»Pioniermanöver« – Mitte der neunziger Jahre veröffentlicht – bot einen Querschnitt der ostdeutschen Hiphop-Szene, die stark von Künstlern aus der Region geprägt war. Vor zwei Jahren warfen Pioniere von damals die Frage auf: »Seid Ihr bereit für eine Fortsetzung?« Immer bereit waren einige und so nahm das Projekt eines zweiten Manövers Gestalt an, das so nicht genannt werden durfte. »Paralleluniversum« heißt nun die Compilation, die seit August im Handel ist. Der Macher des gleichnamigen Labels, Wahl-Leipziger Steffen Sülzle aka Selecta Ras, erzählt von Anwaltspost und anderen Widrigkeiten bei der Entstehung.
kreuzer: Lässt sich Hiphop heute überhaupt noch in Kategorien wie Ost und West denken?
SELECTA RAS: Im Juli wurde eine Studie zur Ost-West-Angleichung veröffentlicht, die zu dem Ergebnis kommt, dass die Unterschiede zwischen Ost und West auch 25 Jahre nach dem Mauerfall noch sichtbar sind. Es wurde sogar gesagt, dass nicht absehbar sei, ob diese Unterschiede jemals völlig verschwinden würden. Das trifft sicher auch auf die Musikszene in Ost und West zu. Rapper thematisieren ja gern auch die Lebensumstände in ihrem persönlichen Umfeld. Insofern ist es durchaus denkbar und vielleicht sogar naheliegend, dass sie auch inhaltlich in ihren Texten je nach ihrer Herkunft andere Schwerpunkte setzen. Ein Künstler wäre aber wohl ein schlechter Künstler, wenn er solche Denkmuster und Grenzen nicht auch durchbrechen könnte. Dennoch sage ich mit einem Augenzwinkern: Cro mit seinem fluffigen Gute-Laune-Rap passt gut zum Westen, Morlockk Dilemma mit seinem garstigen Pöbel-Rap gut zum Osten.
Der Osten hat in Sachen Hiphop einiges zu bieten. Berlin ist nach wie vor das Zentrum mit Charts-dominierenden Aushängeschildern. Aber auch von der Leipziger Szene bin ich tief beeindruckt. Hier gibt es unglaublich viel Bewegung und Talent und so viele Namen, die es verdienen, noch viel bekannter zu werden: Trettmann, Dude&Phaeb, Rasputin, Stylus, Kritikal27, die Funkverteidiger Crew, Omik K, Jahmica, Scientist, Barack Zobama, Duktus, IamPaul, Ranko, Rufus Grimes, Synthikat, Crssspace, Caligari … Je intensiver man in den ostdeutschen Städten und Provinzen nach interessanter Musik sucht, desto spannendere Beispiele lassen sich finden.
kreuzer: Warum erschien dann nie ein Nachfolger von »Pioniermanöver« – zum zehnjährigen Jubiläum 2004/05?
RAS: Die LP-Compilation »Pioniermanöver« wurde damals von Jan Fricke (Fxxx) initiiert. In Dessau gab es Ende der achtziger Jahre zahlreiche Breakdance-Crews, die zu Wettkämpfen von Rostock bis nach Suhl reisten und auch in ihrer Heimatstadt wie Rockstars gefeiert wurden, wenn sie mal spontan eine Show-Einlage in der Disco gaben. Nach dem Mauerfall lösten sich viele dieser Crews auf. Es gab aber auch Tänzer wie Magic Mayer, die sich dafür interessierten, wie die Musik produziert wird, zu der sie in den Jahren zuvor tanzten. Anfang der neunziger Jahre gab es mehrere Beatmaker, DJs und MCs in Dessau, die sich zu Crews formierten und bei Privatpartys oder in Großraumdiscos auftraten. Fxxx nutzte die Gunst der Stunde und bot einigen dieser Bands an, einen Song auf Vinyl zu veröffentlichen. Das Ganze sprach sich auch überregional herum, und bald hatte er so viele Songs zusammen, dass es für mehr als eine LP ausreichte. Die »Pioniermanöver«-LP von 1994 war der Startschuss des Labels Halb-7-Records. Danach folgten sechs Punk/Harcore-Releases, bevor dann Ende 1995 der zweite und letzte Teil der »Pioniermanöver«-Compilation veröffentlicht wurde. Aus meiner subjektiven Sicht war Hiphop für Fxxx ein Mittel zum Zweck, das für sein Label nur in der Startphase eine Rolle spielte. Wenn man sich den Back-Katalog des Labels anschaut, liegt der Schluss nah, dass die musikalischen Vorlieben des Label-Chefs woanders liegen.
