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Kultur

Fragen an Hörkultur und Musikkonsum

Das Schostakowitsch Festival im Gewandhaus ist zu Ende gegangen

  Fragen an Hörkultur und Musikkonsum | Das Schostakowitsch Festival im Gewandhaus ist zu Ende gegangen  Foto: Christiane Gundlach

Das Leipziger Schostakowitsch-Festival aus Anlass des 50. Todestags des Komponisten umfasste als enzyklopädische Werkschau alle 15 Sinfonien, Kammermusik, Film- und Unterhaltungsmusik, das Vokalwerk, zwei Opern, begleitend ein Symposium und Einführungsvorträge. Es spielten das Gewandhausorchester, das Boston Symphony Orchestra und ein Projektorchester aus jungen Musikerinnen und Musikern sowie namhafte Solisten und das Quatuor Danel. Anja Kleinmichel besuchte für den Kreuzer mehrere Konzerte des Festivals.

»Zu DDR-Zeiten haben wir Schostakowitsch privat nicht gehört und möglichst nicht gespielt, denn er galt in unseren Kreisen aufgrund der staatlichen Propaganda als sozialismuskonform«, sagt ein Leipziger Musiker und Festivalbesucher während der Konzertpause. Diese Perspektive hat sich verändert. Im Westen wandelte sich mit Erscheinen der von Solomon Volkow herausgegebenen posthumen Schostakowitsch-Memoiren bereits ab 1979 die Wahrnehmung und Bewertung des Komponisten. Die Authentizität dieser Memoiren ist zwar umstritten, bietet aber ein Bild von den Hintergründen, der künstlerischen Zwangslage während der Stalin-Ära, von Arrangements, Zugeständnissen und Kompromissen, die der Komponist zu Lebzeiten einzugehen gezwungen war. Nun schien es möglich, die Musik von ihrem ideologischen Überbau befreit zu betrachten und die affirmativen Programme hinter den Sinfonien nicht mehr zwingend wörtlich zu nehmen.

Heutzutage ist es daher möglich, eine enzyklopädische Schostakowitsch-Werkschau mit historisch neutralem Ansatz zu veranstalten, ohne sich damit ideologisch zu positionieren. Es zeigt sich aber, dass solch ein Festival Fragen an Hörkultur und Musikkonsum stellt, denn wie man es auch dreht, Schostakowitschs Sinfonien als absolute Musik zu hören, ist schwierig. Es bleibt Musik, die gleichzeitig die hoffnungsvollsten und dunkelsten Kapitel des letzten europäischen Jahrhunderts vergegenwärtigt, deren Energie man sich kaum entziehen kann, weil sie alle Register musikalisch emotionalen Zugriffs zieht.

Parallel zur Aufführung des gesamten sinfonischen Werks fanden beim Festival Recitals mit Kammermusik statt, die eine andere Seite des Komponisten zeigten. Ein besonderer Akzent war hier Musik des jungen Schostakowitsch, ganz im Sinne des wilden, ungezähmten Geistes der gesellschaftlichen und künstlerischen Aufbruchsstimmung der 20er Jahre. Es ist die Zeit von Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin«, der Begeisterung für revolutionäre Ideen und Neuerungen auch in der Kunst. Gerade das Frühwerk verlangt mit der ersten Klaviersonate op. 12 (1926) und dem ersten Klavierkonzert mit Trompete op. 35 (1933) vor allen Dingen Spannkraft für rasant wechselnde krasse Gegensätze und virtuosen Extremismus. Man gewann dafür mit Daniil Trifonov DEN idealen Interpreten und Ausnahmekünstler am Klavier, der mit mehreren Kammermusikrecitals, zwei Solosonaten und Klavierkonzerten eine starke Linie durch das ganze Festival zog. Mit gebündelter Energie, grenzenloser Virtuosität und ergreifender Sensibilität entwickelte Trifonov eine Palette an Klangfarben, die bis zum Äußersten differenziert jeder musikalischen Situation ihre besondere Prägung gab. Wenn es die Feinsinnigkeit seiner Mitspieler erlaubte, transformierten sich die Partituren Schostakowitschs in sehr persönlich erfahrbare Botschaften. So in der Aufführung der Sonate für Viola und Klavier op. 147, die der Komponist, gezeichnet von Krankheit, während seiner letzten Lebensmonate schrieb. Der französische Bratscher Antoine Tamestit mit seiner Expertise für Neue Musik brachte in dieses musikalische Résumé viel Raunen, Andeutung, vor allen Dingen aber Zurückhaltung und Durchlässigkeit ein. Die Aufführung dieses Werks mit seinem Abschiedsgestus und gebrochenen Anklängen an Beethovens Mondscheinsonate geriet damit zu einem absolut außergewöhnlichen Musikereignis.

