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Kultur

Schluss mit der Wende-Euphorie!

Mit Kolloquium und Kunstausstellung widmet sich der Leipziger Kreis den Erwartungen an die Deutsche Einheit

  Schluss mit der Wende-Euphorie! | Mit Kolloquium und Kunstausstellung widmet sich der Leipziger Kreis den Erwartungen an die Deutsche Einheit

»Was für einen Zirkus, was für eine geschichtspolitische Nabelschau mussten wir in diesem Jahr schon erleben!«, schimpfte Thomas Klemm vom Leipziger Kreis angesichts der Feierlichkeiten zum Jubiläum der Deutschen Einheit. Er ist es leid, dass das Thema entweder bloß noch Verbitterung oder fanatische Aufrufe zum Zusammenhalt wachruft. So geschehen etwa am 3. Oktober durch Bundespräsident Christian Wulff: »Wir sind – im doppelten Sinne des Wortes – zusammengewachsen und zusammen gewachsen.« Hört, hört!

Mehr Differenzierung – nicht nur im Hinblick auf die Deutsche Einheit, das fordert der Leipziger Kreis, Forum für Wissenschaft und Kunst, und veranstaltete daher am Freitag ein Kolloquium und nun eine einwöchige Ausstellung mit dem Titel »Zerreißproben. Erwartungen an die deutsche Einheit und an eine europäische Integration«.

»Unser Ansatz ist es, alle bisherigen wissenschaftlichen und künstlerischen Ergebnisse einmal beiseite zu legen und Geschichte wieder von unten zu schreiben«, sagt Kurator Thomas Klemm. Der Leipziger Kreis wolle sich dem Thema gleichberechtigt in wissenschaftlicher und künstlerischer Weise nähern, um durch die Symbiose neue Sichtweisen zu eröffnen. Daher finden Kolloquium und Ausstellung nicht etwa getrennt an der Uni und in der Galerie statt, sondern an ein und demselben Ort: dem Leipziger Tapetenwerk in Lindenau.

Neben den Vorträgen eines Futurologen und einer Künstlerin, die sich mit »intermedialer Repräsentation katastrophischer Ereignisse« beschäftigt, wurde eine vom Leipziger Kreis in Auftrag gegebene Studie präsentiert. Für diese haben der Historiker Jan Scheunemann und die Lehrerin Annekathrin Waitzmann ost- und westdeutsche Tagebücher der Jahre 1989 bis 1991 aus dem Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen auf Wünsche, Ängste, Erwartungen und Befürchtungen in Hinsicht auf den Einigungsprozess untersucht. Ihr Resümee stellt die vielbeschworene »Wende-Euphorie« in Frage: »Überschaut man die Reflexionen in den herangezogenen Tagebüchern zusammenfassend, lassen sich im Wesentlichen drei Themen herausarbeiten: Angst und Unsicherheit, der Zusammenhang von Hilflosigkeit und Hilfsbereitschaft sowie Fremdheit.«

Direkt im Anschluss wurde die Ausstellung mit Arbeiten von 14 Künstlern eröffnet. »Dabei wollten wir eben keine politische Auseinandersetzung, die in den Kanon der Einheits-Feierlichkeiten einstimmt«, so Klemm. »Vielmehr beschäftigen sich die Kunstwerke nun ganz weit gefasst mit der engen Verbindung von Einheit und Trennung. Denn überall wo Einheit entsteht, tun sich neue Trennungen auf – sei es vom vorherigen Zustand, innerhalb der Einheit oder auch in der Abgrenzung nach außen.«

Mit dabei sind Arbeiten der Leipziger Thomas Bittner, Falk Messerschmidt oder Verena Landau. Letztere war gerade auf dreijähriger Reise durch Italien, um die dortige Kunst und Architektur zu erkunden, als hierzulande die Mauer fiel. Als Landau Anfang der 90er Jahre schließlich nach Leipzig zog, sah sie die Stadt weniger mit den Augen einer Westdeutschen als mit den künstlerischen Augen einer Italienreisenden. So erkannte sie im Gasometer nicht einfach eine Industrieruine, sondern Parallelen zum römischen Kolosseum. Erinnerungen wie diese hat sie in mehreren Postkartenmotiven verarbeitet.

Einheit und Trennung – das ist bei weitem nicht bloß ein deutsches Phänomen, sondern ebenso eines innerhalb Polens. Piotr Żyliński hat hierfür eine eindrückliche Metapher gefunden. In einem Videoloop lässt er die polnische Flagge vor einem strahlend blauen Himmel im Winde flattern – in der Mitte zerrissen, zwischen weiß und rot gespalten. Die Ausstellung des Leipziger Kreises dauert bis zum 13. November.


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