kreuzer: Wieso heißt die Platte jetzt »Paralleluniversum«?
RAS: Als wir uns an Fxxx wandten, äußerte er sich ablehnend gegenüber unserer Erwägung, den Titel »Pioniermanöver« dafür zu verwenden. Später machte er auch über einen Anwalt klar, dass er auf sein diesbezügliches Titelschutzrecht pocht. Anstatt das anzufechten, entschieden wir uns für den Titel »Paralleluniversum«, den wir auch gleichzeitig als Namen des Labels auserkoren, über das das Album veröffentlicht werden sollte. Nachdem wir uns für den Titel »Paralleluniversum« entschieden hatten, wollten wir einen kleinen Sticker mit dem Aufdruck »Dessau 1994 – Pioniermanöver, HipHop aus der DDR – 20 Jahre Jubiläum« auf der Einschweißfolie des Albumcovers anbringen. Immerhin sollten sich auf unserem neuen Album insgesamt zehn Artists wiederfinden, die damals schon in das »Pioniermanöver«-Projekt involviert waren. Der Sticker sollte auch auf deren Mitarbeit am damaligen Projekt hinweisen. Auf den Drucksachen zur Ankündigung einer Pre-Release-Party hatte ich das geplante Cover inklusive dieses Stickers abgebildet. Daraufhin begann der Stress mit Halb-7-Records. Per Anwaltsschreiben wurde mir eine Unterlassungserklärung zugestellt. Die Auseinandersetzungen zogen sich über Monate hin und wurden immer kostenintensiver, so dass wir eine Zeit lang auch in Erwägung zogen, die Reißleine zu ziehen und die geplante Veröffentlichung zu canceln. Das konnten wir aber nicht mit unserem Gewissen vereinbaren. Dafür waren schon zu viel Blut, Schweiß und Tränen geflossen.
kreuzer: Womit musstet ihr euch noch herumschlagen?
RAS: Eine der Widrigkeiten war die unterschiedliche Klangqualität der abgelieferten Songs. Einige Stücke waren schon nahezu perfekt abgemischt, andere erhielt ich in einem vergleichsweise rohen Demo-Zustand. Dieser Mangel ließ sich durch das Mastering der Songs durch die beiden Produzenten Timmy Taste & MadEase (Funkfood Rec.) ausgleichen. Einen weiteren Rückschlag erhielten wir, als ich wenige Tage vor der Release Party im Conne Island von einem Kindermusikprojekt in der Lausitz erfuhr, das im März 2015 eine CD unter dem Titel »Paralleluniversum« veröffentlichte. Konsequenzen waren ein Produktionsstopp und neue Verhandlungen …
kreuzer: Wie lief es ab, Beiträge von wichtigen regionalen Labels wie Dominance in Dessau (Kretschi, Dagobert) bis zu den Leipzigern von Germaican (Leander Topp) zu vereinen? Habt ihr euch zusammengesetzt und gesagt, am Anfang machen wir den von Guru/Primo beeinflussten Stil der Neunziger, danach Dancehall und gegen Ende Electro Funk?
