Liam Gallagher verlässt genervt die Bühne, ein Sänger trägt nur einen Vorhang als Käppi und unser Autor spielt »Real Life-Halma«. Unser Sommer-Festival-Tagebuch, Teil 3: Das Melt!
Festivals. Eine bizarre Kreuzung aus Ferienlager, Freiluftzoo und »Fear and Loathing in Las Vegas«. Hier torkeln bizarre Kreaturen durch ihren eigenen Unrat, der Urlaut »Uärgh!« gilt als bedeutungstragend, und Sonnenbrillen werden höchstens zum Schlafen abgenommen. Für solchen Scheiß bin ich mit Ende 20 eigentlich zu alt. Trotzdem nehme ich diese ganzen Strapazen auch in diesem Sommer auf mich – zumindest für das Melt.
Schließlich besticht dieses Festival nicht nur durch die malerische Lage auf dem seegesäumten ehemaligen Tagebaugelände »Ferropolis« mit seinen gigantischen Baggern – sondern vor allem durch sein einmaliges Programm: denn beim Melt verschmilzt die Grenze zwischen Rock und Elektro.
Das gilt auch für die Indietronic-Combo We Have Band, die am Freitag für einen furiosen Einstand auf der Hauptbühne sorgt: Die Briten verflechten drei Stimmen mit unzähligen Rhythmen und fesseln so die ersten Zuschauer.
»Boys Noize hat alles zerstört«
Richtig voll wird es aber erst nach Einbruch der Dämmerung – das gilt für die mit The Drums und Robyn illuster besetzte Mainstage, aber auch für einige Besucher. Als besonders trinkfreudig erweisen sich erneut die unzähligen Holländer, von denen viele am ersten Tag nach einer geheimen Absprache in wunderlichen Ganzkörperkostümen stecken.
Solche Kindereien sind nichts für Boys Noize: Nach dem Set des Minimalpapstes Paul Kalkbrenner legt der gebürtige Hamburger mit seinem knarzenden Gewummer die Hauptbühne bis weit nach Sonnenaufgang in Schutt und Asche. Ein Besucher meint danach anerkennend: »Man, Boys Noize hat echt alles zerstört«. Ganz genau.
Am nächsten, nunja, Morgen bieten mir meine freundlichen Campingnachbarn »Kaffee mit Wodka« an, der aber eher nach Wodka mit Kaffee aussieht. Ich verzichte dankend.
Der Zeltplatz hat sich inzwischen in ein interaktiv gestaltetes Mosaik aus Folien, Dosen und Flaschen verwandelt. Dabei haben sich die Veranstalter in diesem Jahr doch alle Mühe gegeben, um das Melt! so umweltverträglich wie möglich zu gestalten: Neben einem gecharterten Zug, der einige Besucher auf zehn Stationen in Deutschland einsammelte und dann direkt auf das Gelände bringt, gibt es auch Infostände mit Stromspartipps und das »Electric Hotel«, in dem man mit eigener Muskelkraft sein Handy aufladen kann. Die Mehrheit der Besucher scheint sich aber zumindest an diesem Wochenende nicht sonderlich für das Thema Umweltschutz zu interessieren. Und so gibt es nur dann Diskussionen über lange Laufzeiten, wenn man mal einen Shuttlebus verpasst hat und die zwei Kilometer zum Konzertgelände zu Fuß zurücklegen muss.
Während das Programm auf der Mainstage mit Patrick Wolf, den Editors und Beady Eye zwar namhaft, aber nicht so mein Fall ist, überzeugt mich unter dem gigantischen Bagger, der der »Big Wheel Stage« ihren Namen gibt, vor allem der ehemalige Fischmob-Mastermind DJ Koze. Später erfahre ich, dass die nach dem Ausstieg von Noel Gallagher in Beady Eye umbenannten Reste von Oasis eine unspektakuläre Show abgeliefert haben. Für Emotionen sorgt nur der von der bescheidenen Resonanz sichtlich angefressene Liam, der erst das Publikum bepöbelt und schließlich während des letzten Songs vorzeitig die Bühne verlässt.
