Immer wieder musste ich in den letzten Wochen an diesen Film denken. Wann immer Pegida in Dresden aufmarschierte, kam mir »Wir sind jung. Wir sind stark.« in den Sinn, als sähe ich in grauenerregender Dauerschleife jeden Montag das Prequel zum Film. Burhan Qurbanis Chronik der Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992 zeigt auf erschreckende Weise, wohin die Demoralisierung des Abendlandes führen kann. Damit es nicht soweit kommt, wisst ihr ja, wo ihr am heutigen Mittwochabend hin müsst. Wir sehen uns – auf der Straße und im Kino!
Film der Woche: 1992, ein Sommermorgen in Rostock-Lichtenhagen. Den Jugendlichen ist langweilig. Sie haben keine Jobs, keiner weiß, was die Zukunft bringt, die Regeln ihrer Vergangenheit gelten nicht mehr. Sie hängen an ihrem Kleinbus rum und provozieren die »Bullen«. Am Ende des Tages hat sich einer von ihnen umgebracht, die anderen haben das Asylbewerberheim angezündet.
Die Bilder gingen durch die Medien. Bilder von einer applaudierenden Masse, die die Feuerwehr nicht durchließ, Bilder von der Polizei, die einfach verschwand, es brenzlig wurde. Das Bild von dem Typ mit der eingepissten Hose, der im Deutschlandtrikot den Hitlergruß zeigt. Die gerade vereinte Republik fragte sich: Was ist da los im Osten?
Der Film »Wir sind jung. Wir sind stark.« gibt keine konkrete Antwort darauf, wie es soweit kommen konnte. Aber er zeigt – in Schwarzweißbildern, die am Ende farbig werden – ein System, in dem die Autoritäten entweder nichts mehr zu sagen haben oder das Gegenteil von dem, was sie früher propagierten, und die Ratlosigkeit der dort agierenden Personen. Den Lokalpolitiker, der wie die meisten seiner Kollegen nicht zu erreichen ist, weil er seine Karriere nicht opfern will. Die Vietnamesin, die gerade ihren Arbeitsvertrag bekommen hat und sich nicht vorstellen kann, dass ihr hier jemand etwas tut, schließlich sei sie doch keine von den »Zigeunern«, die vor den Häusern rumlümmeln. Ihre Kollegin, die eigentlich viel zu viele eigene Probleme hat, um ihr zu helfen. Und die Bande von Jungs, die die Internationale genauso singen wie menschenverachtende Rechtsrocksongs, die ihre Grenzen austesten und es mal so richtig schön krachen sehen wollen.
Und das ist die größte Qualität dieses Films. Man kann fast nachvollziehen, was die Menschen antrieb, obwohl einem gleichzeitig schlecht wird. Ein unbedingt sehenswerter Film in Zeiten, in denen Zehntausende (»Wir sind keine Nazis, aber...«) für Pegida auf die Straße gehen. (Juliane Streich)
»Wir sind jung. Wir sind stark.«: ab 22.1., Passage Kinos
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Fermanagh, im Norden Irlands, irgendwann Ende des 19. Jahrhunderts. Die Köchin Kathleen (Samantha Morton) und der Diener John (Colin Farrell) zerreißen sich das Mundwerk über ihre Herrin, die alleinstehende Miss Julie (Jessica Chastain). Die eigenwillige Frau lebt mit ihrem Vater in dem geräumigen Anwesen und treibt ihre Spielchen mit dem treuen Valet. Sie verführt ihn, erniedrigt und umgarnt ihn, ohne die Folgen zu bedenken. In einer alkoholgeschwängerten, schicksalhaften Mittsommernacht läuft alles aus dem Ruder
Das Spiel der Macht hat auch nach 125 Jahren nichts von seinem Reiz verloren. Nicht umsonst ist das bekannteste Theaterstück von August Strindberg bereits viele Male für Leinwand und TV adaptiert worden. Die Schauspielerin Liv Ullmann, Muse Ingmar Bergmanns, die auch immer wieder auf dem Regiestuhl Platz nimmt, inszenierte ihre »Fräulein Julie« äußerst klassisch. Ein Dreipersonenstück an nicht viel mehr als zwei Handlungsorten. Die Konzentration liegt vollends auf den geschliffenen Dialogen und den Schauspielern, die ihnen Leben einhauchen. Hier kann sich Ullmann auf ein hervorragendes Personal verlassen. Chastain (»Das Verschwinden der Eleanor Rigby«) und Farrell (»Brügge sehen... und sterben?«) liefern sich ein leidenschaftliches Duell. Samantha Morton (»Control«) lauert im Schatten. Die Reduktion geht auf, die großen Gestiken der Figuren sind aber nur etwas für Theaterfreunde.
