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»Für die einen fängt es hier an, für die anderen hört es auf«

Der Wogetra-Plattenbau wird sechzig – ein Besuch bei seinen Bewohnerinnen und Bewohnern

  »Für die einen fängt es hier an, für die anderen hört es auf« | Der Wogetra-Plattenbau wird sechzig – ein Besuch bei seinen Bewohnerinnen und Bewohnern  Foto: Christiane Gundlach

Seit sechzig Jahren stapelt der Wogetra-Block am Johannisplatz urbanes Leben auf engstem Raum – nicht hübsch, aber innenstadtnah und bezahlbar. Ein genaues Eröffnungsdatum des Hauses der Wohnungsgenossenschaft Transport gibt es nicht, denn auf der einen Seite zogen die Leute schon ein, während die zweite Hälfte des Blocks noch hochgezogen wurde. Trotzdem wollen die Bewohnerinnen und Bewohner diesen Sommer Geburtstag feiern. Ein Nest am anderen, 478 Wohnungen mit mehr als 478 Schicksalen auf engstem Raum. Sechs von ihnen stellt unser Autor Frank Schlößer hier vor – unter anderem sich selbst.

»Klar ist es eng«

Foto: Frank Schlösser
Sabine und Rolf Schuricht leben hier seit 1965

Wenn sich Rolf und Sabine Schuricht an die anderen Mieterinnen und Mieter in diesem Haus erinnern, enden die Anekdoten von Kinderfesten und Aufbaustunden oft mit: »Ja, die sind auch schon …« Als die Schurichts mit ihrem sechs Monate alten Sohn im Oktober 1965 hier einzogen, war erst einer von zwei Bauabschnitten fertig. Die kleine Familie hatte in den ersten Monaten noch eine Wohnung mit Außenwand, jetzt liegt dieselbe ziemlich genau in der Mitte des Hauses. Neunte Etage – vom Balkon haben sie einen Super-Ausblick in Richtung Süden: »Damals konnten wir auch bis auf den Augustusplatz gucken. Das ist jetzt zugebaut.«

Die Zweiraumwohnungen gab es überwiegend für Familien mit Kindern – für die Schurichts war es die Chance, aus der Untermiete rauszukommen. Sie war Verkäuferin, er arbeitete im VEB Getriebewerk »Joliot Curie« – erst als Spitzendreher, dann als Einrichter, später machte er auf der Abendschule auch noch seinen Industriemeister. Die AWG Transport war eigentlich nicht »seine« Arbeiterwohngenossenschaft, aber ein Freund hat das Paar damals reingebracht – Rolf ging mit ihm zur Sitzung und kam mit einer Wohnungszuweisung wieder. Zum Einzug gab es erst mal einen Wasserschaden, die Rohrmuffen hatten nicht gehalten. Und weil die Fernwärme noch nicht angeschlossen werden konnte, legte die AWG für ein paar Monate Schienen vors Haus, stellte zwei Dampflokomotiven drauf und schloss dort die Heizungsrohre des Hauses an.

»Klar ist es eng«, sagt Sabine Schuricht. »Ich wollte auch immer mal weg, eine Wohnküche, mehr Platz.« Aber wenn man mit einer Klappcouch für sich und mit einem Wandbett für den Jungen das Schlafzimmer sparen kann, dann reicht der Platz zweimal im Jahr sogar für einen Messegast. Für die Wochenenden und den Sommer gab es ein Grundstück in Großpösna samt Bungalow und Pool. Die Kinder sorgten im Haus für Remmidemmi. Damals gab es ja auch noch den Spielplatz vor dem Gebäude. An den Wochenenden machten sich die Nachbarn auf den Weg und brachten die legendären Kümmelbrötchen vom Bäcker Gödecke nach Hause.

