Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online.
Im Sommer zog Tobias Bernet mit Freunden von Zürich nach Leipzig-Lindenau. Den WG-Alltag und das Studentenleben in der neuen Stadt beschreibt der 23-jährige Gaststudent ab jetzt wöchentlich auf kreuzer online.
Zeitzeuge der Wurstmaschine
Ich hatte es immer gesagt, wenn das Gespräch unter Freunden auf die ganz großen Zukunftsfragen kam: Wir werden in unserer Lebenszeit noch den einen oder anderen gewaltigen Knall erleben. Denn irgendwie kann das ja nicht so weitergehen. All diese Kurven in unserer Statistik-Kultur, die ungebremst aufeinander zurasen: Wirtschaftswachstum seit über sechzig Jahren fast überall, fast nur aufwärts. Zustand des Planeten genau umgekehrt. Anzahl einigermaßen demokratisch regierter Staaten: leichtes Plus. Ausgeglichenheit der weltweiten Vermögensverteilung: riesiges Minus. Und so weiter.
Und jetzt heißt es »Ta-Da! Die Krise ist da«. Aber nach großem Knall fühlt sich das Ganze irgendwie überhaupt nicht an.
Ich war diese Woche mit den Mitstudierenden und dem Dozenten eines Geschichtsseminars, das das Ende der DDR zum Inhalt hat, im Zeitgeschichtlichen Forum. Im dazugehörigen Museums-Shop gibt es neben Büchern auch allerlei seltsame Erinnerungsstücke zu kaufen. Die meisten beziehen sich logischerweise auf die DDR, aber mir stach eine Tasse mit dem Aufdruck eines Slogans des damaligen westdeutschen SDS ins Auge: »Alle reden vom Wetter. Wir nicht!«. Damit meinten die 68er-Studierenden wohl: Bei uns geht’s um die wirklich relevanten Dinge, während der Mainstream nur ablenken will.
Heute müsste man sagen: Alle reden von der Krise. Aber hat deswegen irgendjemand das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, die sich ihren wahren Herausforderungen stellt? Nee, es knallt nicht. Es brummt, dumpf und leise. Das ist das Geräusch einer Wurstmaschine, die weiterwurstelt.
Wenn es auch noch zeithistorische Institutionen gibt, wenn ich alt bin und ich für ein Forschungsprojekt gefragt werde, was denn das so für ein Lebensgefühl gewesen sei, anfangs des 21. Jahrhunderts in Europa, werde ich sagen: Tanz auf dem Vulkan. Diese Metapher treffe die Sache für mich am besten. Wir hätten eigentlich sehr gut gelebt – im damaligen Jetzt. Viele Möglichkeiten. Keine elementaren Nöte. Nie dagewesener technologischer Fortschritt. Glücklich, ja. Viel gefeiert! Auch, um zu verdrängen? Denn wir seien auch sehr gut informiert gewesen, oder hätten das zumindest gemeint. Und die Synthese aus all den Nachrichten, die über die vielen Medien, von denen einige damals gerade erst neu erfunden worden seien, auf uns einströmten, die Synthese daraus hätte einen meist nicht zuversichtlich gestimmt. Wir hätten unser Glück vielleicht nie so wirklich ganz genießen können, werde ich sagen, weil wir wussten: Da kann etwas nicht stimmen. Anderswo verrecken sie noch immer an Hunger, an Kriegen – und in einer so vernetzten Welt musste das auch etwas mit uns zu tun haben. Der Meeresspiegel stieg an. Wir hätten mit einem Gefühl der Unwirklichkeit gelebt, werde ich sagen. Und, ja, auch in Angst.
Die Historikerin oder der Historiker der Zukunft wird dann vielleicht denken: Der war ja schon ein bisschen dekadent damals, der Alte. Und hoffentlich sagen: Na, dann sind Sie sicher froh, dass sich dann doch noch so einiges zum Besseren gewendet hat.
Man könnte im Moment ja auch tatsächlich davon ausgehen, dass alles gut wird. Denn gemäß Eigendeklaration sitzen ja auf allen wichtigen Posten nur total einsichtige Leute. Ach, was heißt da einsichtig, sie haben’s alle schon immer gewusst. Oder hat irgendjemand in den vergangenen Monaten auch nur ein einziges Statement einer Politikerin oder eines Politikers gelesen in der Art von: Ja, ich war für Deregulierung. Ich war und bin der Ansicht, dass das Börsen-Roulette munter laufen soll, das ist für alle das Beste.
Im erwähnten Geschichtsseminar wurde auch behandelt, wie Egon Krenz plötzlich »auch schon immer für Demokratisierung« gewesen war und Erich Mielke alle Menschen liebte.