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off campus – Die sechste Woche

Der neue Blog auf kreuzer online von Tobias Bernet. Teil 6: UFO-Invasion

  off campus – Die sechste Woche | Der neue Blog auf kreuzer online von Tobias Bernet. Teil 6: UFO-Invasion

Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online.

Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online.

Teil 6: UFO-Invasion

Das Ding passt nicht so ganz in die eher gräuliche Umgebung. Man kann sich eindrücklich vorstellen, wie dieses UFO des schönen Scheins plötzlich hier gelandet ist, irgendwann nach dem »Beitritt der vormaligen DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik« (um es zu Beginn von zwei Jubiläumsjahren mal vorsichtig-korrekt zu formulieren): das Allee-Center in Grünau.

Da beugten sich die Shopping-Manager wohl händereibend über ihre Pläne und dachten »Ei, jetzt haben die Ossis gleich ihr ganzes Land abgeschafft, weil sie die Nase derart voll hatten vom Keine-Ananas-Haben; jetzt sollen sie kriegen, was sie so vermissten – und wie!« Und sie pflanzten eine Mall dahin, wie sie keine amerikanische Fernsehserie je glitzernder zeigte.

Ich war extra hinausgefahren in die Plattenbau-Großsiedlung, weil im Stadtentwicklungs-Seminar, das ich an der Uni besuche, eine Sitzung darüber anstand und ich in meiner kurzen Leipziger Zeit bis dahin noch nie da gewesen war. Sozialwissenschaftstourismus. Gehört hatte ich aber schon einiges über dieses »Ghetto«. Und wie so oft bei solchen Negativzuschreibungen, die man einfach irgendwie »mitkriegt«, erinnere ich mich überhaupt nicht mehr an deren konkrete Quellen. Außer an eine: meine ehemalige Mitbewohnerin Esther aus Zürich, die mich besuchen kam. An einem Wochentag, an dem die ganze WG-Belegschaft dem Studium zu obliegen hatte und deshalb nicht um Gäste-Unterhaltung besorgt sein konnte, empfahlen wir ihr als Individualprogramm unseren Lieblingsspaziergang: den Karl-Heine-Kanal entlang zum Lindenauer Hafenbecken, diesem Mekka der Leipziger Leere-Romantik. Als sie bei diesem Unterfangen vom Weg abkam, setzte sie sich zwecks Rückkehr in irgendwie verortbare Gefilde einfach in die nächste Tram, der sie begegnete. Bevor diese sie aber nach Lindenau zurückbrachte, fuhr sie zuerst einmal stadtauswärts, was Esther eine Panoramafahrt durch Grünau einbrachte, inklusive einer Live-Performance von zwei besonders harten Ghetto-Teenies in der Bahn (»mein Cousin dealt aber wirklich mit Drogen«). Ihr Fazit, an uns Altbaugebiet-Leerstandsnutzer gerichtet: »Wenn ihr wirklich tough wärt, wärt ihr dahin gegangen!«

Nun bin ich zumindest als Besucher mal da, und kaufe im Allee-Center-eigenen Real-Supermarkt gleich ein, auf dass das Sozialvoyeuristische mit dem Nützlichen verbunden werde. Vor mir an der Kasse steht eine Frau mit zwei Mädchen. Sie sieht arg verlebt aus dafür, dass die Kinder eigentlich noch ganz klein sind. Eine Erklärung dafür könnte der Blick auf das Förderband der Kasse liefern: Fertiggerichte und Pommes Frites liegen da neben einer großen Buddel Eigenmarken-Schnaps. Ich hoffe, der Grund dafür, dass sie Obst und Gemüse links liegen gelassen hat, ist, dass sie es lieber in einem anderen Geschäft kauft.

Als Ethnologe interessiert einen auch die so genannte »materielle Kultur« einer Gesellschaft. In diesem Sinne habe ich vor einer Weile angefangen, Kassenzettel zu sammeln, passende Artefakte einer unbestreitbar konsumorientierten Epoche. Es lässt sich an ihnen so einiges ablesen. So heißt es bei Real: »Ihnen entgehen mit diesem Einkauf 30 PAYBACK Punkte. Jetzt anmelden und Punkte sammeln.« Sofort, dummer Pfennigfuchser, dann kannst du noch mehr sparen! Bei Galeria Kaufhof hingegen steht um einiges dezenter: »Für diesen Einkauf hätten Sie mit der PAYBACK Karte 30 Punkt(e) erhalten! (außer für Bücher)« Unsere distinguierte Kundschaft liest nämlich! Und hat diesen Rabatt-Krampf eigentlich auch gar nicht so sehr nötig. (Aber dass zwischen den aufdringlich groß geschriebenen Markennamen eures Punktesystems und die »Punkt(e)« in gutem Deutsch immer noch ein Bindestrich gehörte, scheint auch ihr nicht zu wissen...) Ich könnte hier zum dritten Mal in Folge Bourdieu zitieren.

Einige Wochen später merke ich, dass das Allee-UFO wohl nur ein kleines Beiboot ist, eine Vorhut sozusagen. Das Mutterschiff der Konsum-Invasion ist vor den Toren der Stadt gelandet. Nova Eventis heißt es und es ist ein Monstrum von wahrhaft Furcht erregenden Ausmaßen. Zur Adventszeit werden dort Weihnachtslieder über die hauseigene Verstärkeranlage gejagt, gespielt von einem tatsächlich physisch vorhandenen Piano-Streicher-Trio in professioneller Frack-Aufmachung. »Oh Tannenbaum«, drei Wiederholungen ohne Variation, dann Pause. Falls das echte Musiker sind, wovon bedauernswerterweise auszugehen ist, sollte sie jemand fotografieren und das Bild beim Wikipedia-Artikel »Überqualifikation« hochladen.

Was aber habe ich im »Ghetto« Grünau alles in allem so gesehen? Auf den ersten Blick: eine Großsiedlung, wie es sie so ähnlich auch im »Westen«, inklusive der Schweiz, gibt. Auch der Kommilitone, der im Seminar schließlich den Vortrag über den »Stadtumbau« in Grünau hält und dies sehr kenntnisreich tut, weil er selber da aufgewachsen ist, scheint ziemlich gesund davongekommen zu sein.

Dazu passt folgender Mikro-Einakter vor unserer Haustür, den mir mein Mitbewohner Constantin kurz nach meinem Forschungsausflug erzählt:

DHL-Botin (breites Sächsisch): »Ah, da macht tatsächlich einer auf! Ich war gar nicht sicher, ob ich überhaupt klingeln soll, das sieht ja so kaputt aus hier!«

Constantin (bemüht gutes Hochdeutsch mit nur noch schwachem Schweizer Einschlag): »Doch, doch, wir wohnen hier.«

Botin: »Nee, also das könnt’ ich nicht. Ist ja total heruntergekommen hier!«

Constantin: »Ist halt ein altes Haus, aber innen haben wir ganz schön renoviert...«

Botin: »Nee, also hier, das könnt’ ich nicht.«

Constantin: »Ja, wo wohnen Sie denn?«

Botin: »Na, in Grünau!«


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