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»Menschen sterben auf der Straße und das ist irgendwie normal«

Streetworker Tino Neufert über die Straßensozialarbeit in Leipzig

  »Menschen sterben auf der Straße und das ist irgendwie normal« | Streetworker Tino Neufert über die Straßensozialarbeit in Leipzig  Foto: Enrico Meyer

Tino Neufert glaubt uns nicht, als wir ihm sagen, dass uns der Filterkaffee schmeckt, den er für uns gekocht hat. Zusammen mit Franziska Weller leitet er Safe, das Streetwork-Projekt des Suchtzentrums, das im Leipziger Norden und Westen mit wohnungs- und obdachlosen Menschen arbeitet. Im Büro in der Demmeringstraße beraten Neufert und sein Team normalerweise Menschen, die eine Wohnung oder einen Entzugsplatz brauchen – oder einfach zum Austausch vorbeikommen. Mit uns spricht Neufert darüber, wie er seit 15 Jahren auf der Straße unterwegs ist und wie sich Obdachlosigkeit in dieser Zeit in Leipzig verändert hat.

Herr Neufert, was ist das größte Problem von obdachlosen Menschen in Leipzig?

Vor einem Jahr war ich mit dem Hilfebus (mobiles Hilfsangebot, Anm. d. Red.) unterwegs. Es kam eine augenscheinlich obdachlose Person vorbei, die ich aber nicht kannte. Ich kramte gerade im Bus rum und fragte so ein bisschen lapidar: »Kann ich dir irgendwie helfen? Willst du einen Tee, Kaffee, Brötchen?« Der Mann guckte mich an, war richtig stinkig und meinte: »Ich brauche eine Wohnung!« Ich habe mich bei ihm entschuldigt. Also: Die Menschen brauchen Wohnungen, das ist das Hauptproblem. Und das kann ich nicht lösen.


Die Zahl der obdachlosen Menschen in Leipzig hat sich laut Sozialreport der Stadt zwischen 2022 und 2024 auf fast 1.000 verdoppelt. Woran liegt das?

Ganz klar: fehlende Wohnungen. Das ist der einzige Grund. Mir fällt nichts anderes ein. Es fehlen bezahlbare Wohnungen, die Menschen in schwierigen Lebenssituationen auch beziehen können. Und wenn es mal bezahlbaren Wohnraum gibt, kommen die Leute da nicht ran. Schon als Leipziger:in mit Arbeit ist es aktuell schwierig. Wenn man obdachlos ist, suchtkrank, psychisch krank oder eine Depression hat, einen Schufa-Eintrag oder Schulden – da nimmt dich niemand. Wohnraum muss geschaffen werden. Die Bedarfe dieser Menschen müssen anders abgedeckt werden als über eine freie, kapitalistisch orientierte Immobilienvermarktung. Das Problem existiert in ganz Deutschland. Bei uns sind die Zahlen eher stagnierend. Wir treffen 300 bis 400 verschiedene obdachlose und wohnungslose Menschen im Jahr.


Wie gelingt es Ihnen, Menschen in Wohnungen zu vermitteln?

Das ist sehr schwer. Die Stadt macht dahingehend schon viel, aber es reicht nicht. Es gibt das Projekt Housing First (s. kreuzer 2/2024, Anm. d. Red.), bei dem die Stadt die Anzahl an Wohnungen verdoppelt hat. Aber das sind trotzdem nur 50 Plätze, und die sind aktuell belegt. Wir bieten unseren Adressaten weiterhin an, sie auf die Warteliste zu schreiben. Dann kennt die Stadt zumindest den Bedarf. Wir arbeiten intensiv mit den Notübernachtungen zusammen, auch um das Angebot dort so zu gestalten, dass Menschen es in Anspruch nehmen.


Was kann Straßensozialarbeit denn grund
sätzlich leisten?

