Wippende dunkelbraune Wellen und eine aufwändig gelockte blonde Hochsteckfrisur sind auf ihrem Weg in die Garage Ost. Auf zwei weißen Styropor-Köpfen sitzen zwei Kunsthaar-Perücken. »Teilzeitprinzessin Linette« trägt sie hinauf zum Dachboden der Garage Ost an der Hermann-Liebmann-Straße. Heute, an einem Samstag im Juni, ist dieser mehr als ein Abstellraum – es ist der Backstagebereich für die »D.I.L.F. Mansion – Journey to the Kingdom«, eine Drag- Show.
Gemeinsam mit »Luna Neptune«, einer anderen Drag-Artist, hat Teilzeitprinzessin Linette die Drag-Veranstaltungsreihe Dilf Mansion zum sechsten Mal organisiert. Und das neben ihrem 35-Stunden Job als Verkäuferin im Einzelhandel. Seit Corona ist die Dragszene in Leipzig neu erwacht und viele der Artists, so auch Linette, haben erst in oder nach Corona damit angefangen. Drag ist eine Kunstform, durch die Personen in andere Geschlechter und Rollen schlüpfen. »Ich sehe mich weder als Mann noch als Dragqueen. Ich bin halt Drag-Artist und ja, ich bediene häufig die weibliche Ästhetik, aber ich merke auch gerade, dass ich mich viel zu sehr in diese Box stecke«, sagt Linette. Unter anderem deshalb steht diese Drag-Show unter dem Motto »Journey to the Kingdom«, also Reise zum Königreich. Der Name deutet auf Dragkings hin: Dabei schlüpfen nicht binäre Menschen oder Frauen in die Rolle von Männern und kreieren ihre Kunstperson. Damit wird auch die Dragszene noch vielfältiger, denn häufig sind Drag- Shows dominiert von Dragqueens. In dieser Show sind von sieben Artists insgesamt fünf Dragkings dabei.
Wann genau Drag das erste Mal in der Geschichte auftauchte ist unklar. Einige Theorien sehen den Beginn schon im Theater des antiken Griechenlands, denn dort haben männliche Schauspieler auch weibliche Rollen gespielt. Einige Artists sehen aber auch die Ballroom culture als Ursprung der Drag-Geschichte. Dort treten vor allem lateinamerikanische und schwarze Personen in einem Wettbewerb gegeneinander an.
Heute, in der Garage Ost, machen sich die Artists für die Dilf Mansion über Stunden hinweg aufwendig fertig. Sechs Stunden vor der Show sind neben Teilzeitprinzessin Linette und Luna Neptune auch die anderen Drag-Artists eingetroffen.
Langhaar-Perücken in fast allen Farben und eine einzige Kurzhaarperücke zieren nun den hinteren Teil des Raums. Genau daneben lässt Linette ihren Koffer fallen. Mit einem Quietschen des maximal gespannten Reisverschlusses öffnet Linette den Koffer. Zum Vorschein kommen bunte Plastiktüten, in denen die Bühnenoutfits stecken. Linette zieht eine Tüte mit einem blau-weiß karierten kurzen Kleid hervor, das sie noch am Abend zuvor genäht hat. Es erinnert an das Kleid, das Dorothy aus »Der Zauberer von Oz« trägt. Der Abend ist inspiriert von dem Buch und dem Muscial »Wicked«. »Würde meine Omi noch leben, wäre es ihr neues Lieblingskleid!«, dessen ist sich Linette sicher. Meistens sind ihre Kleidungsstücke selbst gemacht. Wenn nicht, versucht Linette Second Hand zu kaufen oder achtet bei Neuanschaffungen auf die Alltagstauglichkeit. Von den Klamotten und dem Make-Up bis hin zur Choreografie und dem Bühnenbild ist meist alles selbst gestaltet und entworfen.
Mittlerweile stapeln sich Haufen von Kosmetikartikeln auf den Tischen. Vor sieben Stühle stehen sieben Spiegelchen mit LED-Beleuchtungen und erhellen die Gesichter der Artists. Der Spiegel vor Linette steht auf einer Holzkiste, damit sie sich nicht zum Schminken nach unten beugen muss. Um sie herum verteilt liegt ihr gesamtes Make-up. Zahlreiche Lidschattenpaletten, Pinsel, Foundation, Kleber und Wimpern türmen sich vor ihr auf. Als erstes, bevor ein Tropfen Make-up oder Farbe ihr Gesicht berührt, müssen die Augenbrauen abgedeckt werden. Mitten im Schminken wird Linette von einem der Techniker mit einem Anliegen unterbrochen. Denn neben Fragen wie: »Kann man Pailletten steamen?«, gehören an Veranstaltungsabenden Fragen wie: »Haben wir jetzt überall Licht?« für Linette dazu. Heute ist genau letzteres das Problem. Denn ein Kabel fehlt, wodurch nicht alle Scheinwerfer funktionieren.
Passend zur Lichtfrage geht es für alle Artists zum Ort des Problems: auf die Bühne. Es ist Zeit für die Generalprobe des Showfinales.
