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Im Leipziger Süden

Die Direktkandidierenden Sören Pellmann, Dietmar Link, Paula Piechotta und Nadja Sthamer im Porträt

  Im Leipziger Süden | Die Direktkandidierenden Sören Pellmann, Dietmar Link, Paula Piechotta und Nadja Sthamer im Porträt  Foto: Christiane Gundlach

Warum seine Partei so schlecht dasteht, begreift Sören Pellmann nicht ganz. »Aber es tut weh.« Der Linken-Politiker sitzt an diesem Mittwochmittag auf dem roten Sofa seines Wahlkreisbüros in Grünau, tief in die Polster gesunken, das linke über das rechte Bein geschlagen. Die Linke sei für ihn mehr Familie als Partei. Nach der Abspaltung Sahra Wagenknechts sei der ständige, persönliche Streit eigentlich vorbei. Doch der Stimmenzuwachs bleibt aus – auch wenn die Mitgliederzahl bundesweit steigt.

Im Büro stapeln sich Kartons, auf den Tischen liegen Sticker und Flyer mit Pellmanns Namen und Porträt. In Berlin galt er bis zur Bundestagswahl 2021 als Hinterbänkler, eher unauffällig, oft in seinem Wahlkreis statt im Parlament. Doch nachdem sein Direktmandat die Linke mit im Bundestag hielt, strebte er den Fraktionsvorsitz an und bewarb sich als Bundesvorsitzender. Beides klappte nicht. Er bekam erst 2024 den Co-Vorsitz, nachdem sich das BSW gegründet hatte und die Linksfraktion zur Gruppe wurde.

Dass er selbst nicht zum BSW wechselte, überraschte einige Beobachterinnen und Beobachter: Am 27. Februar 2022, drei Tage nach der großen Invasion Putins in die Ukraine, veröffentlichte Pellmann gemeinsam mit Wagenknecht und fünf Mitgliedern der damaligen Linksfraktion eine Erklärung, in der sie den Großangriff verurteilten, einen Waffenstillstand und den Rückzug russischer Truppen forderten. Außerdem warnten sie vor einer Aufrüstung und gaben den USA eine Mitverantwortung für die Situation. Pellmann ist der einzige Unterzeichner, der nicht zum BSW gegangen ist.

Fast drei Jahre später in Grünau räumt er mit ruhiger Stimme ein: »Ich habe die Erklärung damals nicht im Detail gelesen. Ich würde sie heute so nicht wieder unterschreiben.« Ein Übertritt zum BSW habe für ihn nie zur Debatte gestanden, denn: »Eine andere Partei als die Linke kann ich mir nicht vorstellen.«

Das BSW könnte nun für ihn – und damit ebenso für die Linke – bedrohlich werden. Noch bevor die Direktkandidierenden gewählt sind, bestätigt Sachsens BSW-Vorsitzende Sabine Zimmermann, dass Eric Recke – der vor seiner offiziellen Wahl aber noch nicht mit den Medien sprechen wollte – im Wahlkreis Leipzig-Süd antreten werde. »Ich empfinde die Kandidatur als Provokation«, kommentiert Pellmann mit zusammengebissenen Zähnen. Das BSW habe keine Chance, das Direktmandat zu gewinnen, glaubt er. Reckes Kandidatur »könnte eher dazu führen, dass die AfD auch den 16. Wahlkreis in Sachsen gewinnt«. Auf die Programmatik des BSW wolle der Linke nicht eingehen, »dafür sind sie zu unbedeutend in Leipzig«. Tatsächlich holte das BSW im Leipziger Süden bei der Landtagswahl zwar aus dem Stand 10,6 Prozent der Zweitstimmen, lag damit aber deutlich hinter CDU, AfD, Linken, Grünen und SPD. Pellmann und Recke kennen sich aus dem Leipziger Stadtrat. Recke ist dort Vorsitzender seiner Fraktion, spickt seine Reden gern mit Einschätzungen zur Bundespolitik und liegt damit voll auf Wagenknecht-Linie.

