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»Von den Toten lernen oder Kafka in Formalin«

Eine anarchopoetische Trashgeschichte von Kurt Mondaugen (1965-2007)

  »Von den Toten lernen oder Kafka in Formalin« | Eine anarchopoetische Trashgeschichte von Kurt Mondaugen (1965-2007)

Ungeheuerlichliches ereignet sich in Plagwitz. Mitte August wurde eilig die Ausstellung »Von den Toten lernen« abgebaut und über Nacht nach Bad Kissingen verfrachtet. Was war geschehen? Sollte die schaurig-schöne Schau nicht bis Dezember in der Messestadt bleiben? Inzwischen scheint klar: Die Ausstellungsmacher haben Wind bekommen – von dieser Veröffentlichung! – und ergriffen panisch die Flucht ...

Ungeheuerlichliches ereignet sich in Plagwitz. Mitte August wurde eilig die Ausstellung »Von den Toten lernen« abgebaut und über Nacht nach Bad Kissingen verfrachtet. Was war geschehen? Sollte die schaurig-schöne Schau nicht bis Dezember in der Messestadt bleiben? Inzwischen scheint klar: Die Ausstellungsmacher haben Wind bekommen – von dieser Veröffentlichung! – und ergriffen panisch die Flucht ...

Freitagabend – kurz nach sieben: Bier alle! – Muss mal raus aus der Wohnung! Langzeitarbeits-losen-Spaziergang zur Videothek. Werd ja sonst asozial ... wie Maulwurf in Kafkas »Bau« ... – kenn ich noch ... früher mal Germanistik und so – lange her! Gibts das eigentlich als Video? – Nö! – Dann 'n andern Gruselthriller! Her damit! – Bezahlt, eingepackt – und wieder zurück nach Haus! Hausflur: Post ausm Briefkasten. Treppe rauf. Wohnung! Bier auf, Sessel, Fernbedienung – Kiste an! – Gerade Tagesschau: Neuer PISA-Test! Diesmal: Biologie! – Ergebnisübersicht: – Leipziger Kids auf letztem Platz! – Europaweit! Alle gehirnamputiert, irgendwie! Panikaufnahmen aus dem Schulverwaltungsamt! Zoom und Schnitt: Kurz atmiger Bürgermeister fistelnd vorm Mikrofon: »... unsere Schüler ... besonders schlecht in menschlicher Anatomie. Deshalb ... wir kurzfristig ... ähem ... Kontakt mit ... Arbeitsagentur und ... ähem ... Gunther von Hagens! ... freue mich, mitteilen zu können, dass ... ähem ... pädagogisch wertvolle Ausstellung‚ Körperwelten – echte Körper statt falsche Gebisse' ... ab Montag im Felsenkeller Plagwitz zu besichtigen ... Dauer: drei Wochen ... alle Biologielehrer der Stadt ... dienstlich angewiesen ... Ausstellung mit ihren Klassen zu besuchen!« Impuls: Fernbedienung im Aquarium versenken! PISA-Schock für die Fische oder so. In was für einer Stadt lebe ich eigentlich!? Kiste aus und Briefpost aufgerissen! – Absender: Hartz-IV-Agentur: »Sehr geehrter ALG II-Veteran der ersten Stunde, ... freuen uns ... mitteilen zu können, ... Sie zusammen mit 99 anderen Bewerbern ... für ein dreiwöchiges Ein-Euro-Praktikum vorgesehen ... Tätigkeitsbeschreibung: Hilfskraft für Ausstellungsaufbau und -präsentation Industriezweig: Verarbeitendes Gewerbe Arbeitskleidung (mitzubringen): Drillich, vorzugsweise längs gestreift Arbeitsantritt: Montagfrüh, 2.30 Uhr! Zschochersche Straße, Felsenkeller, Plagwitz Maschinell erstellte freundliche Grüße usw.!« Kein Sozialschmarotzer sein wollen! Also schnell Wochenende abgewartet – und dann: hin zum Felsenkeller! Kurz vor halb drei montagmorgens ... – warten schon die anderen da: Männer, Frauen, Schwangere und Greise, alles querbeet Hartz IV, ich mittendrin. Plötzlich: Brummen, Dröhnen, Motorinferno, Reifenquietschen: Elf fleischfarbene Sechzigtonner! Stoppen genau vorm Hauseingang! Chef raus aus vorderstem Fahrerhaus und mit Megafon volle Power: alle unsere Namen rausgebrülllt! Ich – Arbeitstrupp 3 – mit neun anderen! – Eingeteilt und gleich ran an Laster 3! Ladeklappe runter: Glasvitrinen – Leichen drin – sauschwer das Ganze, bruchsicher und Kanten, scharf wie Rasiermesser! Zu zehnt gerade so zu stemmen. Gebrüll vom Chef! – Wir: das erste Ding runtergewuchtet, Felsenkellertreppen hoch – rein ins Foyer. Affenarme, Leguanzunge, Quasimodo-Rücken! Keuchstöhnfluch! Pressschrei!: »Kann nicht mehr!