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Stadtleben

Es wird weitergehen

Report aus einer rechtsfreien Zone im mittelsächsischen Hügelland, 50 Kilometer entfernt von Leipzig

  Es wird weitergehen | Report aus einer rechtsfreien Zone im mittelsächsischen Hügelland, 50 Kilometer entfernt von Leipzig

Dieser Text erschien im März 2017 in unserer Printausgabe. Aus aktuellem Anlass – die Polizei hat eine Hausdurchsuchung bei N. durchgeführt – haben wir den Text noch einmal hochgeladen. 

Ralf Gorny sitzt im Dunklen auf der Holzveranda seiner Pension in Colditz und raucht Zigarre. Es ist der zweite Advent, die Temperatur unter null. Die Kälte stört den 50-Jährigen nicht. Jeden Abend hockt er hier draußen und beobachtet die Gasse, die an den Seitenfenstern seiner Pension vorbei zum Stadtzentrum führt. Seit mehr als zwei Jahren wird Gornys Haus immer wieder von Vermummten angegriffen. Jedes Mal muss er danach neue Fensterscheiben einsetzen. Die Anschlagsserie begann am 16. Oktober 2014, wenige Stunden nach Ausstrahlung eines Fernsehbeitrags im MDR. Gorny hatte als einziger Einwohner des Ortes ein Interview über den Colditzer Neonazi Uwe N. gegeben, der mit 1,8 Kilogramm Crystal gefasst worden war. »Über die letzten zehn Jahre hat er Gäste meiner Pension belästigt. Er hat gesagt, ihr seid Ausländer und wir brauchen euer Geld nicht.« Noch in der Nacht wurde eine Farbbombe vor Gornys Pension deponiert. Zwei Tage später folgten Drohanrufe: »Du weißt, was du angestellt hast. Das ist die letzte Warnung.« Dabei blieb es nicht.

Bis Dezember 2016 wurde Gornys Haus mehr als zehn Mal mit Böllern beworfen. Am 11. April 2015 flog um 1.30 Uhr eine Kugelbombe, ein für Höhenfeuerwerke bestimmter Sprengkörper mit gefährlicher Streu- und Druckwirkung, auf die Terrasse. Scheiben barsten, ein Tisch und Stühle brannten. Gorny und ein Nachbar verhinderten, dass die Holzveranda in Flammen aufging. Im Oktober 2016 zerstörten zwei zusammengebundene »Viper 12«, in Deutschland verbotene Böller von großer Sprengkraft, drei Scheiben. »Ich hatte Gäste, ein deutsches Pärchen«, sagt Gorny. »Der Mann saß gerade am Fenster am Laptop, als es unter ihm knallte. Die sind am nächsten Morgen abgereist.« Bis heute hat die Polizei keinen der Angriffe aufgeklärt. Nach einem weiteren Anschlag im Frühjahr 2016 verbrachte Gorny zwei Wochen lang jede Nacht auf dem Lidl-Parkplatz hinter seiner Pension. Er saß in seinem Passat und starrte auf sein Haus. Dann konnte er nicht mehr. Inzwischen fährt Gorny jede Nacht zweimal Streife. Die Zeiten variiert er, damit sie nicht berechenbar sind. »Ich werde nachher wieder fahren«, sagt er an diesem Adventsabend. »Eine Runde durch die Innenstadt und dann zu McDonald’s. Und später fahre ich noch mal um den Block rum.«

Die Anschläge auf seine Pension reißen nicht ab, auch Ralf Gorny beginnt langsam zu zweifeln. Der Polizistensohn hadert mit den Behörden, die er über Jahre häufig mit dem Selbstverständnis eines stolzen Bürgers geradezu angetrieben hat. Am liebsten verschickte er markige Faxe mit angeschlossenem Medienverteiler. Jetzt muss Gorny aufpassen, dass er nicht zynisch wird. Als nach Mitternacht eine Polizeistreife vor der Pension wendet, murmelt er: »Die Polizei fährt vorbei. Danke, danke.« Manchmal redet er sich inzwischen selbst ein, dass Schweigen das Beste wäre: »Du darfst den Gästen das mit den vielen zerstörten Scheiben nicht sagen, sonst kommt keiner wieder.« An schlechteren Tagen überlegt er, seine Pension auch zum Verlustpreis zu verkaufen.