Pianistin Yulianna Avdeeva beeindruckte mit einem Marathon-Recital. Sie interpretierte die 24 Präludien und Fugen op. 87 am vergangenen Freitagabend. Die 48 Charakterstücke entstanden nach Schostakowitschs Aufenthalt 1950 beim Leipziger Bachfest und sind eine Reminiszenz an den Thomaskantor. Der gefeierte Cellostar Gautier Capuçon hingegen lieferte die bekannte Sonate für Violoncello op. 40 ganz im romantischen Duktus mit dickem Ton ab. Er verkörperte einen Interpretentypus, der mit der Fähigkeit der Klangerzeugung auf seinem wertvollen Instrument schon die halbe Miete gezahlt zu haben glaubt und sich über Weiteres nicht den Kopf zerbrechen muss. Es scheint aber im Gegenteil, dass Schostakowitschs Musik eine interpretatorische Dringlichkeit, eine Notwendigkeit erfordert, für die sich die Musiker stark engagieren müssen.

Es mag sein, dass das Genre der Kammermusik einen direkteren Zugang zu Schostakowitsch ermöglicht als die aufgeladene und auf Massenwirksamkeit angelegte Sinfonik. Das erforderliche Maß der erwähnten interpretatorischen Dringlichkeit lässt sich mit der inneren Distanz zur Programmatik einiger Sinfonien, die eine heutige westliche Perspektive mit sich bringt, kaum erreichen. Die Idee des Sozialismus war schon gescheitert, als Schostakowitsch dessen Sieg mit seiner XII. Sinfonie (1961), einer Huldigung an Lenin, ein Denkmal setzte. Wie ernst der Komponist das Motto des letzten Satzes, überschrieben mit »Morgenröte der Menschheit« zum damaligen Zeitpunkt, acht Jahre nach Stalins Tod, überhaupt gemeint haben kann, ist nicht sicher. »Ich hatte mir eine bestimmte schöpferische Aufgabe gestellt ­– ein Portrait Lenins – und endete mit einem völlig anderen Ergebnis. Das Material widersetzte sich«, ist in Volkows Memoiren zu lesen. »Ich erlebe die Musik extrem stark und baue gleichzeitig ein energetisches Schild um mich«, beschreibt eine Musikerin ihr Empfinden im Zwiespalt zwischen Musik und inhaltlichem Kontext nach der Aufführung der XII. Sinfonie mit dem jungen Projektorchester. Noch dazu müssen sowohl Orchestermitglieder als auch Publikum mit dem starken ästhetischen Anachronismus klarkommen. 1961, das Jahr der Uraufführung der XII. Sinfonie ist das Jahr, in dem beispielsweise György Ligeti »Atmosphères« schrieb, eine Zeit, zu der die westliche Avantgarde sich mit der Idee der seriellen Musik in ihrem Schaffen von manipulativ missbrauchbarer Musik längst deutlich distanziert hatte.

