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»89/90 ambivalent erzählen«

Historikerin Anna Lux über Popkultur als Erinnerungsstrategie und Leipzigs Umgang mit den Umbrüchen nach 1989

  »89/90 ambivalent erzählen« | Historikerin Anna Lux über Popkultur als Erinnerungsstrategie und Leipzigs Umgang mit den  Umbrüchen nach 1989  Foto: Christiane Gundlach

Als Teenager protestierte Anna Lux Anfang der Neunziger gegen eine Errungenschaft der Wiedervereinigung, den ersten Pornoladen in Gohlis, in unmittelbarer Nähe ihrer Schule. Ihr kritischer Blick auf die Welt führte sie später aber nicht in die erste Reihe von Demonstrationen, sondern in die Wissenschaft. Wir haben mit der Historikerin über Leipzig zwischen Einheitsdenkmal und Lichtfest gesprochen.

Sie sind in Leipzig geboren, zur Schule gegangen, haben hier studiert: Hatten Sie nie das Bedürfnis wegzugehen?

Anfang der Nullerjahre habe ich mit der Stadt gehadert. Ich hatte ein Jahr in Lyon studiert, kam zurück und dachte: Leipzig ist so klein ... Da war es gut, oft wegzufahren, aber immer auch wiederzukommen. Mit Kindern fand ich dann Leipzig wieder sehr schön.


Ihre Mutter, Petra Lux, leitete zu DDR-
Zeiten ein Jugendklubhaus in Schönefeld und wurde 1983 entlassen, weil sie Veranstaltungen mit unangepassten Künstlern und Tanzabende für gleichgeschlechtliche Paare organisierte. 1989 war sie Sprecherin beim Neuen Forum, später schrieb sie für die DAZ vor allem über Frauenthemen. – Sie sind in einer distanzierten gesellschaftlichen Position zur DDR aufgewachsen. Gehört Protest zu Ihrer Grundhaltung oder haben Sie sich eher davon abgewandt?

Das ist eine interessante Frage, denn tatsächlich war Protest Anfang der Neunziger etwas anderes als in den Achtzigern in der DDR. Ich fand es früh wichtig, mich kritisch zu äußern. Aber ich bin nicht so eine Kämpferin wie meine Mutter. Ich habe darüber nachgedacht, warum ich Wissenschaft mache, ich hätte ja auch etwas anderes machen können. Ich glaube, Wissenschaft ist für mich der Weg, kritisch und verstehend zugleich auf die Welt zu schauen. Insofern hat mich ihr kritischer Blick geprägt, und ich bin meinen eigenen Weg gegangen.


Mit welcher Motivation haben Sie Geschichte studiert?

Ich habe Geschichte in der Schule gerne gemacht und hatte Lust zu studieren. Manchmal erzähle ich die Anekdote, wie eine Lehrerin in der 10. Klasse zu uns sagte: »Auf euch wartet keiner.« Ein harter Satz, aber er hat auch Freiheit mit sich gebracht. Es war für mich keine Frage: Welches Studium führt in einen sicheren Job? Was ist strategisch sinnvoll? Ich habe auch nicht Lehramt studiert, sondern einfach das, was ich interessant fand. Das hat sich bewährt und alles andere hat sich später gefügt.


Wie viele Schülerinnen und Schüler sind denn nach der Ansage der Lehrerin kriminell geworden?

Weiß ich nicht, aber der Freund, neben dem ich saß, hat die Schule nicht fertig gemacht. Ich habe damals die 10. Klasse freiwillig wiederholt. Aus heutiger Sicht war die Aussage der Lehrerin heftig. Aber so war die Stimmung damals.


Sind das die Erfahrungen der Generation
Wende?

Ich bin diese Wendegeneration: DDR noch erlebt und dann Jugend, frühes Erwachsensein nach 89. Es gibt diesen Begriff der unberatenen Generation: Strukturen brechen weg; manche werden gewalttätig, drogenabhängig, lost. Ich finde aber, der Begriff hat auch diese Dimension von Freiheit. Wenn die Erwachsenen mit sich beschäftigt sind, schafft das auch Freiräume.


Sie haben die Zeit als Freiheit empfunden?

Ja, aber ich habe auch gesehen, dass andere wesentlich schlechter damit zurechtkamen. Vor der Roten Schule (die Schule in der Breitenfelder Straße mit Backsteinfassade, zu DDR-Zeiten Polytechnische Oberschule, benannt nach Hans und Hilde Coppi, Anm. d. Red.) zum Beispiel, die eine Mittelschule wurde, standen Anfang der Neunziger die Faschos. Da wäre es wichtig gewesen, wenn Erwachsene eingegriffen und sich zuständig gefühlt hätten. In dieser Ambivalenz habe ich das damals schon gesehen. Diese Erfahrung, dass Erwachsene hochgradig verunsichert sind und nicht wissen, wie weiter, das war prägend.