Gorny würde vielen folgen, die schon gegangen sind. Nicht nur wegen der Neonazis. In der geschlossen erhaltenen Innenstadt stehen zahlreiche Häuser leer. Colditz hat nach der Vereinigung viele Einwohner verloren. Das große Porzellanwerk – ein großer Teil des in der DDR produzierte Porzellans kam aus Colditz – machte dicht, auch die Schamottefabrik und die jahrhundertealte Brauerei schlossen. Heute ist Anona, ein Nahrungsmittelhersteller, mit rund 400 Beschäftigten das größte Unternehmen in Colditz. Die Stadt wirkt trotz ihrer zentralen Lage inmitten von Sachsen eigentümlich abgeschieden. Der ausgedehnte Colditzer Forst schirmt die Stadt nach Osten ab, die Autobahn beginnt erst hinter Grimma. Ihren Bahnanschluss hat die Stadt schon 2000 eingebüßt, die Busverbindung von und nach Leipzig wird nur in der Woche bedient. Ohne Auto ist man hier erschossen.

Dabei ist Colditz sogar weltberühmt. Das Schloss über dem Städtchen wurde mehr als 200 Jahre lang als Haft- und Umerziehungsanstalt genutzt. Die Nazis hatten dort im Zweiten Weltkrieg ein Sondergefangenenlager für Offiziere eingerichtet. Darum ist Colditz gerade in Großbritannien durch mehrere Kinofilme und Fernsehserien bekannt, die von dummen und brutalen Deutschen und den Ausbruchsversuchen der gefangenen alliierten Offiziere handeln. Es gibt sogar ein legendäres Brettspiel zum Thema, Titel: »Escape from Colditz«.

Eine rechtsfreie Zone entsteht

Seit den neunziger Jahren hat es in der 9.000- Einwohner-Stadt, die nur 50 Autokilometer von Leipzig entfernt liegt, immer wieder rechtsextreme Übergriffe gegeben. 1998 wurde ein elfjähriges Mädchen bei einem Brandanschlag auf das Haus einer türkischen Familie schwer verletzt. Zwei junge Rechtsextremisten wurden als Haupttäter zu Gefängnis verurteilt, die betroffene Familie verließ die Stadt. Fast zur gleichen Zeit eröffnete ein Mann aus dem Leipziger Umland in Colditz einen Holzhandel und zog nach Möseln, ein eingemeindetes Dorf am Stadtrand: Ralf N., Jahrgang 1956. Er scharte die Neonazis der Gegend um sich, machte das Firmengebäude seines Holzhandels zu ihrem Treffpunkt. Die Truppe um Ralf N. jagte regelmäßig Andersdenkende, N. tobte sich außerdem in seinem Heimatdorf an unliebsamen Nachbarn aus. Unter seinem Einfluss wurde Colditz zu einer weitgehend rechtsfreien Zone. Mit den Kameraden feierte Ralf N. häufig Partys. In seinem Firmengebäude in Colditz hatte er extra eine Bar einbauen lassen, vor seinem Privathaus in Möseln zündete er manchmal im Wochentakt Feuerwerk. In der Osternacht 2010 brüllten die Feiernden minutenlang so laut »Sieg Heil«, dass es durchs ganze Dorf schallte. Die Polizei wurde gerufen, kam aber nicht.

»Entschuldige, dass ich angerufen habe«

Es gab einige Colditzer, die den Neonazis ihre Stadt nicht überlassen wollten. Einer von ihnen war Uwe Lewkowitz, der bis heute in der Innenstadt eine Firma für Fernseh- und Antennentechnik betreibt. Er hatte die alte Turnhalle hinter seinem Geschäft gekauft. Seine beiden Söhne organisierten dort Punkkonzerte. Mehrere Male überfielen Neonazis Konzertbesucher, die Scheiben der Halle mussten bald durch Sperrholzplatten ersetzt werden. Am 23. Februar 2008 kam es zum Großangriff. Circa hundert vermummte Neonazis aus der Region versammelten sich an ihrem Stammlokal, dem Gasthof Zollwitz, und marschierten zwei Kilometer zum Laden von Lewkowitz. Mit dem Betonfuß eines Sonnenschirms schlugen sie die gesicherten Scheiben ein, warfen einen Sprengböller und einen Nebeltopf aus NVA-Beständen in den Laden. Der Schaden: 9.000 Euro. Die Polizei, die schon Tage vorher Hinweise auf mögliche Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken erhalten hatte, stand eine Ecke weiter mit fünf Streifenwagen, griff aber nicht ein. Bei ihrem unbehelligten Abzug demolierten die Neonazis, unter ihnen ehemalige Mitglieder der damals schon verbotenen rechtsextremen Kameradschaft »Sturm 34«, noch den Dönerladen des türkischen Ehepaars D.

