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Kultur

»Platte machen« in Grünau

Ausstellung bringt Kunst in den Plattenbau

  »Platte machen« in Grünau | Ausstellung bringt Kunst in den Plattenbau

»Platte machen« meint in Hamburg, sich als Obdachloser auf einem Stück Karton schlafen zu legen. Wer sich in Leipzig eine »Platte macht«, der denkt nach. Nun ist der Begriff »Platte machen« noch um eine Möglichkeit reicher, denn seit ein paar Tagen heißt so auch ein neues Ausstellungsprojekt in Leipzig-Grünau.

Wer nicht ganz genau hinschaut, läuft erst einmal vorbei. WK 4, der Wohnkomplex mit den neuen Kunsträumen mitten in Leipzig-Grünau, sieht von Außen aus wie eine gewöhnliche, ziemlich heruntergekommene Platte. Der Putz bröckelt von den Wänden, Farbe hat WK4 schon lange keine mehr gesehen – draußen wie drinnen. Nur ein kleines, buntes Plakat im Hauseingang der Ludwigsburgerstraße Nr. 6 zeigt den Weg: 14 Tage – 8 Künstler – 6 Wohnungen.

Susan Nowacki steht am Fahrstuhl zwischen den beiden ersten Künstlerwohnungen im Erdgeschoss und erklärt gerade einem Besucher, was hier vor sich geht und vor allem, wo. Links in der ersten Wohnung stellen die beide Hamburger Vladimir Schneider und Lorenz Goldstein großformatige Malereien aus, in den Räumen gegenüber zeigt der Leipziger Künstler Marko Raffler aus alten Teppichen geschnittene Möbel: ein zweidimensionales Sofa, zwei Sessel, ein Klavier.

Im Dezember 2010 waren Susan Nowacki und die beiden anderen Initiatoren, Marc Alexander Holtz und Jörg Staudt, gemeinsam mit einigen Künstlern zum ersten Mal hier in Grünau. Die LWB, Leipzigs große Wohnungs- und Baugesellschaft, fand ihre Ausstellungsidee gut und schlug die Wohnungen in WK4 vor. Nun sind die Kunststudenten, Meisterschüler und Nachwuchsmaler aus Hamburg, Berlin und Leipzig tatsächlich im Plattenbau angekommen. Im Fahrstuhl auf dem Weg in den 10. Stock zu den anderen Wohnungen erklärt Susan Nowacki, dass sie mit dem Projekt vor allem in die Platte wollten, um dem ewigen Klischee von der modernen Galerie im schicken Altbau zu entgehen. »Wir wollten auch nicht in die Spinnerei, sondern eben mal dorthin gehen, wo keiner ausstellt und damit auch zeigen, dass das kein ungewöhnlicher Ort ist.«

Inspirierend für Künstler und Bewohner soll die Ausstellung in der Platte sein. Grünau ist anders, zwar kein Brennpunkt, aber doch eher eine sozial schwache Wohngegend. Wer hier Kunst und Kultur konsumieren will, fährt in die Leipziger Innenstadt oder zumindest in die knapp zwei Kilometer entfernte Baumwollspinnerei, wo ein halbes Dutzend etablierte Galeristen auf gutbetuchte Kundschaft warten. Nach Grünau verirrt sich von denen niemand, und wohl auch keiner der ausnahmslos jungen Künstler hier in WK4 wird in absehbarer Zeit dort ausstellen. Obwohl, wer weiß das schon so genau.

In Uli Pforrs orange gestrichener Wohnung im 10. Stock hängen Dutzende bunte Malereien, abstrakte Portraits – Milieustudien, wie sie der Hamburger selbst nennt. In der Platte gelebt hat er noch nie, auch nicht ausgestellt, jetzt wohnt er zumindest die 14 Ausstellungstage direkt in dieser Wohnung. »Ich hab jetzt schon ein paar Tage hier geschlafen, das war schon mal was Abenteuerliches.«, erzählt der Nachwuchsmaler. Gewöhnungsbedürftig sei das, eine fremde Wohnung zu besetzen. »Gerade was hier nachts passiert ist schon krass. Und meine Idee ist, die Eindrücke von hier, den Leuten und der Platte, dann am Ende in einem Bild zu verewigen.«

Ein wenig Konzeptkunst zur Platte hier, etwas zum Thema Obdachlosigkeit dort, dazwischen ein paar wenige interessierte Gäste - so sieht »Platte machen« im Neubaugebiet aus. Eine Etage über Uli Pforrs Wohnung, in den Räumen von Anja Walther, diskutiert die Leipziger Fotografin gerade mit einem jungen Besucher über ihre Bilder von alten, verfallenen Häusern. Die beiden reden über Grünau, die Probleme des Viertels und seiner Bewohner. Walther kennt den Stadtteil noch aus ihrer Jugend, Alexander Dutkowiak lebt hier seit ein paar Monaten. Er will wissen ob sie Angst habe, wenn sie in Grünau durch die Straßen laufe und diese »ganzen verschrobenen Leute hier« sehe. Ängstlich sei sie nicht, aber »sicherlich hat Grünau einen schlechten Ruf, nach wie vor.« Es sei eben so eine kleine, eigene Welt in Leipzig.

Alexander Dutkowiak wohnt in WK 4, nur ein paar Hauseingänge weiter. Schon vor Tagen habe er mitbekommen, dass hier »ein bisschen was los« sei. Nun wollte er endlich mal vorbei schauen. Uli Pforrs Malereien findet er gut, auch die Fotos von Anja Walther. Doch in Grünau selbst gebe es ebenfalls Kunst, von Sprayern etwa, die ihre Graffitis an die Wände sprühen. »Ich finde, Grünau strotzt vor Leben, aber wird von vielen äußeren Verhältnissen negativ beeinflusst und leider auch von Außen so gesehen», so Dutkowiak. Er lebe gern in der Platte, auch wenn die Leute hier eben etwas einfacher gestrickt seien. »Da wird dir eben auch mal was direkt ins Gesicht gesagt. Und entweder man versteht sich oder nicht, man hat über sich einen coolen Typen wohnen oder nicht. So ist das hier, aber es ist schön.«

Noch bis kommenden Donnerstag dürfen die Künstler diese Welt kennen lernen, sich ein Bild von der Platte machen – und im Gegenzug dem Viertel auch etwas geben. Ihre Kunst nämlich, zumindest rund um WK4. Natürlich seien nicht alle Anwohner glücklich mit den Künstlern direkt vor der Haustür, meint Susan Nowacki. Nicht weiter schlimm, man sei schließlich auch nicht hierher gekommen, um im Namen der Kunst zu missionieren. »Mein Anspruch ist nicht, dass die Menschen aus Grünau jetzt in Galerien laufen, sondern dass sie merken, dass das nichts Abgehobenes ist und jeder Kunst betrachten kann.« Und die meisten Bewohner im Haus seien angenehm, erzählt die Initiatorin, einige sogar interessiert. Und hier und da gab es sogar schon mal eine Tasse Kaffee. Kunst verbindet eben - sogar im Plattenbau.


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