»Fräulein Julie«: ab 22.1., Passage Kinos, Schauburg
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Eine angenehme Kindheit hat die neunjährige Aria (Giulia Salerno) gewiss nicht. Zwar muss sie sich keine Sorgen darüber machen, obdachlos zu sein oder Hunger zu leiden. Doch ein liebevolles, beständiges Zuhause ist ihr fremd. Die überbordenden Egos ihres narzisstischen Schauspieler-Vaters (Gabriel Garko) und ihrer manischen Musiker-Mutter (Charlotte Gainsbourg) prallen gleich zu Filmbeginn am Esstisch so massiv aufeinander, dass man grübelt, wie die zwei es jemals miteinander ausgehalten haben. Zwischen den kurz darauf getrennt lebenden Eltern wird Aria bald hin- und hergereicht und fast wie ein Haustier behandelt: mal miteinbezogen und geschätzt, mal zur Last fallend und verstoßen. Während die eine Schwester zur verwöhnten Pummel-Tussi und die andere zur konturlosen Ja-Sagerin heranreift, gelingt es Aria auch in der Schule kaum, soziale Bindungen aufzubauen. In Interviews betont Regisseurin Asia Argento, »Missverstanden« sei nicht von ihrer eigenen Vita inspiriert. Ob autobiografisch oder nicht ist aber letztlich unerheblich, denn ihr Film begibt sich ganz universell nachvollziehbar auf Augenhöhe der von Giulia Salerno beängstigend gut gespielten Hauptfigur. Satte Farben und verwegene Kameraperspektiven ziehen den Zuschauer immer wieder in Arias Alltag hinein, beschwören ein surreales, nahezu nur aus Innenräumen bestehendes Rom der 1980er herauf und übertünchen so auf verwirrende Weise die dramaturgischen Schwächen einer eigentlich zu dick aufgetragenen, beeindruckend entfesselten Beinahe-Nabelschau. Ausführliche Kritik von Peter Hoch im aktuellen kreuzer.
»Missverstanden«: ab 22.1., Cineding
Die Filmtermine der Woche
Filmriss Filmquiz
Der Vorhang hebt sich, die Titelmusik beginnt, ein Geistesblitz und ihr seid um ein T-Shirt reicher. Ein Auto fährt vor, Bruce Willis steigt aus, ihr wisst bescheid und die DVD gehört euch. Ihr singt die Bond-Songs unter der Dusche und werft eurem Spiegelbild nen Schwarzenegger-Spruch entgegen, wenn keiner hinhört? Dann seid ihr hier genau richtig! Wir belohnen euer Talent mit Bergen voll Goodies, Merch und Krempel aktueller Kinoproduktionen. Wir feiern Film und schwelgen in Erinnerung an unvergessliche Szenen, Sets und Zeilen. Auf der großen Leinwand, in Technicolor und Dolby Stereoton.
22.1., 20.30 Uhr, Conne Island
Schauspieler, Stars und Superstars: Kristen Stewart
Unter dem Titel »Die Distanz von Kristen Stewart« blickt Claudia Cornelius diesmal in die Vita der jungen Darstellerin, die sich nach dem »Twilight«-Erfolg in anspruchsvollen Rollen bewiesen hat. Im Anschluss gibt es wieder einen Überraschungsfilm.
22.1. 20.15 Uhr, memento
Ein Hells Angel unter Brüdern
Lutz Schelhorn lehnte sich schon in den Siebzigern gegen die schwäbische Bürgerlichkeit auf und wurde später Hells Angel. Für Lutz standen Motorradfahren, Brüderlichkeit und die »Suche nach Freiheit« im Mittelpunkt. 30 Jahre später bringen die Medien die Angels meist mit Waffen, Drogen und Menschenhandel in Verbindung. Lutz will gegen dieses Bild angehen - mit einem großen Fotoband, der den Menschen hinter den Angels-Kutten wieder ein Gesicht geben soll. Der Film begleitet Lutz auf dieser Fotoreise und öffnet damit Türen zu der sonst verschlossenen Welt der Angels.
24.1., 17 Uhr, 25.1., 19 Uhr, Kinobar Prager Frühling
Apocalypse Now - Redux
Ein amerikanischer Offizier erhält den Auftrag, einen unzurechnungsfähigen Oberst, der sich im Landesinneren von Vietnam eine Art Königreich errichtet hat, zu liquidieren. Außergewöhnlicher Kriegsfilm frei nach dem Roman »Im Herzen der Dunkelheit« von Joseph Conrad. Komplett restaurierte und erweiterte Redux-Fassung des Meisterwerks von 1979. In der Reihe Cinema Classics.