Das (gekürzte) Notrufprotokoll der damaligen Polizeidirektion Westsachsen dokumentiert, wie verzweifelte Anwohner über drei Stunden versuchten, die Polizei zum Eingreifen zu bewegen:

17.35 Uhr, männlicher Anrufer: Ja, schön guten Tag. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen […] irgendwelche Rechts- oder Linksgearteten stehen da mit 60 Fahrzeugen vor der Gaststätte. Polizist: Hausdorf, Zollwitz. Anrufer: Gaststätte Zollwitz in Hausdorf. Da sind eine ganze Menge Jugendliche. Polizist: Und was lässt Sie darauf schließen, dass das Rechtes oder Linkes ist? Anrufer: Na ja, das sieht man schon. Polizist: Lassen Sie mich mal was sagen. Rechte und Linke sind nicht [unverständlich] beisammen. Da müssen Sie sich entscheiden, guter Mann. Anrufer: Ja, das weiß ich nicht […] Polizist: Sagen Sie mir Ihren Namen noch? Anrufer: Nein, nein, ist klar. Hat sich erledigt.

19.40 Uhr, Herr V. Anrufer: In Colditz ist ja heute bekanntlich Nazi-Aufmarsch und da wollte ich halt melden, dass die jetzt bei Penny sind. Das ist eine Gruppe von ca. 70 Mann. Polizist: Alles klar, Herr V.

19.49 Uhr, Frau S. Anruferin: Ja, guten Tag, hier ist die Frau S. Auf dem Sophienplatz in Colditz geht jetzt gleich was los. Polizist: Was gehtn da los? Anruferin: Die Maskierten sind ja alle hier unten. Auf dem Sophienplatz. Polizist: Ja und? Anruferin: Die treten hier unten alles ein. […] Polizist: Gut, alles klar, Frau S. Wir kümmern uns drum.

19.50 Uhr, Herr S. Anrufer: Schönen guten Abend, mein Name ist S. Wir sind hier in Colditz auf dem Sophienplatz und hier sind ungefähr 50 Vermummte, die hier Fensterscheiben einschlagen von Geschäften. Geschäfte schon anzünden […] Polizist: Ich kümmere mich darum, Herr S.

19.51 Uhr, Frau W. Anruferin: Ich rufe aus Colditz an. Ich habe einfach eine Frage […] Ob hier Nazis oder Linke gegeneinander auftreten. […] Sind Sie da informiert und sind Sie vor Ort? Polizist: Wir sind darüber informiert. Ich bin nicht vor Ort. Anruferin: Gut. […] ich meinte Sie nicht persönlich. Polizist: Ach so. Anruferin: Nein, ich kenne Sie nicht. Polizist: Weil Sie gefragt haben, ob Sie vor Ort sind. Anruferin: Ob Sie vor Ort sind? Ich meine die Polizei, »sie« kleingeschrieben. Polizist: Polizei ist vor Ort.

19.51 Uhr, Herr J. Anrufer: In Colditz auf dem Sophienplatz stehen über 50 vermummte Gestalten. Polizist: Ja, es ist bekannt. Und warum rufen Sie an? Anrufer: Weil diese Gestalten unten gegen ein Haus, wo der Tele-Service drinnen ist, treten, schlagen, Sprengkörper werfen. Polizist: […] Sind Sie nur ein normaler Hinweisgeber oder wer sind Sie? Anrufer: Ich bin nur ein normaler Hinweisgeber. […] Anrufer: Was wird da gemacht? Kann ich … Polizist: Hören Sie, das kann ich Ihnen nicht sagen, was da gemacht wird. Das ist polizeitaktisch […] Aber das will ich Ihnen jetzt nicht am Telefon sagen, Herr J.

19.52 Uhr, Herr K. Anrufer: Hier in Colditz auf dem Sophienplatz. Da wird randaliert gerade eben. Schaufenster und Autos. Polizist: Wie ist denn Ihr Name? Anrufer: K., aber ich will auch nichts weiter mit den Leuten zu tun haben. […] Polizist: Ja, ist klar, Herr K.

