Die Energie des Aufbruchs in Anbetracht seines jähen Endes behandelt das Theaterstück »2 Uhr 14« des Kanadiers David Paquet. Kurz bevor fünf Jugendliche erschossen werden, wollen sie ihr Leben ändern.
Das Leben ist kompliziert. Besonders für Heranwachsende. Es ist der ganz normale Irrsinn des Erwachsenwerdens, der alle Beteiligten im Stück des kanadischen Autors David Paquet an den Rand der Verzweiflung treibt, ein Ringen um den eigenen Platz im Leben, um das Leben selbst. Im Theater der Jungen Welt gleicht der Austragungsort einer Arena, einer Kampfbahn, einer Sporthalle. Eine lange grüne Bahn, die sich zum Ende hin wie die Rampe einer Quarterpipe zu einer Reihe Spinde aufschwingt. Darüber thront die Sprecherkabine des Schulradiosenders »Radio Charlot«, die Stimme des Unsichtbaren aus dem Off, stets präsent und doch nie zu fassen.
Auf der grünen Planche eine Sammlung blauer Turnmatten. Hier findet er statt, der Kampf, den jeder der Jugendlichen mit sich selbst und gegen seine Umwelt austrägt und der Lehrer mit ihnen.
Katrina fühlt sich von den Eltern abgelehnt und unverstanden. Sie tritt die Flucht nach vorn an und schützt sich durch aggressives Verhalten. Ihr Credo: »Die einzige Chance zu überleben, ist, schwärzer zu sein als unsere Umgebung.« Deshalb lässt sie sich einen schwarzen Panther auf den Bauch tätowieren, denn der ist für sie »gut, stark, gefährlich«.
Berthier scheint das genaue Gegenteil zu sein. Er ist ein guter Schüler, unauffällig. Und genau das ist sein Problem. Er wünscht sich mehr Beachtung, vor allem von den Mädchen. Er beobachtet sich und seine Situation und kommt zu dem Schluss, dass die Mädchen zwar nicht allergisch auf ihn reagieren (immerhin), »sie interessieren sich bloß nicht für mich«.
Jade hingegen findet mehr Beachtung, als ihr lieb ist. 32.887 Male hat sie in ihren Notizbüchern mit einem Kreuz markiert. Jedes einzelne steht für eine Kränkung, eine Schmähung als »dicke Fettpfütze, Schleimbeutel, Puddingpanzer«.
François wiederum scheint in seiner ganz eigenen Welt zu leben. Er irrt durch Traumszenarien, überall fühlt er sich beobachtet und hört, wie sein Name skandiert wird, selbst von den Bäumen im Wald. »Früher war ich normal, jetzt öffne ich Türen.« Wenn er seine Großmutter im Krankenhaus besucht, dann verschwinden die Türen. Und doch macht er gerade dort die Erfahrung einer Grenzüberschreitung, die ihn in tiefe Scham und Selbstzweifel stürzt, denn er verliebt sich in Henriette, die Zimmergenossin seiner Großmutter, die ebenfalls Jahrzehnte älter ist als er.
Zugehörigkeit, Orientierung, Normalität sind es, wonach sich die Jugendlichen sehnen. Doch ihre Selbstsicherheit werden sie erst gewinnen, wenn sie bereit sind, ihre Andersartigkeit als Eigenart und Einzigartigkeit zu akzeptieren.
Sie alle suchen nach Lösungen und finden sie auch, mögen sie vielleicht auch ein wenig bizarr anmuten. Berthier gibt sich als Blinder aus, damit hilfsbereite Mädchen ihn endlich anfassen, Jade unterzieht sich einer Radikalkur und reduziert ihr Gewicht mithilfe von Würmern, die sie sich einverleibt. Plötzlich macht man ihr Komplimente, sie wird begehrt. Endlich scheint sie die Beachtung zu erfahren, nach der sie sich sehnt. Berthier berührt in seiner Rolle als Blinder Katrinas Panther, der sich daraufhin verwandelt. Die beiden so gegensätzlichen Figuren finden zueinander, und auch Denis, der Lehrer, erkennt für sein persönliches Problem die Lösung, die ihm einen freudigen Umgang mit den Schülern zurückbringt.
Wie in einer großen Versuchsanordnung loten die Beteiligten die Untiefen des Lebens aus. Die Persönlichkeiten der Protagonisten treten Stück für Stück zutage. Die ganze Zeit über irrlichtert zwischen ihnen eine Gestalt über das Spielfeld, die bei aller Randständigkeit ebenfalls langsam an Kontur gewinnt, je mehr das Geschehen seinem Höhepunkt zustrebt, diesem ominösen Ereignis, das um 2 Uhr 14 stattfinden wird, dem absoluten Endpunkt alles bisher Gewesenen. Diese Gestalt, deren Schmerz sich nach und nach offenbart, ist die Mutter von Charles, der Stimme aus dem Off. Die Mutter desjenigen, der um 2 Uhr 14 fünf Leben auslöscht, die gerade begonnen haben, Konturen anzunehmen. Gerade, als sinnhafte Zusammenhänge und Bezüge entstehen, ist alles plötzlich und unbegreifbar zu Ende. Ohne jede Erklärung.
Denn es geht in diesem Stück nicht darum, den Amoklauf begreifbar zu machen. Sondern darum, den schreckstarren Blick vom Täter abzuwenden. Die Tat dient hier als Kontrapunkt zum Leben, die in krassem Kontrast erst den unschätzbaren Wert dessen erkennen lässt, was sie vernichtet. Der sinnlose Tod ist somit ein radikales Bekenntnis zum Sinn des Lebens.
Regisseur Ronny Jakubaschk hat mit seiner ersten Regiearbeit für das Theater der Jungen Welt diesen Stoff um die klassischen Konflikte des Heranwachsens packend umgesetzt und dabei symbolisch anschauliche Bilder für die manchmal surrealen Lebenswirklichkeiten Jugendlicher gefunden. Das klare Bühnenbild von Vera Koch unterstützt die Inszenierung in ihrer Dynamik und sprechenden Bildlichkeit. Ein Stück, das viele Angebote für anregende Auseinandersetzungen bereithält.