»Heute sehen wir uns im Fernsehen an, wo wir nach der Wende überall schon waren«, sagt Sabine Schuricht. Rolf Schuricht fällt inzwischen der Weg zum Wochenmarkt schwer. Das Grundstück in Großpösna ist weg, der Keller auch schon leergeräumt, das Auto verkauft. »Wir sind jetzt mit dem Deutschlandticket unterwegs, da kommt man auch überall hin«, sagt Rolf Schuricht. »Vor ein paar Wochen haben wir es mit der Eins bis zum Kulkwitzer See geschafft.«


»Um acht geht’s dann los«

Am Info-Brett im Büro des Service-Teams hängt auch ein Flyer der Sächsischen Tatortreinigung. Sie wird gerufen, wenn jemand in seiner Wohnung stirbt und es ein paar Tage dauert, bis es jemand merkt. Maik Wagner nickt kurz. »Ist nicht schön. Nimmt einen auch mit. Kommt aber vor.« Es wohnen eben nur noch wenige Pärchen in dem großen Haus.

Maik Wagner arbeitet für verschiedene Standorte der Wohnungsgenossenschaft Wogetra, einen großen Teil seiner Arbeitszeit verbringt der drahtige 59-Jährige im Block am Johannisplatz. Susanne Heenemann kümmert sich um den Außenbereich, Petra Raupach hält den Laden zusammen und Sylvia Haase von der Reinigungsfirma wischt einmal pro Woche komplett alle zehn 140 Meter langen Flure und die Kellergänge.

Hausmeister Maik Wagner
Maik Wagner ist Hausmeister des riesigen Wohnblocks

Wenn Maik Wagner hier Dienst hat, ist er morgens meistens der Erste. »Ich fahre am liebsten von Burghausen hierher, bevor in der Stadt der Berufsverkehr ausbricht«, sagt er. »Dann sammle ich schon mal ein bisschen Müll, sehe nach, ob jemand irgendwo wieder Sperrmüll abgestellt hat, mache Kaffee fürs Team, stelle die gelben und blauen Mülltonnen raus. Na ja, und um acht geht’s dann los.« Das Servicebüro öffnet, die Leute kaufen Marken für die Maschinen im Waschsalon, wollen Informationen oder kommen mit ihren Wehwehchen. Wenn diese mit Elektrik zu tun haben, gehören sie zum Job von Maik Wagner. »An diesem Standort kommt man den Mieterinnen und Mietern eben doch näher als woanders«, sagt er. »Wir reden miteinander und man bekommt einfach mit, wie es den Leuten geht.«

Mehrmals jede Woche wird hier ein- oder ausgezogen, vor allem in den Einraumwohnungen, in denen viele Studentinnen und Studenten leben. So gut wie immer sind die Handwerksfirmen zugange, die Wohnungen nach einem Auszug teil- oder generalzurenovieren – je nachdem, wie lange die Vormieter darin gelebt haben. »In den ältesten Steckdosen sind noch Alu-Leitungen verlegt«, sagt Maik Wagner lächelnd. »Die haben Bestandsschutz. Aber sie müssen natürlich raus, sobald die Wohnungen leer sind.« So befindet sich der komplette Block in einem langsamen, beständigen Erneuerungsprozess. Von außen sieht das Haus immer gleich aus. Aber innen wird manchmal umgebaut, dann verschwinden zum Beispiel die zu wenig frequentierten zentralen Wannenbäder für mehrere Wohnungen aus den Etagen und weiterer Wohnraum entsteht.

Wenn jemand die Veränderungen an diesem Haus mitbekommt, dann Maik Wagner und das Serviceteam. Das Neueste ist, dass einer der drei abschließbaren Müllplätze wegfällt. Es wird weniger Restmülltonnen geben. Die werden dafür zweimal in der Woche abgeholt. »Es wird ein bisschen dauern, bis die älteren Mieter sich daran gewöhnt haben«, sagt Maik Wagner. »Es sind ja einige mit dem Rollator unterwegs und achtzig Meter mehr Fußweg sind doch ein höherer Aufwand.« Aber immer mehr junge Mieter haben Fahrräder, die sie dann sicher abstellen könnten. »Vielleicht machen wir ja auch noch ein Dach drüber.«

Für den gelernten Tischler ist der Hausmeisterjob die letzte Etappe vor der Rente. Die Berge haben es ihm angetan, die Berge im Trentino. Mit seiner neuen Hüfte will er zwar die heftigsten Klettertouren nicht mehr bewältigen. Aber von den Wanderungen dort kann er nicht lassen. »Dort habe ich nach der Wende zwei Jahre gearbeitet, dort steht auch heute immer ein Bett für mich«, sagt er. »Dann hat mich das Heimweh nach Leipzig zurückgeholt. Aber ein Stück von meinem Herzen ist dortgeblieben. Ich kenn dort jeden Stein.«