Für den Wahlkampf in Leipzig plant Pellmann mit 15.000 Plakaten – viel hilft viel. Hinzu kommen 50 Großflächenplakate und 50 Litfaßsäulen. »Die doppelte Anzahl zu 2021«, sagt er, es klingt ein bisschen stolz. Wie Pellmann das finanziert? Sein Budget von rund 100.000 Euro habe beim letzten Wahlkampf wie heute zu etwa 50 Prozent die Partei bezahlt. Die andere Hälfte stamme privat von Unterstützerinnen und Unterstützern sowie ihm selbst. »2021 waren es 195 Spenderinnen und Spender, die zwischen 5 Euro und 1.000 Euro gegeben haben, alle mit Wohnsitz in Deutschland«, versichert Pellmann. Aus dem Jahresabschluss des Linken-Stadtverbands in Leipzig geht hervor, dass ausschließlich für den Wahlkampf von Pellmann mehr als 86.000 Euro vorgesehen waren, während der Wahlkreis von Nina Treu im Norden 10.000 Euro bekam. Zusätzlich hat der Stadtverband 44.000 Euro für den allgemeinen Wahlkampf eingesetzt.

Kurz danach bricht Pellmann auf. Um 14 Uhr ist etwa 500 Meter vom Büro entfernt ein Info-Stand nördlich des Allee-Centers geplant und er will pünktlich da sein. Pellmann ist in Grünau aufgewachsen und zur Schule gegangen. Mit Infoständen ist er regelmäßig auf der Straße, selbst wenn gerade keine Wahl ansteht. Er muss hier präsent sein. Nicht nur nimmt ihm das BSW in den Großwohnsiedlungen Stimmen ab, vor allem die AfD hat diese erobert, holte hier bei der Landtagswahl ähnlich wie die CDU um die 30 Prozent.

Dass Pellmann mobilisieren kann, hat er bei der letzten Bundestagswahl bewiesen. Mit 22,8 Prozent der Erststimmen trotzte er dem schlechten Linken-Zweitstimmenergebnis von 14,7 Prozent und rettete die Linke schon damals in den Bundestag. Und auch die Kommunalwahl im letzten Juni zeigte: Die Marke Pellmann zieht. Von allen Kandidierenden holte er die fünftmeisten Stimmen, im Leipziger Westen mit 8.700 so viele wie kein anderer. Und trotzdem: In Pellmanns Wahlkreis holte die AfD zehn Prozent mehr bei den Gesamtstimmen.

Christoph Neumann tritt für die Rechtsextremen im Leipziger Süden an. Er ist Stadtrat, saß bereits von 2017 bis 2021 im Bundestag. Bei den letzten beiden Wahlen trat Neumann, der im Stadtrat nur selten das Wort ergreift, noch im Leipziger Norden an. Bei der Landtagswahl holte die AfD in den Ortsteilen des Bundestagswahlkreises Leipzig-Süd mit 15,9 Prozent die zweitmeisten Stimmen hinter der CDU mit 25,5 Prozent. Es folgten Linke (14,4), Grüne (14,3) und SPD (12,7). Doch auch hier war es die Zuspitzung eines Wahlkampfes als Duell zwischen CDU und AfD, die viele Wählerinnen und Wähler der Parteien links der Mitte dazu bewog, die Konservativen zu wählen. Mut könnten Pellmann die Erststimmenkampagnen der Linken Nam Duy Nguyen und Juliane Nagel machen. Beide holten ein Direktmandat in Leipzig und die Linke (24,6 Prozent) im Leipziger Süden fast so viele Erststimmen wie die CDU (25,5).

Vor einem Lastenrad verteilt Pellmann rote Papiertütchen gefüllt mit Stickern und Flyern für einen Mietendeckel. Die gehen gut weg. Er setze sich für Rentengerechtigkeit im Osten ein und wolle Krankenversorgung für alle sichern, erklärt Pellmann. Was die Wählerinnen und Wähler interessiert, hänge teilweise vom Stadtteil ab. In der Südvorstadt sei es eher Bildung, in Grünau eher die Bezahlbarkeit von Alltäglichem. Das wichtigste Thema für Pellmann selbst sei: Kinderarmut zu bekämpfen. Im kalten Wind vor dem Allee-Center hängt der rote Sonnenschirm über Pellmanns Lastenrad bedenklich schief.