Bis zum Sommer haben Sie im Projekt
»Das umstrittene Erbe von 1989« des Bundesministeriums für Bildung und Forschung in Freiburg im Breisgau gearbeitet, also am äußersten Zipfel des Landes mit wenigen Berührungspunkten zur früheren DDR. Wie kam es dazu?

Ich habe in Freiburg mit der Historikerin Sylvia Paletschek in einem Forschungsprojekt über nicht-hegemoniales Wissen gearbeitet. 2017 kam eine Ausschreibung zu DDR-Geschichte. Da ich weiter Kontakte zur Uni Leipzig hatte, habe ich gemeinsam mit Alexander Leistner vom Institut für Kulturwissenschaften überlegt: Was könnten wir dazu machen, was würde uns interessieren? Da kam die Idee: Wir stellen den Antrag gemeinsam von Freiburg und Leipzig aus. Sylvia Paletschek hat damals viel zu populärer Geschichtskultur im 19. Jahrhundert gearbeitet und ich dachte mir: OK, es gibt so viel Popkulturmaterial zu 1989 und Transformation – dazu will ich arbeiten. In Freiburg ist das Thema sehr weit weg, es spielt auch in der Lehre kaum eine Rolle. Gleichzeitig habe ich bei den Studierenden gesehen, dass es ein großes Interesse gibt. Deshalb fand ich es sehr produktiv, dort an der Uni mit den Leuten zu arbeiten.


Zu dem Projekt erschien beim Verbrecher-
Verlag das Buch »Neon/Grau – 1989 und ostdeutsche Erfahrungsräume im Pop« von Ihnen und Jonas Brückner, das sagt: Es bedarf einer Vielstimmigkeit zu 89. Werden wir eine neue popkulturelle Erinnerungskultur erleben?

Wir haben das Buch mit vielen dialogischen Elementen geschrieben, weil wir denken, es braucht diese Vielstimmigkeit. Und weil wir der Meinung sind, dass 35 Jahre nach 89/90 die Zeit reif ist und die Leute bereit sind, um sich damit zu konfrontieren. Popkultur verstehen wir als Brücke, das klingt jetzt vielleicht ein bisschen pathetisch, aber unser Anliegen war es, das erinnerungskulturelle Pingpong zwischen Meister- (vorherrschende Perspektive auf die Vergangenheit, Anm. d. Red.) und Gegenerzählung aufzubrechen. Die Erfahrungen der Leute, die 1989/90 und die folgenden Jahre erlebt haben, sind ambivalent, zum Teil widersprüchlich. Populäre Geschichtskultur ist ein tolles Medium, um das zu zeigen. Denn in Romanen, Spielfilmen, Songs aus den letzten 35 Jahre sehen wir davon ganz viel. Also: Nicht nur »Good Bye, Lenin!« oder »Gundermann« anschauen, sondern beide Filme nebeneinanderstellen und dazu Rap-Songs hören, die sich mit Krisen in Ostdeutschland beschäftigen, oder den Roman »Machandel« von Regina Scheer lesen, der den Stoff in die langen Linien des
20. Jahrhunderts einbettet. Das ist unsere Einladung: diese Vielstimmigkeit hören und
gleichzeitig Lust darauf machen. Das ist auch interessanter als die Großerzählungen,
bei denen es um das »richtige Erinnern« geht. Ich würde sagen: Erinnern an 89/90 und die Folgezeit ist neongrau.


Welche popkulturellen Beispiele sind in Ihren Augen im Sinne einer abgebildeten
Vielstimmigkeit im Erinnerungsprozess noch interessant und relevant?

Ein Thema, das in den letzten Jahren auch in der historischen Forschung angekommen ist, sind die Geschichten der Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter in der DDR, unter anderem aus Vietnam. Der Dokumentarfilm von 1991 »Bruderland ist abgebrannt« schildert ihre Situation eindrücklich. Oder die Comic-App »Glasfäden«, die vor ein paar Jahren erschienen ist. Sie erzählt sehr berührend die Geschichte der vietnamesischen Vertragsarbeiterinnen
in der DDR und Transformationszeit und verbindet sie sensibel mit der Sicht der Nachgeborenen. Ein zweites wichtiges Thema sind die sogenannten Baseballschlägerjahre. Da finde ich nach wie vor Manja Präkels Roman »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« stark.


