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Kultur

»Ein rein weibliches Schutzkonzept«

Im Grassimuseum für Völkerkunde eröffnet eine neue Teilausstellung

  »Ein rein weibliches Schutzkonzept« | Im Grassimuseum für Völkerkunde eröffnet eine neue Teilausstellung  Foto: Christiane Gundlach

Die fünfte Teilausstellung »Schutz« des Zukunftsprogramms »REINVENTING GRASSI.SKD« im Grassi Museum für Völkerkunde gewährt Einblicke in die kulturelle Vielfalt von Schutzkonzepten und die Sammlung der Malerin und Ethnografin Annette Korolnik-Andersch.

Es begann mit einem Kopftuch in einem kleinen Tal im Südosten Marokkos. Eigentlich war Annette Korolnik-Andersch in den frühen 1990er Jahren mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann nur zum Urlaubmachen dort – ein einfacher Aufenthalt mit Zelt, Atlas und dem Plan, nichts zu tun. Als sie eines Abends allein durch das Dorf spazierte, sah sie eine alte Frau, die ein Kopftuch mit Bemalungen trug. Von diesem Kopftuch wurde Korolnik-Andersch »direkt elektrisiert«, erzählt sie und »damit war der Urlaub im Eimer«. Daraufhin forschte sie als Ethnografin mehrere Jahre zu marokkanischen Gemeinschaften, wie den Berbern, sammelte Textilien aus der Region und knüpfte durch ihre vielen Aufenthalte in den Dörfern engen Kontakt und Freundschaften mit den Menschen vor Ort.

Schutzkonzepte der Feija

Im Zentrum der Ausstellung im Grassimuseum stehen Textilien aus der Gemeinschaft der Feija aus dem Südosten Marokkos. Diese Stoffe, die vorrangig von Frauen für Frauen geschaffen werden, tragen kunstvolle Bemalungen, die eine tiefe kulturelle und spirituelle Bedeutung haben. Die Bemalung »ist ein rein weibliches Schutzkonzept«, erzählt Korolnik-Andersch. Die Feija-Frauen verwenden dafür Henna, das als heilig gilt, um Symbole auf die Gewebe zu malen, die vor bösen Geistern schützen und Segenskraft bringen. Die Ausstellung zeigt eine Vielzahl besonderer Stoffe, darunter Wickeltücher (Haik), traditionelle Hochzeitsdecken (Tahdicht) sowie Kopftücher (Adrar), deren Bemalung auf verschiedene regionale Zugehörigkeiten, Rituale und Schutzkonzepte hinweist.

Die Dauerausstellung thematisiert die verschiedenen Bedeutungen von Schutz und zeigt, wie Gemeinschaften aus unterschiedlichen Regionen weltweit diesen für sich definieren. Sie fragt, wer Schutz braucht, wer ihn gewährt und in welchen Formen er existieren kann.
»Wir wollen Denkräume schaffen und Antwortmöglichkeiten auf Probleme anbieten«, erklärt Kevin Breß, einer der Kuratoren. Denn in Zeiten von Kriegen, Klimakatastrophen und Pandemien rückt das Thema Schutz verstärkt in den Fokus internationaler Debatten – jede Gemeinschaft hat Schutzmechanismen für sich etabliert. Unter dem Reinventing-Konzept möchte die Ausstellung im Grassi Museum mit den Objekten und Geschichten der Menschen auch jene erreichen, die »sich bisher in traditionellen Museen nicht wiedergefunden haben«, erzählt er. Sie sollen den Raum bekommen, ihre Geschichte selbst zu erzählen.

Korolnik-Andersch erklärt, dass die Feija drei Schutzformen haben. Die eine Form ist ein Dschinn, also ein Art Geist, der jede Person und jede Familie umgibt. Dieser Dschinn ist per se gut, stellt aber auch Regeln auf, die von den Feija-Frauen an die Kinder weitergegeben werden. Diese Regeln ähneln alltäglichen Gewohnheiten, wie etwa dem Händewaschen vor dem Essen. Der Dschinn hat auf jedem Tuch, das die Frauen tragen, einen eigenen Eingang aufgemalt.

Die zweite Schutzform ist die Henna-Bemalung der Textilien. Jedes Dorf und jede Familie hätten ihre eigenen Symbole, erklärt Korolnik-Andersch. An diesen ist dann unmittelbar erkennbar, woher die Frau kommt.

Die dritte Schutzform wird von einem Heiler oder Sozialarbeiter verkörpert, der eine direkte Verbindung zu Mohammed hat und in jeder Dorfgemeinschaft eine zentrale Rolle spielt. In Zeiten von Krankheit oder Not wenden sich die Menschen an ihn, um Rat und Unterstützung zu erhalten. Gemeinsam mit den Hilfesuchenden setzt er sich auf ein bemaltes Tuch, das mit Symbolen versehen ist, die verschiedene Stadien von Heilung und Hilfe darstellen. Auf Grundlage dieser Zeichen gibt der Heiler gezielte Anweisungen und Handlungsempfehlungen.


Ein globaler Blick auf Schutz

Die Ausstellung wird durch Objekte des Grassi Museums aus verschiedenen Regionen der Welt erweitert und öffnet damit den Blick auf das Konzept des spirituellen Schutzes aus unterschiedlichen kulturellen Perspektiven. So steht eine Skultptur der Kwakwaka’wakw aus Westkanada für die Unterdrückung indigener Rechte durch den »Indian Act«. Dieser sollte die Menschen schützen, diskriminierte die indigene Bevölkerung aber in Wirklichkeit stark. Eine bestickte ukrainische Bluse mit Aprikosenmotiven thematisiert die Annexion ukrainischer Regionen durch Russland. Auch das Young Museum, ein Kuratorium Leipziger BIPoC-Jugendlicher, thematisiert mit einer Schutzhaube für Afrohaar (Bonnet) symbolisch und praktisch die Bedeutung von Schutz und Identität Schwarzer, ostdeutscher Jugendlicher.  


Schenkung gegen den Rechtsruck

Für Annette Korolnik-Andersch ist diese Ausstellung auch ein politisches Statement. Sie schenkte die Textilien der Staatlichen Kunstsammlung in Dresden, zu der auch das Grassi Museum für Völkerkunde gehört. »Um dem Rechtsruck etwas entgegen zu setzen«, wie sie sagt. Denn die Textilien des Feija-Tals stehen für die Toleranz und Vielfalt der Region. »Das Christliche, Muslimische, Animistische und Jüdische – alles steckt in diesen Textilien«, sagt sie. Über die Jahrhunderte führten Karawanenwege Menschen und Kulturen im Feija-Tal zusammen. Und so kommt es, dass die Menschen dort »unendlich tolerant sind«.

Die Ausstellung soll verdeutlichen, wie eng Schutz mit Identität, Kultur und gesellschaftlicher Zugehörigkeit verwoben ist. Unterschiedliche Schutzkonzepte – von individuellen über regionale und globale bis hin zu materiellen und traditionellen – regen dazu an, über diese universelle menschliche Erfahrung nachzudenken.

 

> Die Ausstellung ist bis zum 31. Dezember 2026 im Grassi Museum für Völkerkunde zu sehen. Der Eintritt ist frei.

 


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