Link statt Links

Dietmar Link wartet im CDU-Kreistagsbüro in der Mädlerpassage. Über Silvester hat er sich noch mal ein paar Tage Ruhe gegönnt, bevor es in die heiße Wahlkampfphase geht. Und in der hat der gebürtige Kölner viel zu tun. Als »der Unbekannte« muss er sich gegenüber Pellmann erst mal behaupten. Bisher habe er vor allem im Hintergrund agiert, sagt Link über sich. Seit 2004 in der CDU, war er im Stadtbezirksbeirat Südwest und ist nun Schatzmeister der Partei in Leipzig. Außerdem ist er stellvertretender Landesvorsitzender des sächsischen Arbeitnehmerflügels (CDA) der CDU, der sich für Sozial- und Gesellschaftspolitik engagiert.

Hier setzt auch Link seine inhaltlichen Schwerpunkte: »Ich stehe dafür, dass Menschen, die arbeiten gehen, auch so viel Geld bekommen, dass sie davon leben können. Auch deutlich mehr als Leute, die nicht arbeiten.« Menschen, die Bürgergeld bekommen, sollen gut ausgestattet sein. »Es gibt ja immer Beispiele dafür, dass jemand nicht arbeiten kann, wenn er etwa sein behindertes Kind pflegt«, sagt Link und schiebt hinterher: »Aber wer kann, muss auch arbeiten.«

Link tritt im Leipziger Süden nicht als konservativer Hardliner auf, das sieht man an den Themen, die er setzt. Doch ist in seinen Antworten dann doch eine klare CDU-Linie erkennbar. Bezahlbarer Wohnraum? Klar, aber nicht so, wie sich das etwa Sören Pellmann vorstelle: »Wenn man linke Ansätze nimmt, die Eigentümer enteignen oder Mieten komplett deckeln wollen, dann sehe ich, dass niemand mehr investiert.« Was das für den Zustand von Wohnungen bedeutet, habe man in der DDR gesehen.

Recht? Mitte? Link, Dietmar (CDU)
Rechts? Mitte? Link, Dietmar (CDU)

Mittel für Investitionen sollen vielmehr durch eine starke Wirtschaft und daraus resultierende höhere Steuereinnahmen kommen. Bürokratieabbau könne die Wirtschaft stärken, da sehe er auch in Leipzig Nachbesserungsbedarf: »Wie lange der Stadtrat beziehungsweise die Verwaltung teilweise brauchen, um Bebauungspläne zu beschließen – da werden Bauherren drangsaliert und es ist keine Überraschung, dass viele Bauprojekte nicht stattfinden, weil mittlerweile die Firma pleitegegangen ist.«

Warum er sich das überhaupt antue, so einen Wahlkampf und die Politik, sei er gefragt worden. »Die Themen in der Gesellschaft müssen bearbeitet werden und ich würde mir wünschen, sie würden etwas ideologiefreier bearbeitet.« Etwa das Cannabis-Gesetz: Die Entkriminalisierung von Kleinmengen sei gut, aber die Umsetzung schlecht. Gleiches gelte für das Selbstbestimmungsgesetz: »Ich bin überzeugt davon, dass es Menschen gibt, für die das eine ganz wesentliche Lebensverbesserung bedeutet, wenn sie ihr Geschlecht verändern dürfen, aber es ist für mich nicht erklärbar, warum ich jedes Jahr mein Geschlecht wechseln darf«, sagt Link. Er wünsche sich, dass mehr politische Entscheidungen mit »gesundem Menschenverstand« entschieden werden. Da sieht der 59-Jährige seinen Vorteil: Er sei weder Berufspolitiker noch direkt von der Uni, hat als Geschäftsführer der Johanniter in den letzten Jahren viel Erfahrung im sozialen und im Gesundheitsbereich gesammelt.

Link bezeichnet sich als Mann der Mitte. Die AfD hält er für gefährlich, eine Zusammenarbeit ist für Link ausgeschlossen, da die Partei nicht bereit sei, demokratische Regeln anzuerkennen. Aber auch von den Linken sei er kein Freund, versichert er im nächsten Satz. Sozialismus, Kommunismus, das habe schon einmal nicht funktioniert.

