Bescheid, der Auftrag der Bahnhofsmission ist beendet.
An der Haltestelle sprechen wir über die Situation. Die wegen der Telefonnummer geöffnete Website des Pflegeheims ist noch auf dem Handy. Darunter die Bewertungen von Bewohnerinnen und Bewohnern sowie deren Angehörigen. 1,7 von 5 Sternen.
Zurück in der Bahnhofsmission, ist es bereits halb fünf. Einige Gäste sitzen vor der Tür, haben ihren Kaffee in der Hand, lassen sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Drinnen ist die Stimmung ebenso entspannt. Die Wärme erdrückt den Tatendrang der Ehrenamtlichen, die Pause haben, wenn die Gäste nichts brauchen, während die Hauptamtlichen weiterhin gut zu tun haben.
Kurz bevor die feierabendliche Putzrunde beginnt, tritt ein Mann ein und steckt einen Zehn-Euro-Schein in die Spendenbox. Die Ehrenamtlichen kennen ihn und protestieren, aber er besteht darauf, ihnen das Geld zu geben. Nur ein paar Minuten später kommt er wieder und steckt erneut zehn Euro in das Sparschwein. 20 Euro, die ihm wahrscheinlich am Ende des Monats fehlen werden. 20 Euro als Zeichen der Dankbarkeit. 20 Euro als Zeichen des Übermuts.
* Dieser Text entstand im Rahmen eines Journalistik-Seminars zu Reportage und Feature an der Universität Leipzig. Die Namen aller Ehrenamtlichen wurden geändert.
> Ökumenische Bahnhofsmission Leipzig, Willy-Brandt-Platz 2a, 04109 Leipzig, Mo–Fr 9–18 Uhr (jeden letzten Mittwoch im Monat 9–13 Uhr), So 13.30–18 Uhr
Weitere Anlaufstellen für Wohnungs- und Obdachlose:
> Übernachtungshaus für wohnungslose Männer, Rückmarsdorfer Str. 5-7, 04179 Leipzig. Tel. 03 41/1 23 45 04, notunterbringung@leipzig.de, Mo–Fr 16–8 Uhr, Sa/So/feiertags ganztägig geöffnet
> Übernachtungshaus für wohnungslose Frauen, Scharnhorststr. 27, 04275 Leipzig, Tel. 03 41/5 85 24 13, uebernachtungshaus@aww.info, Mo–Fr 16–8 Uhr, Sa/So/feiertags ganztägig geöffnet
> Hilfebus, Tel. 01 52/33 66 10 87, tägl. 18–23 Uhr im Stadtgebiet unterwegs
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