Die Straßen sind verwaist. Die letzten Überreste des Karlovy Vary Filmfestivals werden in den nächsten Stunden verschwinden. Dann herrscht wieder Ruhe in den Gassen des Kurorts und die Anzahl der Flanierenden sinkt in demselben Maße, wie ihr Durchschnittsalter steigt. Zehn Tage lang war das vollkommen anders, als die vornehmlich jungen Besucher die Handvoll Straßen der Altstadt bevölkerten, in den Parks saßen, Gitarre spielten und rauchten und vor den Kinos der Stadt Schlange standen.
Im 50. Jahr waren sie die Stars, denn das Festival hat die Besucher in den Mittelpunkt seiner Festivitäten gestellt. So gab es Bühnen und Buden und allerlei Aktionen rund um das Hotel Thermal, in dem sich das Herz des Festivals auf zwei Etagen erstreckt. Aber vor allem gab es wieder ein spannendes Programm, das die Filmenthusiasten vor den Leinwänden versammelte.
Im Wettbewerb konnte sich diesmal ein amerikanischer Independentfilm durchsetzen: »Bob and the Trees« dreht sich um den Künstler und Holzfäller Bob Tarasuk, der sich hier selbst spielt. Der Franzose Diego Ongaro baute um ihn herum eine Geschichte. Die Zustände in Bobs Heimat Massachusetts spiegeln sich in seiner Sinnkrise wider. Dass der kleine, feine Film den Crystal Globe und die 25.000 Dollar Preisgeld entgegennahm, ist eine ungewöhnliche Entscheidung, die aber gut zum Festival passt, dessen Wettbewerb – im Gegensatz zu den anderen A-Festivals – immer für eine Überraschung gut ist. Den Spezialpreis der Jury nebst 15.000 Dollar erhielt das poetische Drama »Jeder der fällt hat Flügel« des Österreichers Peter Brunner. Mit »Szerdai gyerek« (»The Wednesday Child«) setzte sich eine deutsche Koproduktion in der Sektion »East of the West« durch. Das starke ungarische Sozialdrama wurde von der Hamburger Detailfilm produziert und wird hoffentlich auch den Weg in unsere Kinos finden.
Ebenfalls im Wettbewerb um die schicke Statue war der dänische Abenteuerfilm »Guldkysten« (»Gold Coast«). In leinwandfüllenden Bildern erzählt Daniel Dencik darin von einem jungen Dänen, der 1836 in die afrikanische Kolonie seiner Heimat im heutigen Ghana kommt, um dort eine Kaffeeplantage anzusiedeln. Er stößt auf eine Handvoll versoffener Kolonialherren, die sich schamlos am Land und seiner Bevölkerung bereichern, und beschließt, die Sklaven zu befreien. Die reiche Natur in Kombination mit dem elektronischen Soundtrack von Angelo Badalamenti sorgt für eine berauschende Wirkung, nicht unähnlich den Filmen Terrence Malicks. Jakob Oftebro überzeugt in der Hauptrolle. Die Produktion ist aufwendig und lässt auf einen großen Kinostart bei uns hoffen.
Kim Ki-Duk war in diesem Jahr nach Cannes gereist, um als Teil einer Director’s Choice Reihe »Poetry« seines Landsmannes Lee Chang-Dong zu präsentieren. Dabei hatte er scheinbar noch einen Film im Gepäck, von dem nicht einmal das allwissende Internet wusste. »Stop« spielt unmittelbar nach dem Atomreaktorunfall in Fukushima und zwar direkt nebenan. Ein junges Paar erwartet Nachwuchs, als die Erde bebt, und verliert sich fortan in einem Strudel aus Wahnsinn und Fürsorge für das ungeborene Leben. Ein rohes Werk, bei dem deutlich die Botschaft im Vordergrund vor den technischen Mitteln stand.
In den Nebensektionen konnte man wie jedes Jahr die Perlen aus Cannes, Berlin und Venedig entdecken. Paolo Sorrentinos Cannes-Beitrag »Youth« (Start: 1. Oktober) etwa, für den Harvey Keitel nach Tschechien reiste. Oder Gaspar Noés neuestes Werk »Love«. Beeindruckend auch der realistische Märchenfilm »Tale of Tales« (Start: 27. August) oder die starke Dreiecksgeschichte »Mountains May Depart« von Jia Zhangke (»A Touch of Sin«). Das britische Kino zeigte sich von seiner albtraumhaften Seite mit den Teenager-Dramen »The Falling« und »The Violators« und dem Hexenhorror »The Witcher«.
Eine cineastische Erfahrung war der columbianische »El abrazo de la serpiente« (»Embrace of the Serpent«) von Ciro Guerra, in dem zwei Wissenschaftler auf zwei Zeitebenen tief in den kolumbianischen Dschungel reisen, entlang des Amazons, vorbei an den grausamen Zeugnissen des Kolonialismus, um eine sagenumwobene Pflanze ausfindig zu machen, die das Bewusstsein erweitert. Die ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Bilder, unterlegt mit Schamanengesängen, versetzen für zwei Stunden in einen rauschhaften Zustand, aus dem man sich nur schwer wieder herausschält. Die Chancen für einen Start des Films, der in der Director’s Fortnight in Cannes seine Premiere feierte, in unseren Kinos stehen gut.
Die Festivalwochen in Karlovy Vary waren auch diesmal wieder eine angenehme Mischung aus Entspannung und Gewusel. Kaum jemand flanierte ohne Festivalpass oder Akkreditierung durch die Straßen. Zum schmalen Preis von Zweifuffzich gingen insgesamt 135.105 Tickets über den Counter für insgesamt 488 Vorstellungen. Knapp die Hälfte davon hatten eine Einführung durch die Regisseure, Produzenten oder Schauspieler. Insgesamt wurden 223 Filme gezeigt, darunter 35 Welt-, 26 internationale und 12 europäische Premieren. Es lohnt sich also, die zwei Stunden Autofahrt auf sich zu nehmen und für zehn Tage einzutauchen in den Filmrausch. Wir sehen uns vom 1. bis 9.7.2016!
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