19.55 Uhr, Herr H. Anrufer: Hier ist H. aus Colditz, Sophienplatz. Da ist wieder Randale aufm Platz. Polizist: Ist bekannt. Anrufer: Ist bekannt? Polizist: Ja

19.55 Uhr, Anruferin: Guten Tag, hier sind gerade Randalierer unterwegs, auf der Sophienstraße. […] Polizist: Das ist bereits bekannt. […] Wir kümmern uns darum.

19.58 Uhr, Anrufer: […] Es wurde auch schon angerufen von hier. Alles Vermummte. Haben die Schaufensterscheiben von dem Tele-Service-Laden eingeschlagen, lassen hier Böller los. […] Polizist: Hm. Ist bereits bekannt. Anrufer: Na hoffentlich kommt auch mal jemand. Polizist: Ja.

20.04 Uhr. Frau S. (ruft zum zweiten Mal an) Anruferin: Die haben beim Teleshop auf’m Sophienplatz alles eingeschlagen. Polizist: Ja. Anruferin: Und die sind, die ganze Truppe ist jetzt durch’n Tunnel unten in die Töpfergasse gelaufen. Polizist: […] Sind das ca. 50– 100 Mann? Anruferin: Ach, über 100 Leute. Polizist: Ja, die Kollegen sind alle unterwegs und auch schon vor Ort. […] Anruferin: Und die wollten auch hier oben beim Jugendklub auch irgendwas anstecken. Polizist: Aha, gut. Anruferin: Hab ich mitgehört. Polizist: Also, wenn Sie Beschädigungen festgestellt haben, können Sie jederzeit zur Anzeige dann aufs Polizeirevier gehen, ja?! Anruferin: Ja, die haben hier unten schon alles eingeschlagen beim Tele-Service.

20.23 Uhr, Anruferin: […] Ich habe bloß mal eine Frage. Als besorgter Bürger. Also bei uns in Zschadraß hinten am Haus stehen ganz, ganz viele Autos und Jugendliche. Geht das in Ordnung? Polizist: Das geht in Ordnung. […] Anruferin: Oh, mir wurde es himmelangst. Da wissen Sie Bescheid? Polizist: Ja.

20.28 Uhr, Frau D. (Mitbesitzerin eines DönerLadens in Colditz) Anruferin: […] Wir brauchen hier Polizei. Bei uns ist Scheibe kaputt gemacht. Bitte schicken Sie jemanden hierher. Polizist: Ja, wir schicken jemanden hin.

20.43 Uhr, Frau D. ruft zum zweiten Mal an. Anruferin: Ich habe vorhin angerufen. Arbeitet die Polizei? Polizist: Ja, die arbeitet. Anruferin: Aber wo? Seit um acht ich warte auf Polizei, noch niemand ist gekommen. Polizist: In Colditz, das bearbeiten die alle. Anruferin: Aber wo? Polizist: In Colditz, aufm Sophienplatz. Anruferin: Bitten einen schicken Sie hier. Polizist: Ja. Anruferin: Wir haben schon vorher gesagt, schicken Sie jemanden. Polizei: Ja, aber wenn ich keine habe, Frau D. Anruferin: Bitte, bitte, aber bitte schicken Sie jemanden. Polizist: Ja, ich sage noch mal Bescheid.

20.44 Uhr, Herr W. Polizist: Herr W.: Ja, ich bin da. Polizist: Das freut mich. Das war’s dann schon, ne? Anrufer: Nein, das war’s noch nicht. Polizist: Sollten Sie sich noch mal melden? Anrufer: Nein, […] Aber ich wollte noch was sagen. Polizist: Na, dann sagen Sie mal was. Anrufer: Hier fahren jetzt die Jugendlichen zweimal hoch und runter. Kontrolle machen. Ob ich da bin. Polizist: Na, das ist doch schön. Anrufer: Ja. Dankeschön für die Auskunft. Polizist: Was wollen Sie denn eigentlich von mir? Anrufer: Ist heute Abend was passiert, oder was? Polizist: Wo denn? Anrufer: Wo denn? Na, bei mir daheim. Polizist: Was soll denn da passieren? Anrufer: Die haben mir schon drei-, viermal die Scheiben eingedroschen. Ein fünftes Mal nicht noch mal. Polizist: Und was soll ich da jetzt machen? Soll ich mich jetzt vor die Scheibe stellen oder wie haben Sie sich das gedacht? Anrufer: Entschuldige, dass ich angerufen habe. Ich werde es nie wieder machen.«