RAS: Nein, ich habe einfach nur ein paar alte Kontakte reaktiviert, ein paar neue Kontakte geknüpft und von unserem Vorhaben erzählt. Kretschi und ich waren in den Neunziern mit unserer Band Prime Dominance sehr gut in die ostdeutsche Hiphop-Szene eingebunden. Nach unserem Release auf »Pioniermanöver« gründeten wir 1996 das Label Dominance Records und arbeiteten in der Folgezeit mit Künstlern wie Kolute (LSD Proton), Dagobert, ZM Jay, Poise & DJ Opossum (X-Sample), Jokestar, Lenox und SMC (NorthSideTribe/ NonPlusUltra) zusammen. Ein paar Telefonnummern hatte ich noch aus dieser Zeit in meinem Handy, andere Leute konnte ich über Facebook wieder ausfindig machen. Kretschi lud ich natürlich auch ein, ebenfalls einen Song beizusteuern, aber er war zu der Zeit intensiv mit anderen Projekten beschäftigt. Bei anderen Einladungen hatte ich mehr Glück: ZM Jay z. B. bot mir gleich zwei Songs an. Er erzählte mir von den 3 Glorreichen 5, zu denen neben ihm auch Poise, Mirco Nontschew und Pionear (Leander Topp) gehören, und von einem gemeinsamen Track mit Ronny Trettmann. Als wir aus allen Zusendungen unsere Auswahl für das Album getroffen hatten, setzte ich die Reihenfolge der Songs wie Teile eines Puzzles zusammen, bis sie am Ende ein für mich stimmiges Bild ergaben.
kreuzer: Welche Beiträge wurden exklusiv für diese Platte produziert?
RAS: Exklusivität war ein relevantes Auswahlkriterium. Bei vielen Songs handelt es sich um bis dahin noch unveröffentlichtes Material der Künstler. Aber es gab auch Künstler, die sich nach meiner Anfrage erst hinsetzten und einen exklusiven Track dafür entwickelten. Zum Beispiel »94« von Rasputin, »Bummsman« von BrandCanyonBeton (ehemals O.S.Tee) oder »The Rush« von Bionicx.
kreuzer: Obwohl »HipHop in der DDR« einer der maßgeblichen Tracks auf »Pioniermanöver« war, ist Opossum (B-Side The Norm) jetzt nicht dabei. Mike sagte mir dazu, er sei nicht sauer, aber warum habt ihr ihm nicht angeboten mitzumachen?
RAS: Die Telefonnummer, die ich von ihm hatte, war nicht mehr aktuell. Das bedaure ich wirklich.
kreuzer: Auch Leipziger Rapper wie M. Dilemma und Omik K, die zuletzt bundesweit für Aufsehen sorgten, sind nicht mit von der Partie.
RAS: Die beiden haben zumindest Anfragen von uns erhalten. Morlockk Dilemma arbeitete zu der Zeit gemeinsam mit Hiob intensiv an eigenen Projekten. Omik schien keine Zeit dafür zu haben oder es erschien ihm zu uninteressant.
kreuzer: Zugleich legt ihr viel Wert auf Lokalkolorit mit roughen Lyrics von Seysn33, dem gutgelaunten »Reggae Reggae« oder »Straight out of Volkmarsdorf«, das niemanden an Compton denken lässt. Ist sächsischer Dialekt ein Standortnachteil für überregionalen Erfolg?
RAS: Meiner Meinung nach sieht es tatsächlich danach aus. Ausnahmen bestätigen die Regel. ZM Jay hätte es verdient, dass seine Musik erfolgreicher ist. Mit seinem Song »Fleischerei«, der sächsischen Persiflage auf 50 Cents »Candy Shop«, hat er bei der Release-Party auf jeden Fall heftig das Haus gerockt. Und »Sie Will Ein’ Sachsne« von ZM Jay & Ronny Trettmann war definitiv mein Favorit bei der Überlegung, von welchem Song wir ein Musikvideo produzieren sollten. Nachdem aber Pegida und Legida das nach außen getragene Bild der Sachsen so stark überzeichnet hatten, sah Ronny Trettmann die Aussage dieses Titels so kritisch, dass er sie nicht noch mit einem Video unterstreichen wollte.
kreuzer: Auf dem Cover sieht man eine Hand, die aus einem zylinderähnlichen Gegenstand nach den Sternen greift – in diesem Fall den Saturn berührt: Was hat es damit auf sich?