Er habe durchaus Verständnis für die Menschen in Connewitz, die ihr Viertel bewahren wollen. Kein Verständnis habe er aber, wenn das in Gewalt ausarte, Beamte im dortigen Präsidium in Angst leben müssten und junge Leute angegriffen würden, die für ihn Plakate aufhängen. Für Link wird es darum gehen, das starke Landtagswahlergebnis der CDU im Leipziger Süden zu bestätigen, denn bei der letzten Bundestagswahl landete die CDU hier mit 13,1 Prozent gerade mal auf Platz vier hinter Grünen (21,3), SPD (20,9) und Linken (14,7). Seine Wählerinnen und Wähler will er in den kommenden Wochen durch persönliche Gespräche von sich überzeugen: »Ich bin christlich geprägt, aber nicht erzkonservativ. Mir ist klar, dass eine Stadt wie Leipzig einen Wandel und eine gewisse Modernität braucht.« Rente, faire Löhne, Sprachförderung im Kindergarten, Klimaschutz, Digitalisierung, all das will er mit »Maß und Mitte« erreichen. Das von Link ausgegebene Ziel: Sören Pellmann in den Vorruhestand schicken.

So oder so drin

»Wenn ich ein Mann wäre, würde ich sagen: ›Ich hole den Wahlkreis direkt.‹« – Da Paula Piechotta aber kein Mann ist, äußert sie sich vorsichtiger. Die Direktkandidatin für Bündnis 90/Die Grünen sagt, sie sehe gute Chancen, den Wahlkreis Leipzig-Süd für sich zu entscheiden. Darauf angewiesen ist die 38-jährige Fachärztin für Radiologie nicht. Sie führt die Landesliste der sächsischen Grünen für die Bundestagswahl auf Platz eins an. Dass sie über die Zweitstimme in den Bundestag einzieht, ist somit ziemlich sicher.

Piechotta empfängt in ihrem Bürgerbüro Südgrün, gelegen an der Karl-Liebknecht-Straße zwischen Südplatz und Kreuzung Kurt-Eisner-Straße. In einer Ecke stapeln sich frisch eingetroffene Wahlplakate, die noch an diesem Wochenende ihren Platz in der Stadt finden werden. Man kann die Ortswahl auch als Piechottas politische Mitte, oder besser: als deren Herzstück verstehen. In der Südvorstadt holte sie bei der letzten Bundestagswahl, bei der sie erstmals antrat, direkt 26,6 Prozent und bei den Zweitstimmen 33,6 Prozent. Nur in Schleußig war sie noch etwas erfolgreicher. Das Direktmandat von Sören Pellmann verpasste sie damals um 4,4 Prozent. Schleußig, Plagwitz oder Südvorstadt waren auch bei der Landtagswahl noch grüne Hochburgen – gleichzeitig aber auch die Ortsteile, in denen die Partei im Vergleich zu 2021 am meisten Stimmen verlor. Neben den Zuwächsen bei der CDU konnten die Grünen auch der Erststimmenkampagne von Juliane Nagel wenig entgegensetzen. Gelingt es Piechotta nicht, hier ihr Stimmenpotenzial zu mobilisieren, könnte es schwer für sie werden. Denn in den Außenbezirken sind die Grünen notorisch schwach.

Dass sie sich noch einmal aufstellen wird, war für Piechotta keine Frage. Das wurde ja nicht spontan nach dem vorzeitigen Ende der Ampel-Regierung beschlossen, sondern schon im Laufe des Jahres 2024. Ihr erstes Jahr im Bundestag sei hart gewesen: »Corona, Doppelhaushalt, Ukraine – wenn das so weitergeht, überlebe ich das nicht, dachte ich.« Es wurde besser, taktete sich ein und sie lernte Menschen und Prozesse besser kennen.

