anzeige
anzeige
kreuzer plus

»Ich unterhalte mich total gerne mit Leuten«

Musiker Florian Sievers aka Das Paradies über sein Studio als Refugium, ungesunden Perfektionismus und seine Freude am Uneindeutigen

  »Ich unterhalte mich total gerne mit Leuten« | Musiker Florian Sievers aka Das Paradies über sein Studio als Refugium, ungesunden Perfektionismus und seine Freude am Uneindeutigen  Foto: Christiane Gundlach

Zwischen allerlei Synthesizern, Gitarren und anderen Instrumenten sitzt Florian Sievers auf der Couch seines Studios in Plagwitz. Er hat eigentlich viel um die Ohren, steckt gerade in den Vorbereitungen für die anstehende Tour, wir warten mit dem Interview aber trotzdem noch kurz, bis die Kaffee-Maschine warmgelaufen ist und zwei dampfende Tassen vor uns stehen. Seit mehr als 15 Jahren ist Sievers fester Bestandteil der deutschen Indie-Landschaft. Zunächst mit der Band Talking to Turtles, seit 2017 auch mit seinem Solo-Projekt Das Paradies. Mit diesem hat er gerade sein drittes Album »Überall wo Menschen sind« veröffentlicht, das er im Dezember auch im Schauspiel Leipzig präsentieren wird.

Auf Instagram schreiben Sie, dass Interviews oft herausfordernd für Sie sind. Da wir gerade ein Interview führen: Warum das?

Gute Frage. Ich versuche es mal nicht so kompliziert zu machen. Ich unterhalte mich total gerne mit Leuten. Ein Interview wiederum ist sehr gerichtet, da wird man eher befragt. Das empfinde ich ein bisschen wie ein lautes Denken, vor allem wenn es Fragen sind, die ich so noch nicht gestellt bekommen habe. Lautes Denken ist in einem Gespräch schön, weil man sich dann austauscht und auch noch mal korrigieren kann. In einem Interview ist es dann halt gesetzt. Ich denke danach manchmal: Moment, habe ich das gerade so beantwortet? So oder so wäre es doch richtiger oder mit ein bisschen mehr Tiefenschärfe gewesen. – Ich freue mich natürlich, dass ich eingeladen werde, weil es ja auch eine Wertschätzung für die Musik ist, merke aber auch, dass mir diese Rolle als Botschafter für die eigene Musik manchmal nicht so liegt. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich dahinter gerne ein bisschen mehr zurücktreten.


Weil es Ihnen dann zu sehr um Ihre Person geht und zu wenig um die Musik?

Ja. Popmusik funktioniert natürlich viel über Personifizierungen und Künstler:innen als Projektionsfläche. Ich glaube aber, ich bin nicht so ganz dafür gemacht, so eine große Sichtbarkeit für mich selbst zu erzeugen. Das ist ja das, was man eigentlich machen müsste – sich einen Raum nehmen und sagen: Schaut, das bin ich und das ist meine Musik und ich finde das toll. Das fällt mir ein wenig schwer. Aber ich will meine Musik auch nicht im Stich lassen, indem ich mich selbst zu weit zurückziehe.

Sie sind seit fast zehn Jahren in diesem Studio in Plagwitz und haben hier den größten Teil Ihrer Paradies-Alben aufgenommen. Wie kann man sich die Arbeit hier vorstellen?

Für mich ist der Ort ein Refugium, wo ich fast jeden Tag bin. Ich verbringe die Vormittage meist mit einer Art Büroarbeit, um die Dinge abzuarbeiten, die mich davon abhalten könnten, hier eine gute Zeit zu haben. Bei den Paradies-Alben entwickelt sich dann irgendwann eine gewisse Routine, zumindest, was das Arbeiten angeht. Ich sammle verschiedene musikalische oder textliche Ideen. Dann picke ich eine Idee raus und versuche mich so lange es geht davon treiben zu lassen, ohne zu viel nachzudenken. Entweder indem ich die verschiedenen Instrumente aufnehme oder indem ich an Textfragmenten arbeite. Ich genieße dabei die Möglichkeit, mit mir alleine zu sein und Dinge auch mal zu verwerfen, ohne gleich jemanden zu enttäuschen.