RAS: Das Cover wurde vom Leipziger Künstler Stefan Lange gestaltet, der auch als Musiker unter dem Namen Duktus einen Song zum Album beigesteuert hat. Er lieferte 1995 den Siegerentwurf für das Frontcover der zweiten »Pioniermanöver«-LP und war schon aus diesem Grund in meinen Augen der beste Mann für die grafische Gestaltung eines Anschluss- oder Nachfolgeprojekts. Als mir Stefan seine Entwürfe vorstellte, faszinierten mich nicht nur seine Skizzen, sondern auch die Erläuterungen, die er mir dazu gab. Der Zylinderhut soll die Macht, das Potential und den Zauber der Natur symbolisieren, die Hand steht für die Gaben und Fähigkeiten, mit denen ein Mensch bei seiner Geburt von der Natur beschenkt wird. Der saturn-ähnliche Ringplanet stellt eine alternative Welt dar, die in einem Paralleluniversum ähnlich wie der Planet Erde intelligentes Leben hervorbringen konnte. Die Hand und den Ringplaneten kann man im Zusammenspiel aber durchaus auch als eine bildliche Abstraktion der Redensart »nach den Sternen greifen« interpretieren. Die Treppe ist ein Symbol für den Lebensweg eines Menschen. Die Stufen der Treppe stehen für die Hürden und Anstrengungen, die ein Mensch im Verlauf seines Lebens überwinden und meistern muss. Der Vogel steht für die Fantasie des Menschen und für seine Fähigkeit, kreativ-schöpferisch tätig zu sein.
kreuzer: Die Compilation soll der Grundstock für den Aufbau eines neuen Labels sein. Was haben wir von diesem Label zu erwarten? Vielleicht Paralleluniversum II mit den restlichen zehn der 30 Tracks?
RAS: Wie stark die Labelarbeit forciert und wie schnell die Compilation fortgesetzt werden kann, ist maßgeblich davon abhängig, ob sich eine Finanzierung für diese Arbeiten findet. Es ist tatsächlich so, dass wir noch weitere schöne Songs auf Lager hätten und eine Fortsetzung nachschieben könnten. Die finanziellen Mittel dafür müssen aber erst reinkommen. Priorität haben also erst einmal alle Maßnahmen, die dazu beitragen, das aktuelle Album zu verkaufen. Ein neu gegründetes Label muss natürlich erst einmal eine funktionierende Infrastruktur aufbauen. Derzeit gibt es das Album ja erst bei sehr wenigen, relativ kleinen Vertriebspartnern.
kreuzer: Du selbst bist nicht nur Labelchef, sondern Musik- und Medienpädagoge in Leipzig. Spielst du deinen Zuhörern eigene Produktionen vor und machst auf die Geschichte des Genres aufmerksam?
RAS: Ich gebe Kurse und Workshops, in denen ich Menschen beibringe, wie sie den PC als Werkzeug zur Song-Entwicklung, als Musikinstrument für einzelne Song-Passagen oder als Multitrack-Studio für komplexe Audio-Projekte verwenden können. Ab und zu spiele ich da auch eine eigene Produktion vor, aber eigentlich eher selten und nur auf spezielle Nachfrage. Ich finde es interessanter und auch für mich selbst lehrreicher, die Songs anderer Künstler hinsichtlich ihres Aufbaus oder ihrer Instrumentierung zu analysieren, nachzuspielen oder in einem Remix neu zu interpretieren.
kreuzer: Wie lautet deine Kurzeinschätzung zur Lage der deutschen Hiphop-Szene?
RAS: Die deutsche Hiphop-Szene hat sich von einem Nischen-Phänomen zu einer Größe entwickelt, die heute deutlich sichtbar in den Top 100 der bestverkauften Singles und Alben mitmischt. Sie hat es geschafft, Menschen quer durch alle Gesellschaftsschichten für ihre Musik zu begeistern. Dass Auszüge von Rap-Texten auf Wahlplakaten von Politikern auftauchen, war selbst vor zehn Jahren noch undenkbar.