»Ich wollte ins Zentrum und ich wollte einen freien Parkplatz«

Im Wohnzimmer von Abo R. steht eine große rote Eckcouch und ein kleinerer traditioneller persischer Diwan. Und ein riesiger Fernseher. »Ach, den werde ich wieder verkaufen«, sagt der junge Mann und winkt ab. »Ich guck kein Fernsehen.« Wenn er draußen auf dem Balkon eine Selbstgedrehte raucht, dann blickt er runter auf den Johannisplatz. Und auf sein Auto, einen kleinen Daihatsu Cuore. »Das war der Grund, dass ich eine Wohnung in diesem Haus wollte«, sagt er. »Ich wollte ins Zentrum und ich wollte einen freien Parkplatz.«

Abo R.
Abo R. landete zufällig in Leipzig und will hier in Ruhe leben

Ansonsten will Abo R. frei und ruhig leben. Arbeiten gehen. Manchmal dort tanzen gehen, wo man ihn reinlässt. Zum Beispiel in die Moritzbastei. Ist das Rassismus? Abo R. lächelt. »Ich bin als Kind aus Afghanistan in den Iran geflohen, von Kandahar nach Zahedan. Dort konnte ich meine Muttersprache sprechen, das war unsere Kultur. Aber wir waren nur die Afghanen. Ja, ich durfte arbeiten, als Kind, in der Autowerkstatt, als Lackierer. Aber wir hatten keine Chance auf eine Schule.« Er bläst den Rauch über die Balkonbrüstung. »Das war Rassismus.«

Natürlich seien die Deutschen anders, kalt, brummelig, weniger fröhlich. »Die laden sich eben nicht spontan nach Hause ein, sie sind distanziert.« Aber das seien normale kulturelle Unterschiede. »Die Deutschen sind ja auch misstrauisch gegenüber anderen Deutschen, die sie nicht kennen. Also, was soll’s.« Das hinderte ihn nicht, seinem älteren Nachbarn zu helfen, als dessen Frau gestürzt war. »Wenn’s drauf ankommt, dann funktioniert es.«

Im Jahr 2015 kam er nach München, als einer von vielen unbegleiteten Minderjährigen. Der Zufall und der Königsteiner Schlüssel – der festlegt, wie die einzelnen Bundesländer an gemeinsamen Finanzierungen beteiligt sind – sorgten dafür, dass Abo R. in Leipzig landete. Erst für ein paar Wochen mit Familien und Ledigen in einer Sporthalle. »Viele wollten da wieder weg, nach Schweden zum Beispiel. Ich bin geblieben. Viele von den Minderjährigen sind erst mal durchgedreht vor lauter Freiheit«, sagt er. »Ich hab lieber auf mich aufgepasst.«

Trotzdem weiß er nicht, was passiert wäre, wenn er nicht Katrin Bachmann begegnet wäre. »Ich muss ihr aufgefallen sein – was weiß ich!« Jedenfalls sucht sie nach ihm, als er mit den anderen Minderjährigen schon in einem ehemaligen Hotel zwischen Naunhof und Brandis gelandet ist. Und holt ihn dort raus. In ihr Haus. Zu ihrer Familie. »Ich wusste nicht, was mit mir passierte«, sagt Abo R. »Aber es fühlte sich wieder an wie ein Geschenk. Ich hab’s genommen.« Er lebt mit seiner neuen Familie in einem Haus, natürlich gibt es jede Menge Probleme. Aber er macht auch einen Deutschkurs, zusammen mit einer Berufsausbildung zum Fahrzeuglackierer. »Lesen und Schreiben ist bis heute nicht meins: Wenn du mich bestrafen willst, dann setz mich vor einen Computer. Aber ich will ja lieber richtig arbeiten.« Mit seinem Facharbeiterbrief nehmen sie ihn bei Porsche im Karosseriebau. Dann stirbt seine Mutter im Iran, er kann nicht zu ihr, denn er hat noch keinen Aufenthaltstitel. Das wirft ihn aus der Bahn. Und aus dem Job.