Stimmt es, dass Sie vor längeren Reisen ein Foto von Ihrem Studio im Ist-Zustand
machen, damit Sie dann immer mal draufschauen können?

Ja, ich weiß, das klingt nicht ganz gesund, aber es ist wirklich nicht so Workaholic-mäßig. Für mich ist es eher ein Zeichen, dass ich das wertschätze, was ich habe. Und vielleicht – ohne jetzt zu pathetisch werden zu wollen – lese ich es auch als den Wert, den das Musikmachen insgesamt für mich hat: auch als eine Art von Refugium. Tatsächlich spüre ich manchmal so eine komische emotionale Verbundenheit zu den Gegenständen, die hier drin sind. Das ist vielleicht wirklich nicht ganz gesund (lacht).

Gerade haben Sie das dritte Paradies-­Album veröffentlicht: »Überall wo Menschen sind«. Wie ist das, es nach dieser längeren Phase des isolierten Arbeitens raus in die Welt zu geben?

Den exakten Moment des Veröffentlichens kann man ja mittlerweile in Form des Digitalen sehr gut festmachen: null Uhr an einem Donnerstag, weil am Freitag immer die Musik rauskommt. Den Moment mag ich sehr gerne: zu wissen, dass die Musik dann bei den Leuten ist. Das ist super. Auch im Sinne des englischen Wortes Release, also davon befreit zu sein, es loszulassen. Nach dem Release freue ich mich auf die Tour, auch wenn es mir manchmal schwerfällt, mich in die Konzertsituation reinzubegeben. Aber ich genieße es trotzdem,
mit den Leuten dort in Kontakt zu kommen. Das ist mir in den letzten Jahren bewusster geworden, wie wertvoll das eigentlich ist.

Das neue Album startet mit dem Song »Florian gibt auf« gleich mit einer Kapitulation. Auf Ihrem Debüt 2018 sangen Sie noch von einer »goldenen Zukunft«. Schauen Sie mittlerweile weniger optimistisch auf die Welt?

Wie sich die Welt so entwickelt hat in den letzten Jahren, gibt natürlich viele Gründe, weniger optimistisch zu sein. Aber ich habe das Gefühl, dass meine Perspektive während der letzten drei Alben gar nicht so anders war. Auch da sehe ich in den Stücken eher die Zwischentöne. Die sind für mich lauter, auch schon auf dem ersten Album, als der vermeintliche Optimismus. Und bei dem Stück »Florian gibt auf« muss ich noch kurz Bezug nehmen auf den zweiten Song des Albums: Der heißt »Alles schmeckt nach Abschied«, und das ist ein Buchtitel von Brigitte Reimann. Diese Zeile hat mich lange begleitet und auch erleichtert. Ich hatte das Gefühl, dass da natürlich die Phrase »alles ist vergänglich« drinsteckt. Aber auch etwas Dringlicheres im Sinne von: »Let go«, also Dinge loslassen, aber auch Dinge ganz aktiv verlernen, etwa Denkmuster, die einem nicht guttun. In dieser Gedankenwolke ist auch das Stück »Florian gibt auf« entstanden, weil ich eine ähnliche Erleichterung bei der Formulierung »Ich gebe auf« empfunden habe. Und jetzt steckt da mein Name in dem Titel, gemeint bin aber nicht nur ich. Sondern es ist eher eine Beobachtung von einem Zu-viel-Wollen und Zu-viel-Können – dass so vieles erreichbar ist und so viel verfügbar ist – und der Frage, wo dieses Immer-mehr-Wollen eigentlich herkommt, ob das etwas Intrinsisches ist oder doch eher etwas Externes.

In Ihren Songs wird grundsätzlich viel mit Widersprüchen und Ambivalenzen gespielt. Was reizt Sie so sehr am Uneindeutigen?

Also wenn eine Zeile auf dem Papier steht, die als Imperativ formuliert ist, dann versuche ich meistens impulsiv und reflexhaft, das zu brechen. Weil ich mir dann denke: Das kann in den meisten Fällen nicht so sein. Und dass da vielleicht ein bisschen mehr an Erkenntnis oder auch die nächste spannende Frage drinsteckt. Und ich glaube, dieses Gefühl der Uneindeutigkeit entsteht dadurch, dass ich einen Impuls dazu habe, die Dinge, mit denen ich mich beschäftige,
umzudrehen und von allen Seiten zu betrachten. Bei mir entsteht im Alltag oft so eine selektive Wahrnehmung für kurze Phrasen oder für Bilder, die ich mir notiere. Und meistens macht sich mein Kopf fast von alleine auf die Suche, was für ein Lied hinter dieser Zeile stecken könnte.