Wir sind Vermittler: Wir haben einen super Blick auf die Straße und können die Bedarfe weitergeben an Politik und Verwaltung, damit sie dort Angebote schaffen, wo es notwendig ist. Wenn ich nicht liefern kann, was die Menschen brauchen, bleibe ich absolut wirkungslos. Ich habe auch nicht soziale Arbeit studiert, um Schlafsäcke oder Brötchen auszugeben. Das hilft den Menschen in der Situation, ist aber eigentlich kontraproduktiv. Das ist Almosenarbeit wie vor 200 Jahren.


Wie sind Sie Straßensozialarbeiter geworden?

Ich bin seit 1997 ausgebildeter Sozialarbeiter, habe viele Jahre in Rumänien gelebt und dort mit deutschen Jugendlichen gearbeitet, mit sogenannten Systemsprengern. Als ich 2010 nach Deutschland zurückkam, meinte ein Freund zu mir, es gebe eine freie Stelle im Suchtzentrum, auf die ich mich bewerben solle. Ich hatte wenig Erfahrung mit Streetwork damals. Wir sind einfach auf die Straße und haben die Leute angesprochen, natürlich nach den Standards der Sozialarbeit. Das hat funktioniert: Learning by doing war das für uns. 2016 habe ich die Projektleitung übernommen.


Wie arbeiten Sie und Ihr Team?

Wir machen nur aufsuchende Arbeit, sind draußen unterwegs, mit dem Fahrrad oder Bus, um mit den Leuten in Kontakt zu kommen.


Es funktioniert also nur, wenn Sie die Menschen ansprechen?

Das ist klassische Straßensozialarbeit. Die Schwelle, dass man erst zu uns kommen muss, darf es nicht geben. Das ist notwendig, weil die Menschen sehr häufig das Vertrauen in Hilfe- und Unterstützungssysteme verloren haben. Das hören wir sehr oft. Wir sind einfach da, mit uns redet man erst mal nur. Selbst unsere Bürozeit ist niedrigschwellig: Menschen können ohne Anmeldung herkommen, einen Kaffee trinken und etwas essen. Die Kontaktarbeit ist das A und O. Ohne die Beziehung, die wir draußen aufbauen, funktioniert nichts. Das hört sich entspannt an, aber es ist nicht einfach.


Was ist die Schwierigkeit?

Man muss mir vertrauen können. Draußen bin ich sehr auf meine Person angewiesen. Ich muss echt sein, empathisch und kongruent. Wenn ich Quatsch erzähle, nimmt mich die Person vor mir nicht ernst. Und wer mich nicht ernst nimmt, vertraut mir nicht. Dann sind alle Folgehilfen ausgeschlossen. Warum sollte ein Mensch sich mir zuwenden, wenn er nicht weiß, dass ich ihn auch wirklich unterstütze? Manchmal dauert es ein oder zwei Jahre, bis jemand überraschend kommt und sagt: »Ich brauche Unterstützung.«


Haben Sie selbst Zeit gebraucht, um Ihren Job zu verstehen, die Person zu werden, die Sie auf der Straße sein müssen?

Ja, auf jeden Fall. Ich mache das schon eine Weile, aber die Arbeit mit der Peer-Gruppe (s. S. 28) war noch mal ein Aha-Erlebnis für mich. Das ist eine Arbeitsbeziehung auf absoluter Augenhöhe. Durch die Peer-Arbeit habe ich die Menschen noch mal auf eine ganz andere Art und Weise verstanden. Alle Leute, mit denen ich zu tun habe, haben eine Geschichte, krasse Sachen erlebt. Das sind Biografien, die viel spannender sind, als man sich das so denkt. Man redet eine halbe Stunde mit einem obdachlosen Menschen und plötzlich erzählt er dir, dass er zehn Jahre Saxofon-Unterricht hatte. Es ist viel vielfältiger, als man sich das auf den ersten Blick vorstellt. Der Blick öffnet sich im Laufe der Zeit.