Holzhändler Ralf N. war der Einzige, der an diesem Abend festgenommen wurde. Er war den Polizisten zweimal aufgefallen, weil er und sein Sohn Uwe im Audi A8 die Einsatzkräfte auskundschafteten. Dann fing N. an, die Beamten zu beleidigen, und versuchte, sie anzugreifen. Ein Zeuge berichtete später der Polizei, N. habe ihn schon eine Woche vorher gewarnt, er solle sich am Sonnabend besser vom Stadtzentrum fernhalten. N. kam mit einer Bewährungsstrafe davon – die Überfälle auf Lewkowitz’ Geschäft und auf den Dönerladen der Familie D. blieben ungeahndet. Lewkowitz zog daraufhin vor das Verwaltungsgericht Leipzig und bekam im November 2012 recht. Unmissverständlich stellte das Verwaltungsgericht fest, dass es die Polizei »trotz Kenntnis einer Gefährdungslage« versäumt hatte, sein Geschäft zu schützen. Auf Grundlage dieser rechtskräftigen Entscheidung verklagte der Fernsehmechaniker den Freistaat Sachsen auf Schadenersatz, scheiterte aber am Oberlandesgericht Dresden.

Dass der damalige FDP-Bürgermeister als Reaktion auf die Naziüberfälle weitere Konzerte in Lewkowitz’ Halle verbot und 2009 ein vom Deutschen Fußballbund unterstütztes antifaschistisches Fußballturnier verhinderte, hat auch seine Einstellung zu Colditz verändert. »Colditz als Ort interessiert mich nicht mehr«, stellt Lewkowitz lapidar fest. »Ich gehe hier nicht mehr aus, ich engagiere mich nicht mehr, ich sponsere nichts mehr. Wenn, dann mache ich das in Leipzig.« Seine Söhne haben die Stadt längst verlassen. Auf die Frage, wer in Colditz das Sagen habe, antwortet der Unternehmer: »Monate nach dem Überfall auf den Laden kam auf einmal Ralf N. rein. Er hat ja immer bestritten, dass er mit den Angriffen auf uns was zu tun hat. Er sagte: ›Wir müssen doch eigentlich keinen Krieg gegeneinander führen.‹ Ich antwortete: ›Von mir aus ist es sowieso keiner.‹ Ab da war bei uns Ruhe.« Doch woanders gingen die Überfälle weiter. Nicht selten war die »braune Halle«, wie Colditzer den Holzhandel von Ralf N. nannten, der Ausgangspunkt. Mal schlug er selbst zu, mal seine beiden Söhne, die anderen Mitangreifer konnten oft nicht identifiziert werden. Die Opfer: Linke, Bundeswehrsoldaten, Ex-Kameraden. 2010 erlitten zwei Attackierte ein Schädel-Hirn-Trauma. In dem erst zwei Jahre später folgenden »Sammelprozess«, in dem auch Beleidigungen und Fahren ohne Führerschein zur Anklage kamen, verhängte der Richter am Amtsgericht Grimma Bewährungsstrafen und stellte den N.s eine günstige Sozialprognose aus: »Bei den Angeklagten Andreas, Uwe und Ralf N. ist davon auszugehen, dass sie sich nunmehr die Bewährungsstrafe zur Warnung dienen lassen, zukünftig ein straffreies Leben zu führen.« Der »alte« N. brachte es zu diesem Zeitpunkt 2012 bereits auf 21 Vorstrafen.

»Die wollten uns totschlagen«

Am Telefon will Max gar nichts sagen. Wir treffen ihn in einer Nachbarstadt von Colditz. Obwohl seit dem Überfall sechs Jahre vergangen sind, braucht Max eine Stunde, bevor er darüber reden kann. Als er im Sommer 2010 mit Freunden von einer linken Demo zurückfuhr, wurden sie ab dem Holzhandel der Familie N. in Colditz von vier Autos verfolgt. »Wir sind dann auf die Bundesstraße gerast, um wegzukommen. Aber einer überholte uns und stellte das Auto quer.« Vermummte sprangen aus den Wagen und droschen wie entfesselt mit Baseballschlägern auf den Pkw ein. »Ich hörte es splittern und dachte nur, die Scheiben haben sie geschafft, gleich sind wir dran. Die waren so voller Hass, die wollten uns totschlagen«, erinnert sich Max. »Ich war so aufgeregt, dass ich es nicht einmal hinbekam, die 110 zu wählen.« Plötzlich waren aus der Ferne Polizeisirenen zu hören. Die Täter flüchteten. Andere Autofahrer hatten die Polizei gerufen. Zwar wurden später Verdächtige ermittelt, doch nur einer erhielt eine Strafe: Wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr musste ein Kampfsportler aus Colditz Arbeitsstunden leisten.