Das empfinde ich ein bisschen so, als wenn ich einen dunklen Raum mit einer Taschenlampe ausleuchten würde. Und dann tauchen immer neue Zeilen und Eindrücke auf. Dadurch, dass ich ja nur der Ausleuchter bin, stehen sich dann manchmal sehr unterschiedliche Zeilen gegenüber. Am Ende ist es auch eine Herausforderung, die Gleichzeitigkeit der Dinge auszuhalten. Dass zum
Beispiel etwas Schlimmes auch im Sonnenschein passiert. Und deswegen ist manchmal der dystopische Text mit einer vermeintlich leichten Melodie dazu doch gar nicht so eine große Reibung. Das fühlt sich oft schlüssiger an, als mit der Musik noch genau in die Kerbe der Texte reinzuhauen.

Auf dem Album haben auch diverse Gastmusikerinnen und Gastmusiker mitgewirkt, etwa Locas in Love, Damian Dalla Torre und Michael Mühlhaus. Wie ist die Zusammenarbeit zustande gekommen?

Es ist in der letzten Phase meiner Alben meistens so, dass aktiv Leute dazukommen. Das war bei der letzten Platte zum Beispiel auch Damian, ein ganz toller Jazzmusiker. Und das ist immer ein tolles Arbeiten, weil ich das Gefühl habe, dass wir uns fast wortlos verstehen. Er spielt immer das, was ich meine oder was ich mir vorgestellt habe. Und mit Stefanie Schrank und Björn Sonnenberg von Locas in Love war ich in Kontakt wegen einer anderen Sache. Ich bin eh Fan der Band und dann hat sich das so ergeben. Michael Mühlhaus (ehemaliger Keyboarder der Band Blumfeld, Anm. der Redaktion) und ich haben uns über ein paar Ecken kennengelernt. Da ich auch Blumfeld-Fan bin, habe ich bei dem Stück »Alles schmeckt nach Abschied« gedacht: Okay, dieses Lied braucht Strings oder irgendeine Art von Keys, die Michael wahrscheinlich genauso hört. Und er wird dem Lied sozusagen diese Nuance und Tiefe geben, die es noch braucht. Und genau so ist es dann tatsächlich passiert.

Sie haben diesbezüglich mal von einem Kontrollwunsch-Abgewöhnungsprozess gesprochen.

Perfektionismus kann bis zu einem gewissen Grad tolle Sachen entstehen lassen. Ab einem bestimmten Punkt wird es dann aber unangenehm für einen selber und auch für die Leute, mit denen man zusammenarbeitet. Ich habe in der Vergangenheit sowohl die positiven als auch die negativen Seiten davon an mir beobachtet. Vor allem bei den negativen habe ich gemerkt, wie viel Energie es kostet, sich so in Details zu verlieren. Manchmal sind diese Details auch wirklich entscheidend für das Gesamtbild. Ich hatte mir aber für das neue Album vorgenommen, ein bisschen genauer darauf zu achten, dass ich mich wohlfühle bei der Arbeit. Und dass ich mich nicht zu sehr durch meinen eigenen Perfektionismus in so ein Loch reinarbeite.

Und, hatten Sie Erfolg?

Ich glaube, es ist ganz okay gelaufen. Ich verbinde auch mit den anderen Alben einen tollen Arbeitsprozess, aber gerade bei der aktuellen Platte hatte ich das Gefühl, dass ich es mir und den Songs ein bisschen leichter gemacht habe. Ganz vieles, was in der allerersten Phase des Albums entstanden ist, ist so auch auf der Platte geblieben, manchmal sogar fast unverändert. Und das ist etwas, das ich mir aufoktroyiert habe, immer wieder den Test: Kann es nicht einfach so bleiben? Was ist, wenn das jetzt einfach das Finale ist und du dich nicht noch zwei Monate mit dem Song beschäftigst?

Sie leben seit gut 16 Jahren in Leipzig. Wie haben Sie als Musiker die Entwicklung der Stadt in dieser Zeit wahrgenommen?