Damit schafft der alte Griesgram Platz für den letzten Deutschland-Termin von The Streets. Bei der Show wird deutlich, warum Mike Skinner dieses Projekt ausklingen lässt: Man merkt dem stets charmanten Typen aus Birmingham an, dass er sich auf den ganz großen Bühnen mit dem dazu gehörenden Brimborium einfach nicht wohl fühlt – aber er gibt trotzdem sein Bestes und zieht die Besucher mit im schönsten »Brummie«-Akzent vorgetragenen Ansagen auf seine Seite.
Später verlieren die beiden Hamburger von Digitalism deutlich weniger Worte; aber ihre Indie-inspirierten Tanzflächenmanifeste sprechen ohnehin für sich. Das Duo hat mit »2 Hearts« auch die offizielle Hymne dieses Festivals beigesteuert und fühlt sich nicht nur wegen der an den Hamburger Hafen erinnernden Kulisse mit Kränen und Waterkant wie zuhause.
»Sowas habe ich noch nicht gesehen«
Am Sonntag sind die Jungs von Digitalism schon wieder abgereist; dabei hätte das am letzten Festivaltag einsetzende Schietwetter sicher noch stärkere Heimatgefühle bei den beiden ausgelöst. Zu der etwas gedrückten Stimmung passt die gediegene Melancholie des schwedischen Singer/Songwriters José Gonzalez aber ohnehin viel besser.
Angenehm bedröppelt richte ich mich trotz der draußen angesetzten Konzerte von Pulp, Bodi Bill und den Cold War Kids häuslich im Intro-Zelt ein. Schließlich beherbergt die gigantische Plane an diesem Abend noch viele absolute Favoriten von mir. Zuerst demonstriert die Glasgower Post-Electroband Errors, wie wundervoll tanzbar ihre nachdenklichen Songskizzen sind. Später wickeln die kuscheligen Fotos vor allem das weibliche Publikum mit ihrem deutschsprachigen Indierock um den Finger, an dem die Irren von Les Savy Fav danach mit aller Kraft ziehen. Bei der Show der Postpunks aus New York blickt ein nach den Fotos stehen gebliebenes Mädchen sowohl be- als auch entgeistert umher: »Sowas habe ich noch nicht gesehen«. Der anarchistische Sänger Tim Harrington ist aber auch in Bestform: Er kommt mit wenig mehr als einer Unterhose auf die Bühne und reißt dann den roten Vorhang herunter, um ihn als »Super-durchgeknallt-man!«-Cape zweckzuentfremden. Zum großen Finale stürmt er durch das Publikum, klettert auf das drei Meter hohe Gerüst eines Getränkestands und singt von dort aus weiter. Das war definitiv das enthemmteste Konzert dieses Festivals.
Bei Junip kann man dann zum Abschluss noch einmal entspannt durchatmen: Die psychedelische Folkband um den bereits solo aufgetretenen José Gonzalez verströmt ausufernde Friedfertigkeit. Jeder ihrer Songs wäre ein würdiger Schlusspunkt gewesen – aneinandergereiht bilden sie ein dickes Ausrufezeichen hinter die vierzehnte Ausgabe des Melt.
Für einige Besucher ist aber noch immer nicht Schluss: Denn auf dem matschigen Grund des »Sleepless«-Floors kann man noch bis Montag Mittag die letzten Kraftreserven zu den Beats der DJs mobilisieren. Ich bin aber zu geschafft und spiele nur noch eine Runde »Real-Life-Halma« um die abseits der Asphaltwege entstandenen Trittinseln in den unzähligen Pfützen auf dem Gelände. Für dieses Mal reicht es. Tschüss, Ferropolis – ich melt mich dann nächstes Jahr wieder.