Heute arbeitet er bei BMW. Seine kleine Schwester hat es allein bis nach Griechenland geschafft, von dort hat er sie geholt. Jetzt lebt sie in Leipzig und ist verheiratet. Seine große Schwester lebt immer noch in Afghanistan, ihr schickt Abo R. regelmäßig etwas Geld. Schließlich unterschrieb Katrin Bachmann auch noch die Bürgschaft, die nötig war, um bei der Wohngenossenschaft Wogetra eine Wohnung zu bekommen. Inzwischen zahle er die Wohnung natürlich selbst. »Ich hatte noch nie eine Tür, die ich hinter mir abschließen kann. Das ist ein Geschenk des Universums!«


»Ich hab hier einfach alles, was ich brauche«

Simone Bieler
Simone Sieler ist schon mal aus dem Block weggezogen und auch schon darin umgezogen

Schon 2004 hatte sich Simone Sieler eine Wohnung im Block am Johannisplatz geangelt, dort, wo sie aufgewachsen ist. Zehn Jahre hatte sie mit ihrem Mann in einem Dorf bei Utrecht gelebt. »Jetzt waren meine Eltern alt geworden, da wollte ich öfter bei ihnen sein«, erzählt Sieler. »Glücklicherweise war auch eine Wohnung auf der Nordseite des Blocks frei geworden, die etwas größer war. Eigentlich sind dort nur Einraumwohnungen.«

Es kam anders. Zwei Jahre später starb ihr Vater, ein paar Monate danach auch ihr Mann. »Mit dem Schlafdorf in Holland war ich nie warm geworden, das war immer zu weit weg von allem.« Also ging sie endgültig zurück in ihre Heimatstadt Leipzig. Und zog wieder in »ihren« Block. Simone Sieler und ihrer Mutter blieben noch 14 gute Jahre miteinander. »Als auch Mutti gestorben war, hab ich mal überlegt, ob ich wegziehe«, sagt Simone Sieler. »Aber ich hab mich dagegen entschieden. Ich hab hier einfach alles, was ich brauche.« Sie zog noch einmal innerhalb des Hauses um. Jetzt blickt sie im Frühling auf das frische Grün der Bäume vor ihrem Fenster, im Herbst sieht sie zu, wie die Blätter bunt werden.

Mit vier Jahren ist Simone Sieler zum ersten Mal hier eingezogen. »Damals organisierte Erhard Schmidt die jährlichen Hausfeste«, erinnert sie sich. »Das waren wirklich Mehrgenerationenfeste. Die Rentner saßen an langen Tafeln, die Kinder brachten den Kuchen und den Kaffee.« Rollerrennen habe es gegeben und Bastelstraßen, an denen die Kinder diese Holzbrennarbeiten machen konnten, mit denen man später die ganze Verwandtschaft beschenken konnte. »Als Kind war ich immer draußen auf der Straße – und immer zusammen mit den anderen.« Die Salomonstraße hatte einen guten Belag, dort konnten sie Rollschuh fahren. Und als die Kinder größer wurden, ließ Erhard Schmidt im Keller ein paar Tischtennisplatten aufstellen. »Das passte natürlich besser zu uns Jugendlichen«, sagt Sieler. »Auch wenn es manchmal ein bisschen lauter wurde.« Im Keller des mittleren Hauses gab es eine Bar, zu Silvester wurden dort die Tische aufgestellt, es gab eine legendäre Tombola, bei der auch schon mal überzählige Hamster und lebendige Silvesterkarpfen verlost wurden.

Trotzdem zog sie pünktlich mit 18 Jahren zu Hause aus. Da hatte sie ihren »Facharbeiter für Schreibtechnik« schon in der Tasche und arbeitete später in der Chefetage der Kunstbuchbinderei Leipzig – bis zu deren Abwicklung. Und als sie Anfang der wilden neunziger Jahre ihren Mann kennenlernte, der mit seinem Kumpel in Leipzig die Blumen aus Holland verkaufte, kehrte sie ihrer Heimatstadt den Rücken. Vorerst.

