Spielzeitauftakt im TdJW: »Human Being Parzival« bricht ein Heldenepos auf einen farbenprächtigen Bilderbogen in Augenhöhe herunter.
Ecce homo: Sieh’ da, ein Mensch. Auch Helden sind nur Menschen, selbst wenn ihnen Barden und Offenbarung andere Höhen zuschreiben. Parzival ist so ein Held. Seit Wolfram von Eschenbachs Vers-Epos aus dem 13. Jahrhundert ist er in vielen Gestalten herumgespukt, bei Wagner hat er wohl seine kristallinste Idealform gefunden und begründete zugleich des Musikers Kehre oder Wende zur christlichen Heilslehre. Parzival ist ebenso urdeutscher wie deutschtümelnder Mythos aus einer Zeit, als es weder Deutsches Reich noch Nation oder klar umrissene Sprachgemeinschaft gab. Und doch ist er eines dieser verqueren Versatzstücke eines kollektiven Phantasmas, das auch den Nationalsozialismus überdauerte: Seit Arminus’ Hermannsschlacht spätestens behaupten die Germanen edel, siegreich und gut ihre Scholle – dabei ist Parzival nicht an Weser, Elbe, Oder verortet, sondern in Britannien.
Es ist die erste gute Nachricht, dass Regisseur Jürgen Zielinski von solchem Zinnober nichts wissen will. Seiner »Parzival«-Inszenierung – nach der Fassung von Bernard Studlar – ist nicht ohne Grund »Human Being« im Titel vorangestellt. Es geht um den Menschen, der vom Knaben zum Ritter wird und an den Aufgaben, die sich im Leben ergeben, zu scheitern droht. Selbsthader, Zweifel, Sinnsuche sind Kernelemente dieser Inszenierung, die sich als spannender Bildungsroman in rascher Szenenfolge abspult, ja: ein Gerüst eines farbenprächtigen Bilderbogens ergeben.
Auch wenn der Erzählstrang nach der Pause ein bisschen zäher wird, hier manche Szene besser pointiert statt episch ausgemalt worden wäre: Der Spielzeitauftakt – Motto: »Alles wächst!?« – ist gelungen und das große Spiel ums Auf- und Heranwachsen des Koloss Parzival ein spannend-unterhaltsames Vergnügen und luftig-zarter Schaumkuss kultureller Bildung zugleich. So erfährt man nicht nur nebenbei, was ein Ritter alles an Altmetall mit sich rumschleppt und welcher Gestalt das Ideal der Minne ausfällt, sondern auch, dass das Denken in Dichotomien – sei es nun in »Gott/Teufel«, »Yin/Yang«, »American/Taliban« – nicht zielführend, weil zu einfach ist. Durch die dichte Erzählung langweilt die eigentlich olle Kamelle »Parzival« an keiner Stelle, das oft geschickte Überblenden und ineinander Überlaufen der Szenen lässt keine »Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran« (Fehlfarben).
Die Zuschauer sitzen wie beim Ritterturnier auf beiden Seiten der Spielfläche, die so einen Arena-Charakter und eine gehörige Tiefe erhält. Diese lässt Zielinski das Ensemble auch wunderbar ausnutzen und in einem offenen Bühnenbild mit wenig Staffage die verschiedenen Handlungsorte andeuten. Auf der einen Seite ist ein schwarzer Schlund zu sehen, aus dem eine Rampe in den Bühnenraum führt, auf der anderen eine Art Thron und dahinter eine hölzerne Mauer, die mit strohartigem Zielscheibenmaterial ausgekleidet ist. Speere und Armbrustbolzen werden mehrfach auf diese abgefeuert, um die Wucht eines Kampfes anzudeuten. Ein Wasserbassin fast in der Bühnenmitte dient mal als Bächlein, mal als magisch-illuminierter, nebelumfluteter Gralshort. Überhaupt ist viel Licht im Spiel – zusammen mit Live-Percussionist Clemens Litschko eine hilfreiche Unterstützung der Narration. Den Schauspielenden ist die Schwierigkeit der Arena-Situation nicht anzumerken. Sie wenden sich beim Sprechen hierhin, dann dorthin und wieder zurück, als sei das eine natürliche Sache. Auch das zeitweilige Aus-der-Rolle-Fallen, mit dem das Tempo beim Umbau/Entkleiden eines Ritters erfolgt, wirkt nicht zwanghaft, sondern ist wohl dosiert im Einsatz. Aus dem gut eingespielten Ensemble ragt besonders positiv Anna-Lehna Zülke heraus, die von Parzivals erster Liebe bis zur Erzählerin und seiner Ehefrau in vielen Verkörperungen zu sehen ist und dank variabler Sprache und Mimik immer als andere Person und nicht wie eine verkleidete Mimin herüberkommt. Und wie man glaubhaft einen Betrunkenen spielt – eine gar nicht so leichte Aufgabe –, führt Martin Klemm par excellence vor. Das kämpferisch-tänzerische Ringen Parzivals mit sich selbst (Choreografie: Heike Hennig), bei dem sich die widerstreitenden Kräfte seiner inneren Sicherheit die Spiegel als Schilde vorhalten, ist einer der Höhepunkte der Inszenierung.
Ein Mensch geht seinen Weg. Das ist die einfache, aber gar nicht so einfach zu lernende Botschaft von »Human Being Parzival«. Ob Heroe oder Fünftklässler: Den Mut, auf seinen Verstand und seine Fähigkeiten zu vertrauen, muss man erst einmal aufbringen. Die Leiden des jungen Ritters Parzival, die Einsamkeit dieser Blechbüchse, werden plastisch. Man hätte dem Kollegen manchmal mehr Selbstermächtigung und weniger Schicksalshörigkeit gewünscht, aber so steht es halt geschrieben. Immerhin – und das ist Zielinski gar nicht hoch genug anzurechnen – ist das Stück trotz Anlage des Stoffes kein Agitprop-Theater der Leistungsgesellschaft, in der jeder, so er nur will, seines eigenen Glückes Schmied ist. Dafür ist man dann wie Parzival doch zu sehr Kind seiner Umstände. So gelingt eine kleine, sehenswerte Parabel auf die Bedingungen der Möglichkeiten, sein Leben nach eigenem Maßstab zu leben.