Der Schikanepferch

Uwe Leisering war sehr zufrieden, als er nach der Jahrtausendwende nach Möseln zog. Ein ruhiges 80-Einwohner-Dorf zwischen sanften Hügeln, ein neues Haus. Endlich hatte der Lokführer Platz, um für seine Sammlung über die stillgelegte Muldentalbahn ein kleines, privates Museum einzurichten. Schnell nahm der gesellige Nachbar Ralf N. Kontakt zu ihm auf, brachte verbilligte Scheite aus seinem Holzhandel vorbei. Beide Männer gingen gemeinsam in die Sauna. Als wir Leisering im Herbst 2014 kennenlernen, sitzt er mit fünf dicken Leitz-Ordnern an seinem Wohnzimmertisch. Die Akten dokumentieren seine Auseinandersetzungen mit N. Der Lokführer und seine Familie durchlebten eine zehnjährige Tortur, die Leisering im Telegrammstil zusammenfasst: »Dauerhaftes, permanentes Stalking. Täglich, mehrfach. Von früh bis spät, bis in die Nacht hinein. Wir mussten uns um unser Grundstück herum regelrecht verbarrikadieren.«

Es fing damit an, dass N. mit einer Schatulle vorbeikam und Leisering um einen Freundschaftsdienst bat. Das Finanzamt sei hinter ihm her, ob er einige Wertsachen für ihn aufheben könne. Leisering legte die Schatulle in seinen Schuppen. Er erinnerte sich erst wieder daran, als seine Frau aufräumte und ihn fragte, seit wann sie denn einen Revolver besäßen. Der erschrockene Beamte gab die Schatulle zurück. N. bot ihm mehrfach Dinge unklarer Herkunft an, Leisering lehnte dankend ab. Dann forderte N., Leisering solle ihm helfen, eine Nachbarsfamilie fertigzumachen. Der Lokführer weigerte sich. Es kam zum Bruch. Von da an beleidigte und bedrohte N. ihn und seine Frau, lauerte der kleinen Tochter auf dem Weg zum Schulbus auf, drohte, ihr die Kehle durchzuschneiden. Das Kind musste psychologisch betreut werden.

Leisering erstattete Anzeigen, am Ende waren es mehr als 80. Viele Verfahren stellte die Justiz ein, anderes kam erst zur Anklage, nachdem sich Leisering eine Anwältin genommen hatte. N. erwarb auf den Namen seines Sohnes ein Stück Land unmittelbar hinter Leiserings Haus und errichtete einen »Schikanepferch«, wie Leisering ihn nennt. Bis zu 100 Hühner hielt N. dort, zusammen mit Gänsen und Wildschweinen. Ständig warfen Ralf N. oder seine jungen Nazi-Kameraden neue Tiere in das Gatter. Der Lokführer nahm den Lärm hinter seinem Schlafzimmerfenster auf: Es klingt, als stehe man mitten in einer Massentierhaltungsanlage. Erst 2013 verschwand der Pferch. Trotz mehrerer Bewährungsstrafen terrorisierte Ralf N. seine Nachbarn weiter, verstieß permanent gegen das schließlich vom Gericht verhängte Annäherungsverbot. Leisering protokollierte die Vorfälle akribisch, benannte Zeugen und schrieb Anzeige um Anzeige. Mit seiner Hartnäckigkeit setzte er sich durch: Im Juni 2014 musste Ralf N. wegen Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen für anderthalb Jahre ins Gefängnis. Der Lokführer hatte den selbst ernannten Herrscher von Colditz aus dem Gleis geschoben.