Ich habe die Stadt immer so wahrgenommen, dass sie einen relativ niedrigen Puls hat, auch verglichen mit einer Stadt wie etwa Berlin. Aber es ist trotzdem eine Stadt, in die viele Menschen kommen, um Musik zu machen oder andere tolle Dinge. Und diese Mischung genieße ich sehr. Trotz der negativen Entwicklung, die es natürlich auch gab, wenn man jetzt auf die Mietpreise
schaut und das Wenigerwerden der Freiräume, habe ich das Gefühl, dass es einfach viele tolle Leute in die Stadt zieht, mit so einer Lust, was auszuprobieren. Das stimmt mich irgendwie optimistisch. Ja, ich habe das Gefühl, es hat sich was verändert: Es ist spannender geworden.

Haben Sie in Ihrer Arbeit als Musiker diese weniger werdenden Freiräume konkret gespürt?

Ich merke das in meinem Umfeld schon. Da können wir auch nur hier auf dieses Areal schauen, auf dem ich meinen Raum habe. Den Weg runter an der Erich-Zeigner-Allee ist das große Gebäude saniert worden. Es kommt sicher drauf an, wie und ob das dann noch ein bezahlbarer Raum für Kunstschaffende und andere bleibt. Die Realität sagt dann sicher oft nein. Ich wollte hier innerhalb des Hauses mal umziehen und hab in dem Zuge erfahren, dass in absehbarer Zeit auch hier saniert wird. Bei dem Thema werde ich ungewöhnlich sauer, weil ich mir denke: Es war ja anhand von Berlin und Hamburg und anderen Städten total absehbar, was mit den Mietpreisen insgesamt und Freiräumen passieren wird, wenn man nicht frühzeitig Wege findet, das mindestens abzubremsen. Ich bin jetzt kein großer Experte, was kommunale Politik angeht, und übersehe sicher auch vieles, aber mein Eindruck ist: Man hat das eigentlich einfach passieren lassen. Mittlerweile gibt es, soweit ich weiß, für Wohnraum zumindest in einigen Vierteln Regularien unter dem Begriff »Milieuschutz«. Das fühlt sich verspätet an. Und Ateliers etc., vor allem wenn sie nicht gerade weit draußen sind, verlieren weiterhin leicht gegen das Argument Gewerbesteuer. Das scheint mir fahrlässig.

Auf Ihrer aktuellen Tour spielen Sie in auffällig vielen Theater-Locations. In Leipzig etwa in der Diskothek des Schauspiels. Gibt es einen Grund dafür?

Gute Frage. Ich freue mich sehr, dass wir in Leipzig in der Diskothek spielen. Da hatte ich ganz konkret Lust drauf. Theaterräume haben ja auch immer so eine Konzentriertheit auf das, was dort vorne passiert. Und irgendwie habe ich mir diese Konzentriertheit für die Songs gewünscht auf der Tour. So eine Umgebung hat natürlich einen Einfluss darauf, wie man selber spielt, aber
auch, wie man die Musik hört, die gespielt wird. Vielleicht habe ich auch ein bisschen die Hoffnung, dass mir das auf der Bühne hilft. Bei einer Clubbühne hat man manchmal das Gefühl, man müsste die Leute bei sich halten, über Entertainment oder über die Moderation. Und ich habe zumindest die romantisierte Vorstellung, dass man das auf einer Theaterbühne nicht so sehr muss.


> Das Paradies: 11.12., 20 Uhr, Diskothek/Schauspielhaus Leipzig


Biografie: Florian Sievers wurde 1983 in Halle an der Saale geboren und wuchs in der mecklenburg-vorpommerschen Provinz auf. In Rostock gründete er 2007 mit Claudia Göhler (heute: Sievers) die Band Talking to Turtles, ein Jahr später kamen die beiden nach Leipzig. Seit 2017 hat Florian Sievers mit dem Solo-Projekt Das Paradies drei Alben und einige EPs veröffentlicht. Er arbeitet außerdem als Produzent (u. a. für Sorry 3000 und Resi Reiner) und als Theatermusiker (u. a. Produktionen am TdJW). Zusammen mit dem Musiker Albrecht Schrader betreibt er das Musiklabel Krokant.


Kommentieren


0 Kommentar(e)