Wer kommt zu den »Neon/Grau«-Lesun
gen und welche Reaktionen gibt es dort?

Wer kommt, hängt vom Ort ab. Uns ist es wichtig, an unterschiedliche Orte zu gehen, in Buchhandlungen, auf Festivals, in Ost und West, in Städte und aufs Land. Und wir wollen mit dem Buch auch akademische Räume bespielen. Die Reaktionen sind sehr wohlwollend. Viel findet danach statt, wenn die Leute selbst erzählen. Diesen Dialog braucht es. Und es würde uns freuen, wenn wir den Austausch auch über die Lesung hinaus anregen – intergenerationell
mit den eigenen Kindern, mit den Eltern.


Das Buch wendet sich auch gegen eine Oschmannisierung, oder?

Ja, aber es ist nicht einfach ein Anti-Oschmann-Buch (2023 erschien »Der Osten: eine
westdeutsche Erfindung« des Leipziger Germanisten Dirk Oschmann, Anm. d. Red.). Wir setzen uns kritisch mit seiner Position auseinander, aber vor allem geht es uns darum, sie einzubinden. Er repräsentiert eben nicht »die Stimme des Ostens«, sondern eine unter vielen. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Ich habe mit einer Reihe von Leuten gesprochen, die das Buch gelesen haben, sich angesprochen, verstanden fühlten. Das hat mich ins Nachdenken gebracht: »Warum erreicht dieses Buch die Leute und wir mit unseren differenzierten Forschungen nicht?« Das war auch ein Impuls, »Neon/Grau« nicht als »klassisches« Wissenschaftsbuch zu schreiben.


Im Buch ist zu lesen, dass Sie sich als
Leipzigerin definieren, aber nicht als Ostdeutsche, und es kommt Felix Kummer mit seinem Zitat vor, dass er mit Ost-Ost-Ostdeutschland als Selbstermächtigung nichts anfangen kann. Ist das so schlimm, weil es ein »Frakturschrift-Denken« mit sich bringt?

Lange war das für mich überhaupt keine Frage – bin ich ostdeutsch? Die Distanz lief für mich über das frakturmäßige Deutsch-Sein. Ich bin Leipzigerin, Europäerin. Aber Deutsche, was soll das sein? Vor diesem Hintergrund erscheint mir auch die Fokussierung auf das Ostdeutsche nicht sinnvoll. Ich würde schon sagen: Ich bin aus dem Osten, in der DDR sozialisiert, aber es kommt mir extrem schwer über die Lippen zu sagen: Ich bin Ostdeutsche oder gar Ossi.


Im Buch kommt es gar nicht vor, aber:
Brauchen wir ein Nationaldenkmal für 1989?

Obwohl ich hier in Leipzig lebe, hat mich das wenig umgetrieben. Von Freiburg aus hatte ich auch einen gewissen Abstand zu den Diskussionen – nicht nur um das Denkmal, sondern auch über die Aufarbeitungslandschaft wie in der kreuzer-Titelgeschichte damals (»Der Revolutionswächter – Wie Runde-Ecke-Chef Tobias Hollitzer das Erbe des Leipziger Herbstes verspielt« im kreuzer6/2019, Anm. d. Red.). Ehrlich gesagt, war ich manchmal froh, mich forschend mit populärer Geschichtskultur als einer sehr erfrischenden, dynamischen Diskursarena zu beschäftigen und nicht nur mit geschichtspolitischen Debatten.


Sie brauchen also keinen konkreten Erinnerungsort?

Für mich persönlich braucht es das nicht. Ich merke, dass es im Alltag viele Anknüpfungspunkte gibt, um über diese Themen zu sprechen, sowohl mit meiner Mutter als auch mit meinen Kindern. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die viel zum kulturellen Gedächtnis gearbeitet hat, sagt allerdings: Kollektive Erinnerung braucht bestimmte Formen, Rituale, Orte, Daten. Insofern hat ein öffentlicher Erinnerungsort eine wichtige erinnerungskulturelle Funktion. Schwierig wird es, und da sind wir wieder bei diesen Monopolisierungen, wenn es nur den einen Ort gibt, an dem sich alles bündelt. Am Einheitsdenkmal finde ich die Idee mit dem Park nicht schlecht. Wenn das ein Ort ist, der schön ist, wo man einfach sein kann, dann ist er vielleicht auch als ein Erinnerungsort o.k. – neben anderen. Natürlich spielt Geld dabei auch eine Rolle: Was da reinfließt, fehlt woanders. Das ist in Zeiten von knappen Kassen eine grundsätzliche Frage: Wofür gibt die Stadt Geld aus, was ist ihr wichtig?


