»Rapefugees welcome – danke Jung und Merkel«: Diejenigen, die diese Schriftzüge vergangene Woche im Clara-Zetkin-Park auf dem Boden hinterließen, waren sich ihrer Sache sicher. So sicher wie viele Medien, die nach dem brutalen Sexualdelikt auf eine Joggerin im Rosental nicht nur die Herkunft des Täters (Polizeibeschreibung: »südländischer Typ«) klar bestimmen konnten. Sie wussten auch von einem Anstieg der Fälle in der Stadt zu berichten und von No-Go-Areas für Frauen. Allein joggen sollten die ohnehin nicht mehr.
Die Politik nutzte den Fall sogleich, um mehr Polizeikräfte von der Landesregierung zu fordern. In den zynischen Inszenierungen und Übertreibungen spielen Opferschutz und tatsächliches Gefährdungspotenzial höchstens eine untergeordnete Rolle. Die städtische CDU plant sogar, die Mitarbeiter des Ordnungsamts mit Pfefferspray und Minimalschulung auf potenzielle Gewalttäter losgehen zu lassen – wen interessiert schon der Eigenschutz, wenn man polizeiliche Befugnisse erhält (mehr dazu in kreuzer 10/2017)?
Zum »Opfer eines Sexualdelikts« – man sprach ausdrücklich nicht von Vergewaltigung – wurde eine Joggerin vormittags in einem städtischen Park, wie es in der Polizeipressemitteilung steht. Ein Mann riss sie zu Boden, »schlug und trat ihr mehrfach heftig ins Gesicht, zerrte sie vom Weg auf eine Wiese und verging sich dort an ihr«. Die Frau musste aufgrund schwerer Gesichtsverletzungen notoperiert werden. Um Zeugen zu finden, ging die Polizei an die Öffentlichkeit. Doch alle Frauen gewarnt, nicht mehr joggen zu gehen, habe sie nicht, betont der Sprecher der Polizeidirektion, Andreas Loepki: »Wir haben noch nie Empfehlungen ausgesprochen, Örtlichkeiten im Sinne einer No-Go-Area zu meiden, sondern maximal – und meist auf journalistische Nachfrage – gefahrenabwehrende Hinweise erteilt, damit BürgerInnnen nicht selbst Opfer einer Straftat werden.« [sic!]
Man kann es jetzt lässlich finden, zwischen einer Warnung und allgemeinen Hinweisen zu unterscheiden, aber in einer Debatte um Sicherheitsgefühle, die nun wieder massiv hochkocht, kann man nicht sensibel genug agieren. Denn natürlich muss man das Gefühl von Unsicherheit ernst nehmen. Der Stadtordnungsdienst »bestreift« nun vermehrt die Grünanlagen – in einer der grünsten Städte Deutschlands ist das ein riesiges Gebiet.
Der Anstieg der Vergewaltigungen gegenüber dem Vorjahr um 70 Prozent klingt dramatisch. Auch wenn jeder Fall einer zu viel ist: Im Stadtgebiet waren es 29 Vergewaltigungen im Jahr 2016, im Vorjahr 17 (laut LVZ, die Polizeidirektion weist für ihr Zuständigkeitsgebiet – Stadt Leipzig, Landkreis Leipzig, Landkreis Nordsachsen – 38 Fälle für 2016 und 23 für 2015 aus). Bei einer so kleinen Zahlenbasis haben Prozentangaben eine hohe Suggestions- gegenüber der Aussagekraft. Mehr Informationen kann die Polizei nicht geben, erklärt Pressesprecher Loepki, weil das erst mal einzeln erfasst werden müsse. Auch kann er die Geschlechter von Betroffenen und mutmaßlichen Tätern nicht ins Verhältnis setzen. Von den jeweiligen Tatsituationen – anonymer Überfall in Park und Disko oder Tat im Familien- oder Bekanntenkreis – ganz zu schweigen. Es lässt sich also nicht sagen, ob der Angriff durch einen unbekannten Täter in Leipzig die Ausnahme oder Regel ist und wie er sich zum Umstand verhält, dass bundesweit die Täter bis zu 80 Prozent aus dem Nahbereich stammen.
Loepki ist ohnehin skeptisch, dass das wenige Material belastbare Erkenntnisse für die Polizeiarbeit erbringe: »Insgesamt glaube ich, dass dieses Themenfeld hinsichtlich des zu betrachtenden Raumes und statistischer Auswertbarkeit größer gefasst werden muss, als es das Zuständigkeitsgebiet der Polizeidirektion Leipzig erlaubt. Ferner merke ich an, dass die Daten für 2017 wahrscheinlich deutschlandweit nach oben schnellen werden, was dann aber maßgeblich mit der Änderung des StGB (Novellierung § 177) zu tun hat und eine Vergleichbarkeit zu Vorjahren erschweren wird.«
Für den medialen Alarmismus besteht kein Anlass, zu Entwarnung natürlich auch nicht. Denn natürlich finden sexuelle Übergriffe statt und in einer noch immer patriarchal und sexistisch geprägten Gesellschaft zählen zum Großteil Frauen zu den Betroffenen. Sie können – und das ist wirklich alarmierend – überall passieren, nicht nur beim Joggen und nicht nur durch Unbekannte.