Vor einer schwarzen Wand, angestrahlt von Scheinwerfern, proben sie das erste Mal die finale Choreografie. Zuvor stand die Gruppe noch nicht gemeinsam auf der Bühne. Die ersten Klänge von »Don’t Stop Me Now« der Band Queen erfüllen die Garage und geben einen Vorgeschmack darauf, wie die Schlussszene aussehen könnte. Tipps für die Choreo kann dabei »Buba« geben, ein Dragking aus Berlin, der extra für die Show nach Leipzig gereist ist. Er ist schon ein alter Hase im Geschäft. Doch selbst wenn Buba als routinierter Profi seine Auftritte bestreitet, davon leben können die wenigsten, auch er nicht. Fast alle Artists veranstalten Drag-Shows neben ihrem eigentlichen Beruf und finanzieren die Veranstaltungen aus eigener Tasche. Die Einnahmen durch die Tickets, wie bei der Dilf Mansion, sorgen dafür, dass die Location und Verpflegung gedeckt sind. Mit Abzug aller Kosten bleibt ein geringer Gewinn. Geld ist aber nicht das Ziel vieler Drag-Artists. Vielmehr geht es darum, der queeren Gemeinschaft Sichtbarkeit zu verschaffen und künstlerisch über queere Themen aufzuklären.
Sechs Artists stehen jetzt in zwei parallelen Linien, ein King thront auf einem Stuhl in der Mitte. Linette ist dabei ganz hinten links. Auch so überragt sie mit ihren High Heels alle. Mit Glatze, ohne sichtbare Augenbrauen und mit schlichten schwarzen Klamotten deutet noch nicht viel auf ihr späteres Aussehen hin. Queen singen motivierende Worte aus den Boxen im Hintergrund. Nun rotiert die Gruppe und nach ein paar Strophen steht auch Linette einmal an der Spitze und singt die Zeilen »Don‘t stop me now«. Die Kür von Drag-Shows ist das Lip-Sync. Dabei bewegen sich die Lippen stumm zum Lied und gleichzeitig wird dazu getanzt. Mit kraftvollen Gesichtsausdrücken, starken Blicken und dem weiten Aufreißen der Lippen erscheint es nahezu so, als würde Linette gerade live mit der Stimme Freddy Mercurys singen.
Auch während der Probe ist das kaputte Licht immer wieder Thema. Linette springt zwischen der Rolle der Künstlerin und der Veranstalterin hin und her. Doch das fehlende Kabel ist nirgends zu finden. Das Problem: Das Licht kann nicht geändert werden, da ohne Kabel nicht alle Scheinwerfer angeschlossen werden können. »Aber irgendein Licht werden wir doch haben?«, fragt Linette schon mit leicht panischem Unterton. Rettung naht, zumindest in violettes Licht kann die Bühne getaucht werden.
Erleichtert widmet sich Linette nach der Probe wieder dem Schminken und verwandelt männliche Gesichtszüge in weibliche. Gekonnt zeichnet sie sich neue Augenbrauen. Mittlerweile sind es noch zwei Stunden, bis die Show offiziell losgeht.
Kurz vor dem Auftritt zieht Teilzeitprinzessin Linette ihren letzten Pinselstrich am Augenmakeup. An einen Comic erinnernde halbe Sterne zieren jetzt ihre Augen. Sie zwängt sich in ihr erstes Outfit, das blau-weiß karierte Kleid, und setzt ihre braune Perücke auf. Jetzt muss alles schnell gehen. Es ist 20:50 Uhr und in zehn Minuten soll, mit einer Stunde Verspätung, die Show losgehen. Zügig steigt Linette in ihre 15 Zentimeter hohen rotglitzernden Pumps und fertig ist der Look. Es geht los.
An der Tür zum Backstage wartet sie auf ihren Einsatz. Nach ein paar Minuten ist es so weit und Linette hüpft ihren Weg nach vorne durchs Publikum, wie Dorothy auf ihrem Weg in die Smaragdstadt. Gemeinsam mit Luna, die auch im Dorothy-Outfit auf der Bühne steht, leitet sie den Abend ein. Den Anfang macht Linette mit ihrer ersten Nummer. Lautes Klatschen und Jubeln erfüllen am Ende ihrer Nummer den Raum. Mit Hilfe von Lady Gaga und dem Lied »Alice« lässt Linette das Publikum an der Geschichte ihres Outings teilhaben. Das kleine Finale der Nummer, eine Regenbogenflagge, die sie sich verdeckt, mit dem Rücken zum Publikum aus ihrem Dekolleté zieht. Raunende »Ohhhs« und »Ahhs« gehen bei dieser kleinen Überraschung durchs Publikum. Umhüllt von einer Regenbogenflagge steht sie am Ende schwer atmend am Rand der Bühne. Ein paar Sekunden blickt sie ins tobende Publikum, bevor sie im Backstage verschwindet. In wenigen Minuten muss sie ihr gesamtes Outfit wechseln. Zwei weitere Hände helfen ihr dabei. Pünktlich ist Linette fertig für den nächsten Auftritt. Nachdem alle Artists gemeinsam auf der Bühne standen, steht das gemeinsame Finale an.
Doch im Gegensatz zur Generalprobe am Vormittag, sehen alle wie verwandelt aus. Über die Begeisterung des Publikums, das am Ende Standing Ovations gibt, ist die Musik kaum noch zu hören. Nachdem die letzten Klänge des Liedes verstummt sind – und irgendwann auch der Applaus – beginnt die Party nach der Show. Weiterhin in ihrer Drag-Rolle feiert Teilzeitprinzessin Linette nun den Tag mit all den Gästen. Doch auch jetzt kann sie den Organisationsstress nur teilweise hinter sich lassen. Nun gilt es, sich mit neuen Artists zu vernetzen, Meinungen einzuholen und mit der oder dem ein oder anderen Ideen für die nächste Show zu sammeln.
> »DILF Mansion Drag Show – Halloween-Edition« 19.10. 19:30–01:30Uhr, Garage Ost, Hermann-Liebmann-Straße 65-67
> Weitere Infos zur Veranstaltung gibt es hier.