« »Schnell runter!« – Eine Seite: jemand fallengelassen! Plötzlich! Ding, kippt blöde um! Volle Kanne! Einer nicht aufgepasst: genau drunter: Kopf, Brust, Matsch! – Glück im Unglück: Keine Schmerzen mehr gehabt! Wenigstens! »Weitermachen!« – Chef: Schnellsprecher, Über-Leichen-Drüberweg-Geher! – Nicht wundern: Turbokapitalismus eben! Und schon weiter: nächste Vitrine, und übernächste! Bei vierter Vitrine – wieder Unfall – gleich zwei tot diesmal (der in Vitrine nicht mitgerechnet, klar): Vitrine dumm auf Kante gefallen – zwei mit Hals drunter – Köpfe sauber abgeschnitten! Blick zur Seite: Auch bei andern Trupps Schnittabfälle – Hände, Arme, Beine, Köpfe. Nichts Besonderes also, das Ganze! – »Weitermachen!« Nächste Vitrine: Bei Treppenaufstieg – Schieflage! – Ins-Rutschen-Kommen – das Ganze! Loslassen! Stufen runterpoltern! – Schon wieder zwei tot bei uns – nur noch zu fünft! – Wird jetzt aber alles leichter, weil: bloß noch leere Vitrinen! Wieder eine runtergewuchtet vom Laster. – Zwei neben mir nicht aufgepasst oder: Arme schon schlapp. – Und: Cut! – Das wars! – Jetzt nur noch zu dritt! Erinnerung – Kindheit: »Zehn kleine Negerlein«! – Mitgesungen damals – politisch nicht korrekt – von heute aus gesehen, rassistisch leider – war aber so. Jetzt selbst dunkelhäutig irgendwie! – Vom Gefühl: Tiefschwarzneger! Keuchhustenstöhnschrei! Endlich: geschafft! – Felsenkellersaal: alle Vitrinen gleißend im Scheinwerferlicht! – Atmosphäre ganz neu – wie Sommersonne in Italien – Pisa! Von den Toten lernen! – Komisch: ein paar Vitrinen immer noch leer! Aus Langeweile nachgezählt: 30 ohne Füllung! Megafon-Chefansage: Alle wieder raus! – Schnell die Arbeitsunfälle einsammeln und reinschmeißen in leeren Sattelschlepper! Aus Langeweile mitgezählt: 70 Rümpfe, dazu 150 Einzelteile: Köpfe, Hände, Füße, Arme! – Kopfschütteln! – Hätte mir ja auch passieren können! – Nicht nachdenken weiter! – Megafon schon wieder an: »Alle bei Sattelschlepper 11 anstellen – hinten an Ladeluke – Reihe bilden! Nacheinander! – Bisschen Beeilung!« Einzeln eintreten in Laderaum! – Ich – Nummer 12! – Ziemlich dunkel hier! Stimme sagt: »Klamotten aus!« Nackig! Zittern! Und dann rein ins Schwimmbecken – mit Kopfsprung! Eintauchen ins Becken – Wasser schmeckt irgendwie sauer, Formalin-sauer! Schwimmzüge in Formalinbad, Konservierungsstoffe diffundieren in meinen Körper (- heißt doch so, oder?)! ... Bewegungen immer schwerfälliger, Gliedmaßen erstarren! Pharaogefühl! – Vor innerem Auge: Mumie Ramses II. – So ähnliches Feeling damals! Bestimmt! Ausfall von Körperfunktionen! Gehirn arbeitet noch: In Abnippelnähe – vieles besser verstehen vom Leben – sagt man ja so: Jetzt auch bei mir: Erleuchtung! Begreifen der Stellenbeschreibung: »Verarbeitendes Gewerbe« – einer der leeren Glaskästen im Felsenkeller – schon für mich reserviert also! Letzter Gedanke: Endlich kein Sozialschmarotzer mehr – endlich zu was nütze sein! Raus aus der Arbeitslosigkeit und rein in die Vitrine! – Was für die Bildung tun! Endlich! – Ich: Bildungsbürger! – Kafka in Formalin!


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