Die fünf Millionen Euro könnten in so
ziale Bildungsarbeit und in Archive mit Zeitzeugenmaterial gesteckt werden …

Ich würde sagen, dass man 89/90 als einen ambivalenten Erinnerungsort erzählen muss, indem man den Aufbruch, die prägende Erfahrung von politischer und gesellschaftlicher Selbstwirksamkeit und das Krisenhafte, die verlorenen Hoffnungen, Utopien, Träume zusammenbindet. Wir haben vor drei Jahren mit Studierenden aus Freiburg und Leipzig ein Tandem-Seminar organisiert. Es ging um soziale Bewegungen und um Utopien in Ost und West. Wir waren zusammen auf dem Lichtfest zur teilnehmenden Beobachtung. Manche fanden das beeindruckend, manche waren irritiert, fanden es eventmäßig oder zu didaktisierend – also sehr unterschiedliche Reaktionen. Aber alle kamen mit Fragen zurück, mit Beobachtungen, mit Begegnungen, die sie hatten. Eigentlich bestand der spannende Moment darin, danach darüber zu reden. Die Veranstaltung gibt, wie auch Bücher und Filme, Impulse. Das Entscheidende ist, dass man weiter darüber redet und dadurch eine gemeinsame Sprache findet. Ich fände fürs nächste Lichtfest eine Riesentafel toll vom Bahnhof bis zur Post mit weißen Tischdecken und Kaffee und Kuchen für alle. Und wir reden und erinnern uns gemeinsam. Das wäre doch eine Form von lebendiger Erinnerung.


Das Einheitsdenkmal, der Umgang der
Stadt mit dem Erinnern an 89/90 und der Freiheit, ohne die daraus resultierenden Krisen mitzubetrachten – überzeugt Sie das als Leipzigerin?

Diese Form des Gedenkens – auch mit den Kerzen, das spiegelt sich nicht mit meinen Erfahrungen und das ist auch nicht das, was ich interessant finde am Erinnern. Ich denke, dass es aber trotzdem diese Erinnerungsorte für den Verständigungsprozess braucht. Ich fand zum Beispiel die Raumerweiterungshalle auf dem Leuschner-Platz (mit der Ausstellung »Das Denkmal ist …« im Herbst 2023, Anm. d. Red.) und den partizipativen Ansatz gut: Lasst uns darüber reden, was soll das für ein Denkmal sein? Vielleicht hätte es das schon vor 10, 15 Jahren gebraucht und da wäre es wahrscheinlich auch kontroverser gewesen.


Jetzt mal weg vom Erinnern zur gelebten
Stadt. Was finden Sie richtig schön und was richtig schlecht in Leipzig?

Die großen Hinterhofgärten in Schleußig, wo wir wohnen, finde ich richtig schön. Sie stellen eine Idylle her, die ich so in anderen Städten nicht kenne. Was ich Gästen gern zeige, ist der Blick aus dem Café im Uni-Riesen. Was ich nicht mag, ist, wenn bei den ersten Sonnenstrahlen massenhaft leicht bekleidete Menschen den Johannapark belagern. Mich beschäftigt, dass die Stadt immer voller wird, dass Brachen, die ihre Geschichte haben und die ich schätze, verschwinden, dass Lücken geschlossen werden, dass die Stadt verdichtet wird, dass es
eng wird. Das sieht man auf dem Wohnungsmarkt, aber eben auch im Alltag, im Park und an anderen Orten. Ich frage mich, ob wir an einem Punkt angekommen sind, an dem es kippt, oder ob die Stadt es weiter aushält. Lange habe ich gedacht, Leipzig hält viel aus, weil es immer Orte gibt, an die man ausweichen kann. Da bin ich mir aber gerade nicht mehr so sicher.


Biografie: Die Historikerin Anna Lux wurde 1978 in Leipzig geboren. Sie studierte hier und in Lyon Geschichte, Germanistik und Französisch. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über die Geschichte der Leipziger Germanistik zwischen Weimarer Republik und früher DDR. Seit 2011 pendelt sie zwischen Leipzig und Freiburg im Breisgau, wo sie an der Universität arbeitet. Zwischen 2018 und 2025 war sie Mitarbeiterin im Projekt »Das umstrittene Erbe von 1989. Aneignungen zwischen Politisierung, Popularisierung historisch-politischer Geschichtsvermittlung«, eine Kooperation zwischen den Unis Freiburg und Leipzig.


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