Gibt es noch Menschen, die auf ihre Mitmenschen auf der Straße achtgeben?

Ja, Leipzig ist der Burgfried, auf dem wir sitzen. Irgendwie funktioniert es hier noch. Es gibt eine offene, linksliberale Zivilgesellschaft, die aufeinander aufpasst. Stadtverwaltung und Politik nehme ich da gar nicht aus: Alle jammern übers Geld, in den Haushalten wird gestrichen, aber Leipzig verdoppelt, wie bei Housing First (s. Infokasten), Angebote der Wohnungslosenhilfe.


Wie hat sich Ihre Arbeit seit 2010 verändert?

Wir haben in Lindenau zu zweit auf sogenannten »Trinkplätzen« angefangen. Menschen standen im öffentlichen Raum, vor Supermärkten, haben ihr Bier und Schnäpschen getrunken und kamen miteinander in den Austausch. Das waren unsere ersten Zielgruppen. Unsere Unterstützungsangebote wurden genutzt: Das Büro war voll. Wir konnten die Menschen erreichen und helfen. Damals waren Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit noch kein Thema. Im Laufe der Zeit wurde die Zielgruppe immer größer: Hinzu kamen psychisch kranke Menschen und Menschen aus dem EU-Ausland. Die sind hergekommen, haben hier gearbeitet, sind rausgeflogen und auf der Straße gelandet. Wir mussten uns neu einstellen: Sprachkompetenzen erlernen oder rechtliche Sachverhalte wie das Freizügigkeitsrecht (EU-
Bürger dürfen sich innerhalb der Europäischen
Union frei bewegen, leben und arbeiten, Anm. d. Red.). Einen Notarzt dazuzuholen war früher die absolute Ausnahmesituation, jetzt haben wir das einmal die Woche. Menschen sterben auf der Straße und das ist irgendwie normal. Es ist total irre, wenn man drüber spricht: Wir machen Sterbebegleitung auf der Straße. Kranke
Menschen werden aus Krankenhäusern in die Obdachlosigkeit entlassen, wovon auch die Notunterbringung überfordert ist. Früher hätten die gesagt: »Das können wir gar nicht leisten, die sind total krank, die müssen ins Krankenhaus.« Jetzt haben wir Menschen in der Obdachlosigkeit, die einen Katheter haben.


Was würde passieren, wenn es keine Straßensozialarbeit gäbe?

Überlegt lange. Das schlechte Gewissen wäre weg, vielleicht. (lacht) Soziale Arbeit wird ja immer in Zahlen auszudrücken versucht. Wie viele Kältetote gab es? Das nervt mittlerweile so. Als ob die Leute sonst nie sterben. Nur im Winter werden sie gezählt, wenn sie erfrieren. Aber die Menschen sterben das ganze Jahr über.

Neufert führt uns in ein Zimmer nebenan. In einer Ecke steht der Rollstuhl eines Verstorbenen, auf dem das Logo von Lokomotive Leipzig klebt. Zusammen mit seinem Team organisiert Neufert gerade eine Trauerfeier. Angehörige und Freunde haben Botschaften hinterlassen, mit denen sie sich verabschiedeten. »Papa, du warst mein Vorbild«, steht auf einem Schild. Neufert schmunzelt.

Sorry, man stumpft ein bisschen ab. Ich kann das nicht in Zahlen ausdrücken, was wir machen. Aktuell vermitteln wir sehr viel an Kliniken, damit Menschen noch mal an ihrer Sucht arbeiten können. Wenn wir Wohnungen hätten, könnten wir auch dorthin vermitteln. Das würde es alles nicht mehr geben. Aber das klingt jetzt auch so, als würden die Menschen das gar nicht selbst hinkriegen.


Und das ist nicht der Fall?