25.1., 17.15 Uhr, Regina Palast
Die Hüter der Tundra
In Russland, nördlich des Polarkreises, befindet sich das letzte verbliebene Dorf russisch-samischer Rentierzüchter. Hier versammeln sich die Züchter regelmäßig zum Fest des Nordens, bei dem sie Rennen mit Rentierschlitten veranstalten. Denn die ansässigen Hirten und deren Rentiere leben in jahrhundertealter Gegenseitigkeit und Einigkeit. Doch die Existenz dieses traditionellen kulturellen Erbes der Rentierzucht wird von internationalen Konzernen bedroht, die in den Weidegründen der Tundra ihre Rohstoffe abbauen wollen.
25.1., 17 Uhr, Kinobar Prager Frühling
Night Moves
Hochspannendes Drama um Ökoterroristen, die sich mit den Konsequenzen eines Anschlags auseinandersetzen müssen. In der Reihe Kelly Reichardt – Last of the Independents.
26., 28.1., 21 Uhr, UT Connewitz
Night on Earth
In fünf Episoden, die sich in einer einzigen Nacht in L.A., New York, Paris, Rom und Helsinki ereignen, zeigt Jim Jarmusch, wie aufregend der Beruf des Taxifahrers sein kann.
26.1., 20 Uhr, Regina Palast (OF)
Cinebrasil
Der Sudaca e.V. bringt aktuelles brasilianisches Kino nach Leipzig. Einen Einblick ins Programm und eine Auswahl der Highlights gibts im aktuellen kreuzer.
ab 26.1. Schaubühne Lindenfels, Cineding
Liga Terezin
1942 wurde Theresienstadt (Terezin) zur Relaisstation für Deportationen von Jüdinnen und Juden vor allem nach Auschwitz. Unter unmenschlichen Bedingungen pferchten die Nazis 60.000 Menschen in die Garnisonsstadt. Trotz alledem kam das kulturelle Leben nicht zum Erliegen - Opern, Vorlesungen und das wöchentliche Fußballspiel bildeten Ausnahmen des dauerhaften Überlebenskampfes. Ausgehend von den Propagandabildern des staubigen Kasernenhofs der Dresdner Baracke spannt die Dokumentation den Bogen zu den antisemitischen Tendenzen in Fußball und Gesellschaft bis heute. - im Anschlus Gespräch mit dem Produzenten Mike Schwartz und dem Gedenkstättenleiter Oded Breda.
27.1., 19 Uhr, Kinobar Prager Frühling
Caught in the web
Ein Mann wird gefilmt, als er sich weigert, seinen Platz für einen Alten frei zu machen. Die Bilder gelangen an eine News-Station. Drama um Überwachung, Vernetzung und die Folgen von Kaige Chen.
28.1., 19 Uhr, Konfuzius-Institut Leipzig (OmU)
Dual
Nachdem ihr Anschlussflug annulliert wurde und sie über Nacht in Ljubljana festsitzt, entscheidet sich die Dänin Iben nicht aus dem Shuttle auszusteigen, in dem sie zum Hotel gefahren wurde. Stattdessen bittet sie die Busfahrerin Tina, dass sie ihr die Stadt zeigen möge. Abgesehen von ihrer körperlichen Anziehung zu Iben sieht Tina in ihr einen trauernden oder sehnsüchtigen Freigeist, den sie ernst nimmt, ohne ihn wirklich zu verstehen. Slowenisch-Dänisches Drama. - Queerblick
28.1., 19.30 Uhr, Passage Kinos
Horror-Doppel mit Donis
Horror-Papst Donis entführt diesen Monat mit »Rollerball« und »Zardoz« in die dystopischen Science-Fiction-Filmewelten der 1975er Jahre.
28.1., 20 Uhr, LURU-Kino in der Spinnerei
Short Attack - Golden Shorts
Internationale Kurzfilmhighlights, Filme, die 2014 erfolgreich auf Festivals liefen, die beim interfilm Festival 2014 Preise gewannen und Publikumslieblinge waren.
28.1., 21 Uhr, Kinobar Prager Frühling
Leipziger Floßgraben. Der Film
Gefilmt wurde eine Kanutour durch den Floßgraben. Die Filmemacher möchten die stille und verletzliche Schönheit des Floßgrabens ohne Worte wirken lassen. Unterlegt ist der Film mit Klaviermusik.
29.1., 17 Uhr, Kinobar Prager Frühling