In den Selbstmord getrieben

Andere Opfer in Möseln hatten nicht so viel Kraft wie Leisering. Frau S. ist 2008 weggezogen. Ihr Haus ließ sie unverkauft zurück. Im Dorf tuscheln die Leute: wegen Ralf N. Der habe ihren Mann in den Selbstmord getrieben. Frau S. hat es bisher geschafft, ihre neue Adresse vor Ralf N. zu verbergen, und wir treffen sie in einer weit entfernten Stadt. Als die schmale Mittvierzigerin hört, dass wir sie vergeblich gesucht haben, lacht sie. Ihr Anwalt habe geraten, eine erfundene Adresse anzugeben. Später hat sie von Bekannten gehört, dass Ralf N. an ebendieser Anschrift nach ihr gesucht habe. Dann werden ihre Sätze karger, als berichte sie aus einem fremden Leben. »Mein Mann hatte 1998 seine Arbeit verloren. Dann fing er an, mir zu erzählen, dass ihn Ralf N. bedrohe. Ich habe die Schilderungen für übertrieben gehalten, weil mir nie etwas aufgefallen war. Ich dachte, er will sich wichtigmachen, weil er zu Hause sitzt und ich arbeite.« N. drohte, er werde ihren Mann umbringen. Einmal war der Auspuff seines Autos mit Bauschaum zugesprüht. Spätestens da wusste Frau S., dass ihr Mann nicht fantasierte. Die Scheiben der nebenan wohnenden Eltern wurden schwarz angemalt, das Gurkenzelt zerstört. Zeugen zogen nach Einschüchterungen ihre Aussagen zurück. Sie habe dann aufgehört, bei der Polizei anzurufen, sagt Frau S. Die sei oft einfach nicht gekommen. Einmal habe N. auf der Straße geprahlt, er brauche den Krieg. Angefangen hatte es, wie bei Leisering, wegen einer Nichtigkeit. Ihr zunehmend zermürbter Mann ging schließlich von Haus zu Haus, wollte Unterschriften sammeln, um die Behörden zum Eingreifen gegen N. zu bewegen.

Doch niemand im Dorf außer ihren Eltern und einer anderen gemobbten Familie wollte unterschreiben. »Später hat mein Mann mich gebeten: ›Lass uns wegziehen.‹ Aber ich wollte nicht. Da sah er offenbar keinen Ausweg mehr.« Ein paar Tage später fuhr ihr Mann, 42 Jahre alt, in sein Elternhaus und schnitt sich die Pulsadern auf. Uwe Leisering und seine Familie haben die Attacken von Ralf N. noch länger ausgehalten als Frau S.
Dann sind auch sie weggezogen, haben ihr Haus in Möseln mit Verlusten verkauft. »Die ersten zwei, drei Jahre waren meine Frau und ich uns einig, dass er es nicht schafft, uns hier rauszutreiben«, sagt Leisering. »Aber du hast ein Herz und ein Gewissen, was dieser schwer kriminelle Psychopath nicht hat. Als er ins Gefängnis kam, haben wir uns gesagt, wir nutzen die anderthalb Jahre und suchen das Weite.« Leiserings haben auch alle offenen Verfahren zurückgenommen. Zu oft erlebten sie, dass nichts rauskommt. Der Eisenbahner hat sich seine Erlebnisse von der Seele geschrieben. Die ersten 50 Seiten des Manuskripts lesen sich wie der lange unterdrückte Entsetzensschrei eines Bürgers, der sich vom Staat verraten fühlt.

Eine zu kurze Atempause

2012 vollzog sich eine kleine Wende. Bis dahin kam die Polizei in Colditz oft zu spät oder überhaupt nicht. Doch nun brodelte es in der Bürgerschaft. N. und seine Söhne rasten so oft im Porsche, Audi oder Mercedes durch die verwinkelte Altstadt, dass sich Anwohner und Touristen bedroht fühlten. Anzeigen beeindruckten sie nicht. Im Frühjahr posierte eine Gruppe vermummter Neonazis vor dem Schloss, in dem im Zweiten Weltkrieg kriegsgefangene Offiziere der Alliierten interniert waren. Nicht allein der neue Bürgermeister begann, um das Image der Touristenstadt zu fürchten. Als das Naziproblem endlich im Stadtrat auf die Tagesordnung gesetzt wurde, erschien auch Ralf N. und rief einfach dazwischen. Sein Begleiter, der Betreiber des Gasthofes Zollwitz, jammerte lautstark, er lebe von den Nazis. Wenn die wegblieben, könne er zumachen. Der Leipziger Polizeipräsident Bernd Merbitz, an diesem Abend als offizieller Gast im Colditzer Stadtrat eingeladen, fuhr den Gastwirt an: Für Nazis habe er kein Verständnis. Wenig später schickte Merbitz junge Bereitschaftspolizisten nach Colditz.