Es gibt Netzwerke, Gruppen, in denen sich unterstützt wird. Von außen denkt man sich vielleicht erst mal: Um Gottes willen. Besonders wenn Menschen alkoholisiert sind, ein bisschen lauter, dann wirkt das erst mal bedrohlich. Aber beim täglichen Kontakt stellt man fest: Es ist viel mehr. Das ist ein soziales Miteinander, man hilft sich auf verschiedene Art und Weise.


Wie hat die Stadt sich hinsichtlich der Obdachlosigkeit verändert?

Es ist viel präsenter. Ich bekomme pro Woche drei bis vier Anrufe von Menschen, die sich Sorgen machen, weil jemand in ihrem Hausflur schläft oder in einem Gästewagen im Wagenplatz. Studis rufen an, die bei Freunden leben, sich zerstritten haben und nicht wissen, wohin sie sollen.


Im Lene-Voigt-Park ist über die letzten Monate ein großes Camp entstanden. Wie gehen Sie damit um?

Obdachlose Menschen haben ihre Sachen immer dabei, so kann es zu solchen Lagern kommen. Es ist nicht unser Ziel, so was aufzulösen. Wenn Oma Hilde bei uns anruft und sagt: »Bei mir im Hausflur schläft jemand«, dann antworte ich immer: »Danke für den Hinweis, aber seien Sie sich bewusst, wenn wir die Person aufsuchen, dann kann es passieren, dass sie nur einen Schlafsack und eine Thermoskanne bekommt.« Wir machen Überlebenssicherung und bieten unsere Hilfe an. Aber wir vertreiben nicht, das ist definitiv nicht unsere Aufgabe.


Geräumt wird trotzdem manchmal.

Das Lager im öffentlichen Raum ist verboten. Das heißt: Früher oder später setzt das Ordnungsamt, vielleicht auch mit der Polizei, dieses Ordnungsrecht durch. Es werden nie die Menschen geräumt, sondern immer nur die Hinterlassenschaften wie Zelte oder Einkaufswägen. Ich nehme wahr, dass Leute sagen: »Das kann nicht sein, dass sich Menschen so im öffentlichen Raum einrichten.« Ich sehe aber auch, dass sie das machen müssen. Was sollen sie denn tun? Die Rückzugsmöglichkeiten für Obdachlose werden weniger: Brachen, Abrissgebäude und Orte, an denen man sich entspannter aufhalten kann, verschwinden.


Fehlt der Gesellschaft das Verständnis für obdachlose Menschen?

Das Ordnungsamt, die Polizei und die Verwaltung haben hohe Akzeptanz für die Situation, in der sich die Menschen befinden, auch für unsere Arbeit. Es wissen eigentlich alle, mit denen ich zu tun habe: Jeder Person kann das passieren. Insgesamt gibt es aber seit mehreren Jahren schon eine … Neufert überlegt und seufzt… na ja, die Gräben werden tiefer. Es wird schwieriger, abgegrenzter. Ich nenne das immer Trumpismus oder Amerikanismus: Du bist selbst schuld an deiner Situation und wenn du da nicht rauskommst. Wir haben uns als Gesellschaft und als Gemeinschaft dazu verpflichtet, füreinander zu sorgen. Das kommt heute so überhaupt nicht mehr an. Das war früher anders.


Wie macht sich das in Ihrer Arbeit bemerkbar?

Auch die Menschen, mit denen wir arbeiten, unsere Adressaten, sind von dieser Denkweise nicht ausgenommen. Als die rechtspopulistische Bewegung so stark wurde, haben wir angefangen, auf der Straße sehr viel aufzuklären, und versucht, Demokratisierungsprozesse wieder in Gang zu setzen. Aber niemand nimmt wahr, wie viel politische Arbeit wir auf der Straße leisten. Wir
lassen das nicht einfach so stehen, versuchen mit Adressaten zusammen eine andere öffentliche Meinung herzustellen. Ich wende mich dazu auch an die Peer-Gruppe und bitte die, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Wir sind einfach stärker auf ein Miteinander angewiesen.


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