Wenn gemäht wird, sind die Gänseblümchen als Erstes wieder da«, sagt Susanne Hampe. Von dieser widerstandsfähigen Heilpflanze – lat. Bellis perennis – kommt der Name des Vereins, dessen Vorsitzende Hampe ist und der sich um Opfer von sexualisierter Gewalt kümmert: Bellis wurde 2019 gegründet, damals als Pilotprojekt für die medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung und häuslicher Gewalt. Die Rechtsmedizinerin Ulrike Böhm – die im letzten Jahr für die Grünen bei der Leipziger Stadtratswahl kandidierte – war an der Gründung beteiligt: »Ich habe die Verletzungen dokumentiert und die Frauen an Beratungsstellen weiterverwiesen. Auch an Frau Hampe, daher kennen wir uns. Irgendwann haben wir uns gedacht, dass wir das institutionalisieren müssten.«
Für Medizinerinnen und Mediziner sei es nicht schwer, Verletzungen zu behandeln oder Spuren zu sichern, viel schwerer falle vielen die richtige Ansprache der Betroffenen. Viele Ärztinnen und Ärzte seien unsicher. Sie möchte Böhm bestärken: »Es gibt sehr gute Untersuchungen, die zeigen, dass die direkte Ansprache immer noch das Beste ist. Die Betroffene kann dann immer noch sagen, dass die Verletzungen von etwas anderem kommen.« Das Schlimmste, was passieren könne, sei, dass die Patientin empört den Raum verlässt. »Aber zu fragen ist immer wichtig – genauso wie, die Frage auch als meine Fachlichkeit zu begreifen.« Dieses Vorgehen zu vermitteln, ist ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit von Bellis. Regelmäßig bietet der Verein Schulungen für medizinisches Fachpersonal an, in Präsenz und online. »Gerade jüngere Medizinerinnen und Mediziner sind sehr sensibel und lechzen nach Hilfe, wie sie gut mit Betroffenen umgehen können«, berichtet Hampe aus diesen Schulungen, die in den letzten fünf Jahren 300–400 Personen gemacht haben.
Die Teilnehmenden lernen auch, eine vertrauliche Spurensicherung durchzuführen. Das bedeutet, dass nicht unmittelbar die Polizei eingeschaltet wird, wenn Betroffene medizinische Hilfe suchen, aber dass Spuren für eine mögliche spätere Anzeige gesichert werden. »Es geht nur darum, zu dokumentieren: Was berichtet die Patientin? Und Abstriche bei sichtbaren Verletzungen. Medizinerinnen und Mediziner kennen sich damit aus«, sagt Hampe. Der Verein stellt Kliniken und Praxen deshalb auch Spurensicherungskits bereit, damit Beweise später vor Gericht noch Bestand haben. Das Modellprojekt ist über die Richtlinie für Chancengleichheit des Justizministeriums gefördert und wurde in den letzten Jahren immer wieder verlängert – weil eine langfristige Finanzierung bisher nicht verhandelt werden konnte.
Nach wie vor holen sich Betroffene jedoch selten Hilfe. Neben Angst und Scham hindere sie oft die Unsicherheit, ob Ärztinnen und Ärzte einen Vorfall direkt an die Polizei melden müssen. Dem ist nicht so. An erster Stelle stünden immer die Bedürfnisse und Wünsche der betroffenen Person, verdeutlicht Hampe: »Wir wollen die Probleme von zwei Seiten angehen. Einerseits wollen wir, dass die Betroffenen sich Hilfe holen, weil sie ein Recht auf Hilfe haben. Andererseits wollen wir, dass sie auf ein Hilfesystem treffen, wo sie auch Unterstützung bekommen.«
Doch die Zeit der medizinischen Behandlung bei Kassenpatientinnen für Routineuntersuchungen ist begrenzt, Ärztinnen und Ärzte können die Erstversorgung garantieren, danach muss es für die Betroffenen weitergehen. Auch hier hilft der Verein weiter: In Leipzig betreibt er eine Beratungsstelle, auch für Angehörige. Zudem gibt es eine Beratung, die sich explizit an queere Betroffene richtet. Anders sah es lange im Rest von Sachsen aus. Deshalb entwickelte der Verein 2021 ein zweites Modellprojekt: Ein sachsenweites Unterstützungsnetzwerk sollte entstehen. »Da kam uns die Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen, Anm. d. Red.) zugute, ebenso, dass wir eine Landesregierung mit grüner Beteiligung hatten. Das hat zu einer unglaublich konstruktiven Zusammenarbeit geführt«, schwärmt Hampe von dem »geilen Projekt«, wie sie es nennt. Nach nur drei Jahren sind überall in Sachsen Fachberatungsstellen entstanden oder zumindest Vereine, die in den Startlöchern stehen, um entsprechende Angebote zu schaffen. Den Erfolg des Projekts schreibt Hampe auch einem planvollen Vorgehen zu: »Wir haben vor Ort Referentinnen gesucht, die die Landkreise kennen und die Verantwortlichen dort besser ansprechen können. Das war viel authentischer, als wenn wir aus Leipzig erklären, wie man das macht.«
Dieses Modellprojekt ist Ende 2024 ausgelaufen, das Netzwerk steht und die Beratungsstellen in den Landkreisen werden über das Land Sachsen finanziert. Das schafft Kapazitäten für neue Projekte bei Bellis. Ideen gibt es genug. Die Prävention von sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz ist so ein Herzensthema. »Damit könnten wir noch viel mehr in die Gesellschaft hineinwirken«, sagt Hampe. »Selbst, wenn wir eine Million Frauenhäuser bauen könnten: Da wollen wir ja nicht hin. Es geht darum, wie wir dahin kommen, dass niemand belästigt oder geschlagen wird«, sagt Medizinerin Böhm.
Der angespannte Haushalt und die steigenden Kosten auf allen Ebenen machen sich auch beim Verein bemerkbar, bei der Beratungsstelle konnten keine langfristigen Verträge mit Mitarbeiterinnen geschlossen werden. Wann das neue Projekt zur sexualisierten Gewalt am Arbeitsplatz ins Rollen kommt, ist unsicher. Trotzdem sind Böhm und Hampe optimistisch, in den letzten Jahren habe sich gesellschaftlich und politisch viel getan: »Ich werde nicht mehr als Bittstellerin behandelt. In gemeinsamen Gesprächen mit Ministerien und der Stadt ist klar, dass wir uns auf partnerschaftlicher Ebene begegnen. Das ist unglaublich kräftigend.«
> Beratungsstelle: Weißenfelser Str. 48a, 04229 [Plagwitz], Tel. 03 41/39 28 55 65, www.bellis-leipzig.de