Als Höhepunkt des Festivals werden von Seiten des Gewandhauses die drei Aufführungen von Schostakowitschs VII., der »Leningrader Sinfonie« benannt, die von Musikern des Gewandhausorchesters gemeinsam mit Musikern des Boston Symphony Orchestra gestaltet wurde. Festivalplaner Tobias Niederschlag betonte im Gespräch, man dürfe die Deutungshoheit über Schostakowitschs Musik nicht der gegenwärtigen russischen Propaganda überlassen. Zum Hintergrund: Am 9. August 2022, ein knappes halbes Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine, reinszenierte Putin den 80. Jahrestag der Aufführung von Schostakowitschs Sinfonie im belagerten Leningrad 1942 und erklärte die Sinfonie faktisch zu einer Hymne des Krieges gegen die Ukraine.

Die Leningrader Sinfonie, aber auch die XI. (Das Jahr 1905) und in ihrer Fortsetzung die XII. (Das Jahr 1917), haben unbestritten das Potential, Massen zu emotionalisieren. Musik voller energetischer Elemente, die deutlich militärisch konnotiert sind. Musik, die in großen Teilen auf rhythmischen Patterns mit omnipräsentem Schlagzeug basiert, Motiven, die repetitiv und eingängig sind, voller Unisonopassagen, durchsetzt von Fanfarenmotiven, Marschmotivik und Chorälen.

In den Schostakowitsch-Memoiren heißt es: »Ich empfinde unstillbaren Schmerz um alle, die Hitler umgebracht hat. Aber nicht weniger Schmerz bereitet mir der Gedanke an die auf Stalins Geheiß Ermordeten. Ich trauere um alle Gequälten, Gepeinigten, Erschossenen, Verhungerten. Es gab sie in unserem Lande schon zu Millionen, ehe der Krieg gegen Hitler begonnen hatte. (...) Ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass man die Siebte die ›Leningrader‹ Sinfonie nennt. Aber in ihr geht es nicht um die Blockade. Es geht um Leningrad, das Stalin zugrunde gerichtet hat. Hitler setzte nur den Schlusspunkt.« Würde man sich vor Konzertbeginn diese Entstehungsgeschichte vergegenwärtigen, würde das folgende Konzertereignis wohl zumindest Sprachlosigkeit provozieren. Die Realität ist eine andere. In der Sitzreihe hinter mir tuschelt es unmittelbar vor Beginn der VII., der Leningrader Sinfonie, es wünschen zwei Damen einander »viel Spaß« beim Zuhören. In der Pause schnurpst man dann Werbeartikel in Form von Gummibärchen aus Tütchen mit Schostakowitschs Konterfei.

Die zwei Wochen boten ein Festival, das auch wenig bekanntes Repertoire sichtbar machte. Ein Festival, das Fragen zum Konzertbetrieb aufwarf, denn Musik zum Wohlfühlen und Jubilieren ist die Sinfonik von Schostakowitsch nicht. Dieser Fall ist für Musikkonsum in großen Konzertsälen jedoch nicht vorgesehen. Es gab nach jedem Konzert Standing Ovations und durchaus positive Stimmung. Ohne Zweifel haben die drei Klangkörper, die für dieses Festival angetreten sind, Großes geleistet, ebenso würdigen muss man die unerschöpfliche Energie des Dirigenten Andris Nelsons, der in diesen Tagen 13 verschiedene Sinfonien dirigiert hat.

Wäre aber eine gemeinschaftliche Rezeptionsform von Musik vorstellbar, die Gedanken und Wissen um die Akkumulation von Geschichte einschließt? Es ist das Wesen und auch unser Wunsch an Musik, dass sie emotionalisiert, aber möchten wir das um jeden Preis?


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1 Kommentar(e)

Doris Ziegler 11.06.2025 | um 12:45 Uhr

Liebe Kreuzer-redaktion, Ich möchte auf diesem Weg meinen Dank an die Autorin Anja Kleinmichel aussprechen. Es wäre schön, wenn Sie ihn weiterleiten könnten. Mir ist lange nicht so eine kluger und sprachlich geschliffenen Text zur schostakowitsch-ehrung untergekommen. Herzlichen Dank! Doris Ziegler