Etwas ist noch übrig vom früheren Zusammenhalt: Seit 2013 sitzen Simone, Moni und Petra, Thekla und Reni in ihrem selbst gegründeten Rotkäppchen-Club zusammen und feiern gemeinsam ihre Geburtstage – alle sind über Jahre verbunden mit dem Wogetra-Block am Johannisplatz. »Wir sind Halbtrockene«, sagt Simone Sieler. «Inzwischen verfeinern wir den Sekt auch nicht mehr mit Sambalita.« Sie lacht. »Man wird ja nicht jünger.«


»Mit einem Studentenjob im Zentrum wohnen!«

Wilhelmine Stoll
Leipzig kannte sie von Auswärtsfahrten mit Union Berlin
– seit ein paar Monaten lebt Wilhelmine Stoll hier

»Ich weiß auch nicht – die scheinen hier in Leipzig ziemlich langsam zu bauen«, sagt Wilhelmine Stoll und blickt von ihrem Balkon aus rüber zu dem riesigen Neubau, der ihr die Sicht auf das Völkerschlachtdenkmal verstellt. Seit die Studentin vor acht Monaten ihre Wohnung am Johannisplatz bezogen hat, ist auf der Baustelle nichts passiert. Für die Berlinerin ist diese Wohnung in Leipzig der erste Schritt raus aus der elterlichen Wohnung in Treptow, raus aus dem Garten und der geordneten Ruhe.

Natürlich hätte sie auch in Berlin Sonderpädagogik studieren können. »Aber die Miete in Berlin hätte ich mir nicht leisten können. Und das Studium an der Uni Leipzig ist näher dran an der Praxis«, sagt sie. »Hier komm ich mit einem Studentenjob zurecht. Obwohl ich im Zentrum wohne!« Leipzig ist kompakter als Berlin, dort wäre sie für ihr Studium ewig unterwegs. »Ich kann mir gut vorstellen, hier zu leben, ist eine gute Stimmung hier. Das hab ich schon gemerkt, wenn wir zu den Auswärtsspielen von Union nach Leipzig gefahren sind.«

Ihr Wohnzimmer erzählt eine Geschichte. Der Schrank und die Couchecke sind von Oma. Ein »Kleiner Maulwurf« steht neben vielen Reise-Souvenirs und den Harry-Potter-Büchern im Regal. Die Noten erinnern sie daran, dass sie noch üben muss für den Chor der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät. Auf dem Tisch liegt ein Reiseführer – in diesem Jahr geht es nach Marokko. Neben dem Schreibtisch hängt die rot-weiße Fahne von Georgien. »Dort hab ich ein Jahr gelebt und gearbeitet«, sagt Stoll »Ich hab mich in dieses Land verliebt. Und als ich zurückkam, da wusste ich, dass ich zu Hause ausziehen muss.«

Ihren großen Wogetra-Block findet sie gut. »Natürlich kann ich die Wohnungstür zumachen und dann hab ich meine Ruhe«, sagt sie. »Aber ich fühle mich auch nie alleine. Dafür reichen schon ein paar freundliche Worte im Fahrstuhl.« Die Nachbarinnen und Nachbarn auf der Etage kennt sie inzwischen. Man drängt sich nicht auf, aber man weiß, dass man überall Hilfe bekommen kann. »Ich finde auch diese Generationen im Haus spannend«, sagt sie. »Die Alten und die Jungen wohnen hier Tür an Tür. Für die einen fängt es hier an, für die anderen hört es auf.«

Und wenn ihre Eltern doch mal Karten bekommen für ein Heimspiel bei Union, dann steigt Wilhelmine Stoll in den Flixer und ist in anderthalb Stunden zu Hause.