Piechotta mag kein männlich-übersteigertes Selbstbewusstsein vor sich her tragen, aber sie ist bestimmt und klar in Aussagen und Haltung. Sie war an den Koalitionsverhandlungen der Landesregierung in Thüringen 2014 und Sachsen 2019 beteiligt. In Gera geboren, studierte sie in Jena, arbeitete in Heidelberg und Leipzig, um dann an Elster und Pleiße hängenzubleiben, »weil es mir hier gefällt«. Den Weg in die Politik hat die Medizinerin vor allem aus Sorge um das Gesundheitssystem gesucht. So sei sie schon familiär mit dem Thema Pflege in Kontakt. Da wundert es kurz, dass Piechotta nur stellvertretendes Mitglied im Gesundheitsausschuss ist, dafür im Haushaltsausschuss sitzt. »Der ist der mächtigste Ausschuss«, erklärt sie dazu. »Wir verwalten das Geld des Bundeshaushalts; dort bin ich für Gesundheit und Verkehr zuständig.«

Paula Piechotta
Hat auf Platz eins der Grünen-Landesliste gut lachen: Paula Piechotta

Wichtig ist Piechotta die Aufarbeitung des Maskendeals unterm damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). »Die nächste Krise kommt bestimmt. Es wäre, hypothetisch gesprochen, das falsche Signal, dass man in solchen Situationen seinen Buddys einfach mal Geld zuschachern kann.« Auch in Krisenzeiten müssen Kontrollmechanismen greifen. Im Verkehrsausschuss habe sie mit erreicht, doppelt so viele Investitionen für die Schiene wie für die Straße aufzubringen. Fördergelder hätten die Grünen fürs Fahrradparkhaus und den Leipziger Auwald besorgt. Dann lag ihr Augenmerk darauf, dass bei allen Geldflüssen der Osten angemessen repräsentiert wird.

Politik machen bedeute, Konflikte auszuhalten und Kompromisse zu suchen. Kompromissfähigkeit habe gerade ihre Partei in der Regierung gezeigt, so Piechotta, und sich aus den gröbsten Streitigkeiten herausgehalten. Daher seien die aktuellen Umfragen für die Grünen näher an ihrem Wahlergebnis 2021 als jene der SPD und FDP.

Piechotta sieht keinen Grundsatzkonflikt zwischen linken und grünen Wählerinnen und Wählern. Insgesamt, so sagt sie über die Klimabewegung, habe diese lernen müssen, strategischer zu sein und Teilerfolge und Kurswechsel als solche zu erkennen. Doch Piechotta bietet Angriffsfläche im Leipziger Süden: Im Landtagswahlkampf, in dem sie nicht mal selbst antrat, schoss sie gegen Nam Duy Nguyen und dessen Kampagne der Linken – was ihr in den sozialen Medien ordentlich Gegenwind einbrachte. Gut möglich, dass ihr einige potenzielle Wählerinnen und Wähler das noch übelnehmen.

Sie hält die Sicherheit der Ukraine für einen sehr wichtigen Punkt und sieht die Mehrheit der Grünen hinter sich: »Wir haben zur Landtagswahl gesehen, dass 80 Prozent der Grünen-Wählerinnen am Herzen liegt, was wir bezüglich der Ukraine unternehmen. Aber das war zur Landtagswahl nicht wahlentscheidend, weil das nicht in Dresden entschieden wird.«

Bei der Bundestagswahl gehe es aber genau darum. Dafür stünden andere Parteien gar nicht oder seien wie SPD und CDU »Ukraine-ambivalent«. Sie habe schon FDPler getroffen, die meinten, sie würden ihr im Zweifelsfall die Stimme geben, ehe das Direktmandat an Sören Pellmann geht.

In der Lautstärke durchdringen

Nadja Sthamer reibt sich mit dem Daumen über einen kleinen Schnitt am Zeigefinger: »Ich blute schon, bevor ich richtig anfangen konnte.« Rund um den Ostplatz ist kaum noch ein Laternenmast plakatfrei. Vor wenigen Minuten kamen schon zwei Grüne mit einem Bollerwagen vorbei. Die Linke hat schon die ganze Nacht durchplakatiert: Pellmann lächelnd von der Straßenlaterne, Pellmann für »Deine« Miete kämpfend, manchmal auch nur Pellmanns Schuhe. Mit dessen Wahlkampfausgaben könne sie nicht mithalten, sagt Sthamer und läuft Richtung Friedenspark.