Sie versuchten, die Rasereien der N.s zu unterbinden. Mit dem jüngeren Sohn Uwe, der längst keinen Führerschein mehr hatte, lieferten sie sich filmreife Verfolgungsjagden. Als zwei Beamte im September 2014 in Frohburg Streife fuhren, entdeckten sie Uwe N. An seinen Mercedes gelehnt unterhielt er sich mit einem Bekannten, der erst kürzlich eine Haftstrafe wegen Drogenhandels abgesessen hatte. Beide Männer wirkten benebelt, die Polizisten machten einen Amphetamintest: positiv. Uwe N. stieß einen Beamten um und versuchte erfolglos zu flüchten. In seinem Mercedes fanden die Polizisten 1,8 Kilogramm Crystal. Ein Insider aus der Drogenszene erklärt, Uwe N. habe das Crystal in Mengen ab 100 Gramm meist per Motorrad in den Nachbarstädten verteilt. Er wurde als Einzeltäter zu vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Als er kurz nach seiner Verhaftung bei einem Prozess wegen Fahrens ohne Führerschein über seine Crystal-Abhängigkeit sprach, brachte der 26-Jährige kaum einen verständlichen Satz heraus.

Während Ralf und Uwe N. im Gefängnis einsaßen, wurde es ruhiger in Colditz. Keine lauten Nazi-Partys mehr, keine Rasereien. Die engagierten Bereitschaftspolizisten wurden versetzt. Betrieb herrscht nachts nur im ehemaligen Dönerladen. Die türkische Betreiberfamilie hat auf Spielautomaten umgestellt. An denen hocken bis in die Morgenstunden die Crystal-Abhängigen der Stadt. Ralf N. durfte die Haftanstalt im Oktober 2015 frühzeitig wieder verlassen, steht aber noch unter Bewährungsauflagen. In der Öffentlichkeit hält er sich auffällig zurück. In Colditz lässt sich Ralf N. seitdem nur bei Tageslicht blicken. Dort saniert er zwei Mehrfamilienhäuser, die seine in einer Wäscherei angestellte Frau 2013 erworben hat. N. selbst, der den Holzhandel offiziell an seinen älteren Sohn übertragen hat, gibt sich seitdem als Hartz-IV-Empfänger aus und hat schon mehrfach Prozesskostenbeihilfe beantragt.

Ralf Gorny
Überschrift

»Es geht weiter«

Bei Ralf Gorny bleibt es an diesem zweiten Adventssonntag im Dezember 2016 ruhig. Er sitzt wieder auf der Veranda vor seiner Pension. Er hat die Akten geholt. Die Ermittlungen wegen der Farb- und der Kugelbombe sowie der Drohanrufe sind inzwischen eingestellt. Die Kriminaltechniker beschreiben den auf den Farbeimer geklebten Sprengsatz als »professionell selbstgebaut«. Nur ein Fehler in der Zündschnur habe die Explosion verhindert. Die Kugelbombe, die fast das Haus in Brand gesetzt hätte, ist in Deutschland nicht zugelassen. Viel mehr wurde nicht ermittelt: Gornys Hinweise auf Tatverdächtige ließen den zuständigen Leipziger Staatsanwalt kalt. Zwar identifizierte die Polizei anhand der Nummer, die Gorny notiert hatte, den Inhaber des Mobiltelefons, von dem mutmaßlich die Drohanrufe kamen. Doch der Mann, ein Ex-Holzhändler aus der Gegend und bereits durch gemeinsame Straftaten mit Uwe N. aufgefallen, erschien einfach nicht zur Vernehmung. Der Staatsanwalt nahm das hin. Als ihm einfiel, die Standort- und Verbindungsdaten des Mobiltelefons vom Tatabend zu erheben, waren diese längst gelöscht. 24 Stunden nach dem Besuch meldet sich Gorny erneut. Wie immer beginnt er mit »Es geht weiter«, dann berichtet er im Stakkato von einem neuen Anschlag. Drei Böller, ein Fenster kaputt, einen Täter erkannte er. Vier Tage später taucht Ralf N. das erste Mal seit seiner Haftentlassung vor der Pension auf. Neben ihm steht ein junger Mann, den Gorny beim Anschlag wegrennen sah. Mit der Bierflasche in der Hand stiert N. minutenlang auf Gornys Veranda und dreht sich dann wortlos um. Gorny weiß: Es wird weitergehen.


Titelfoto: Marktplatz von Coldit. Thomas Victor.


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