»Nachts halb drei gibt es manchmal zwei stille Minuten«

»Lage, Lage, Lage!« – Das hatte ich mir schon vor drei Jahren gedacht, als meine Tochter in den Block am Johannisplatz gezogen war. Von ihrer Heimat Rostock zum Studium in meine Heimatstadt. Wenn meine Tochter jetzt aus dem Fenster sieht, dann blickt sie runter auf die Salomonstraße 21, wo in den zwanziger Jahren das Schaller-Heim stand – benannt nach dem Reformpädagogen Herbert Schaller und seiner proletarisch-linken Kinderland-Bewegung. Sie existierte nur wenige Jahre, dann ging sie in der Volkshochschul-Bewegung auf. Aber diese Zeit muss entscheidend gewesen sein für meinen Opa Hans. Seine viereinhalb Jahre Knast wegen Vorbereitung zum Hochverrat saß er bis 1939 im Zuchthaus Zwickau ab. Er hat mir etliche Meter von Reclams Universalbibliothek hinterlassen, fein in Leder gebunden von seinem Vater Robert mit Farbschnitt und Goldprägung.

Frank Schlösser
Unser Autor Frank schlösser ist nach 26 Jahren zurück nach Leipzig gezogen

Schaller-Heim, Augustusplatz, Reclamverlag – so stellte sich schnell heraus, dass der Johannisplatz auch ein familiäres Zurückkommen war, für meine Tochter und vor einem Jahr dann auch für mich. Wenn ich nun auf meinem Balkon stehe, dann könnte ich dem Grassimuseum in die Ana-nas spucken. Ich sehe den Wasserturm neben dem Völkerschlachtdenkmal, den Turm des Krematoriums auf dem Südfriedhof, die Kuppel der Russischen Gedächtniskirche, die Büchertürme der DB mit der Leuchtschrift der DNB, den kleinen Eiffelturm für das Klein-Paris, den Oktober-Beton, den Fockeberg, die Peterskirche, das Gewerkschaftshaus, das Reichsgericht. So nachts halb drei, da gibt es manchmal zwei stille Minuten auf dem Balkon. Da liegt der Johannisplatz verlassen. Keine Bimmel, keine Fußgänger, kein Rad, kein Auto. Nichts. Nur Nacht. Aber sonst ist immer was los. Irgendeine Straßenbahn rumpelt immer über die miesen Gleise. Kaum zehn Minuten ohne Feuerwehr, Krankenwagen oder Polizei. Ich hab mir eine mobile Klimaanlage angeschafft, denn im Sommer scheint die Sonne den ganzen Tag auf die Südfassade. Aber das tut sie auch im Winter, und was die Fernwärme angeht, so ist der Block mit seinen 295 Einraumwohnungen und 183 Zweiraumwohnungen ein Energiesparwunder. Ein Nest am anderen – plus Arztpraxis, Vereinsräumen, Waschsalon, Sportraum, Taxifirma. Und mit eigener Caritas. Im letzten Winter hab ich die Heizung nicht ein einziges Mal aufgedreht. Die Wohnung ist erstaunlich wenig hellhörig. Ja, ich höre in meinem Schlafzimmer den Fernseher meines Nachbarn. Aber ich weiß auch, dass er schwer hört und seine Frau pflegt. Also ist es okay.

Natürlich kann man diesen riesigen Block scheiße finden. Dass die Fassade wuchtig und eintönig ist, das wussten auch die Planer. Sie setzten das Haus fünfzig Meter hinter den ursprünglichen Straßenverlauf und pflanzten Bäume. Wer unten vorbeigeht, sieht heute einen kleinen Wald mit ein paar Balkons darüber. Natürlich kann man sich alte Bilder ansehen und Tränen vergießen über die prächtige Fassade des Hotels Sachsenhof (das einst an der Ecke zur Querstraße stand), über die zerbombte und letztlich gesprengte Johanniskirche und das eingeschmolzene Reformationsdenkmal. Aber die kleineren Wohnungen in den Neubauten kann man wenigstens auch heute noch bezahlen. Ich hab nicht nur Arzt, Bäcker, drei Supermärkte, Fitnessstudio und Zahnärztin im Umkreis von fünf Minuten Fußweg. Sondern auch jede Menge preiswerte Restaurants plus Kinos, Gewandhaus, Oper, Haus des Buches. Und wenn das alles nicht reicht, dann setz ich mich in eine Bimmel oder spaziere in zehn Minuten zum Hauptbahnhof und setz mich in den nächstbesten Zug. Ich wollte es urban. Das hab ich bekommen.


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