Als sie einige Tage zuvor in ihrem Wahlkampfbüro nahe dem Listplatz sitzt, kommen gerade die letzten Plakate an. Sthamer hält eins hoch: »Hier ist mehr Wirtschaftswachstum drin«, steht darauf, darunter ein QR-Code, der zum SPD-Wahlprogramm führt. Sthamer zuckt mit den Schultern und legt das Plakat wieder auf den Haufen zu den anderen. Durch das SPD-Hoch bei der letzten Bundestagswahl schaffte sie 2021 den Einzug in den Bundestag, von Platz sechs der Landesliste. Diesmal steht sie auf Platz fünf und hofft, bei einem Wahlergebnis um die 16 Prozent für ihre Partei, erneut ins Parlament zu kommen.

Nach der letzten Wahl gehörte Sthamer zu den vielen neuen Gesichtern in der SPD-Fraktion, darunter ein Viertel Jusos. »Wir waren viele, die anders kommunizieren und auch mal kritischere Worte finden«, sagt Sthamer. Mehrfach stimmte sie abweichend zur Fraktion: gegen Militäreinsätze in Irak und Mali, gegen das Sicherheitspaket und auch gegen das Sondervermögen für die Bundeswehr. Dabei habe sie die Zeitenwende – die ohnehin mehr als nur das Sondervermögen einschließen würde – nie für die falsche Entscheidung gehalten. Nur seien vor dem Beschluss über die 200 Milliarden noch Fragen offen gewesen: »Was für eine Armee wollen wir eigentlich in der Zukunft? Wie sehen die Militäreinsätze der Zukunft aus? Und wie ist eigentlich das Beschaffungswesen organisiert? Eine kritische Überprüfung hätte ich gern zuerst gesehen, bevor ich da so viel Geld bereitstelle.«

Nadja Sthamer
Cooler als Schröder: Nadja Sthamer (SPD)

Sthamer begründet ihre Haltung weniger mit ihrer Ostsozialisation als mit ihrer Rolle als Entwicklungspolitikerin. Sie sitzt im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe sowie in dem für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. »Die Investitionen ins Militär müssen eins zu eins auch im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe getätigt werden – und das passiert nicht.«

Der Ampel würde Sthamer für ihre Leistung die Note zwei geben. »Die SPD-Handschrift war klar erkennbar: bei der Rentenangleichung zwischen West und Ost oder bei der Erhöhung des Mindestlohns, bei den unbürokratischeren Regeln der Fachkräfteeinwanderung«. Dass viele progressive Menschen trotzdem größere Hoffnungen in die selbsternannte Fortschrittskoalition hatten, ist Sthamer bewusst: »Klar, aus einer Sozen-Sicht würde ich mir immer mehr wünschen.« Ganz konkret bedeutet das für sie: endlich eine Kindergrundsicherung verabschieden, beim Wohnen über die erreichten beschleunigten Genehmigungsverfahren beim Bauen hinaus die Rechte von Mieterinnen und Mietern stärken, sich für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzen. »Natürlich liegen mir da Stadtteile näher, wo es besonders brenzlig ist«, sagt Sthamer. »Ob ich da bei den Rentnerinnen in Lößnig bin oder den Menschen in Grünau, bei geflüchteten oder migrantischen Personen.« Die Stärke der SPD 2021 war es, genau in diesen Ortsteilen zu punkten. Sthamer wird versuchen müssen, dieses Potenzial erneut zu mobilisieren – bei der Landtagswahl gelang es der SPD nicht.

Und mit Pellmann und Piechotta muss Sthamer sich gegen zwei Kandidierende behaupten, die das Rampenlicht deutlich mehr suchen als sie selbst. Auch wenn sie das als Stärke sieht, weil Menschen es honorieren würden, wenn man »Freundlichkeit und Fairness nach vorne stellt und nicht jede Form von Aufmerksamkeit«, gegen Pellmanns Kampagne wird es ohne einen bundesweiten Aufschwung bei der SPD schwierig. Einfach so will sie den Wahlkreis aber nicht hergeben. »Natürlich sind mir linke Positionen im Bundestag wichtig, aber es ist nicht meine Aufgabe als SPD-Politikerin, der Linken Stimmen zu besorgen.«

LEON HEYDE, FREDERIK MALLON, DAVID MUSCHENICH, TOBIAS PRÜWER, MAIKA SCHMITT

 


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