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Klassikblase versus Experiment

Städtische Musikfestivalmacher bewegen sich gern auf sicherem Terrain – auf Kosten von Experimentierfreude und Lebendigkeit

  Klassikblase versus Experiment | Städtische Musikfestivalmacher bewegen sich gern auf sicherem Terrain – auf Kosten von Experimentierfreude und Lebendigkeit

Anfang November wurde im Neuen Rathaus ein Entwurf von Leipzigs zukünftiger Festivallandschaft im Bereich der klassischen Musik vorgestellt. Visionär ist es weiß Gott nicht, was im Auftrag der Münchner Managementberatungsfirma Metrum als sogenanntes Vorzugsszenario für die kommenden Jahre entworfen wurde. Man setzt vor allem auf bewährte Tradition im Sinne bestmöglicher touristischer Vermarktung der Stadt. Was einmal funktioniert hat, wirds auch in Zukunft tun. Vakuumverpackte Kulturpakete mit Funktionsgarantieversicherung.

Neben dem weiterhin jährlichen Bachfest soll es im selben Rhythmus ein zusätzliches Musikfestival geben, das abwechselnd von Oper und Gewandhaus ausgerichtet wird. Die ab 2022 geplanten Opernfestspiele widmen sich dabei vor allem Wagner und Strauss. Die Gewandhausfestspiele fokussieren Mendelssohn und die Romantik. Alle paar Jahre soll ein großer Sinfoniker im Mittelpunkt stehen, 2021 beginnt man mit Mahler, weil das Mahler-Fest 2011 ein großer Erfolg war.

Die Attraktivität einer Stadt kann sich auch im klassischen Musikbereich nicht nur aus erfolgreich erprobter Dauerkonservierung und Repetition von Musiktraditionen ergeben. Ein progressives Kunst- und Kulturverständnis würde auf Inhalt, Lebendigkeit und Gegenwartsnähe setzen. In welche Richtung die Festivalkonzeption innerhalb der Hochkultur-Musikbranche alternativ weisen könnte, zeigt als etablierter Klangkörper derzeit das MDR-Sinfonieorchester mit experimentierfreudigen und zeitgemäßen Programmentwürfen. Diese können nicht als Patentrezept für Musikfestivals der Zukunft herhalten, da sie freilich nur eine, aber dafür recht prägnante und in sich stimmige Ausformulierung der speziellen Vorlieben und Netzwerke des Chefdirigenten Kristjan Järvi widerspiegeln und damit ein Spezialfall sind.

Dadurch wirken sie als glaubhaftes Gegenmodell zum durchschnittlichen Klassikprogramm, das sich darin genügt, Evergreens mit Etabliertem zu kombinieren. Seit der Spielzeit 2014/15 konzipiert Järvi mit seinen Festivals mehrmals im Jahr thematisch gebundene Konzertreihen, welche neben Klassikern vor allem hierzulande weniger bekannte, viel neuere, meist sehr zugängliche Musik, auch genreübergreifend in Verbindung mit anderen Medien, präsentiert. Viele der gespielten Komponisten haben ihre Wurzeln in Popbands oder im Minimal-Bereich und benutzen und fordern ein Orchester in ganz anderer Weise.

Die Angst vor dem Neuen und Unbekannten

Die in der Klassikbranche verbreitete Angst vor dem Neuen und Unbekannten hat Järvi mit seiner überaus zugänglichen, teilweise fast populistischen Musikauswahl ad absurdum geführt. Sein Repertoire ist zwar zeitgenössisch, aber weit vom Programm eines avancierten Neue-Musik-Festivals entfernt. Järvi setzt auf groovige Rhythmen, das ganz elementare Erleben von Musik und die sinnliche Freude am Hören. Seine Auswahl hat das Potenzial, viele Menschen zu begeistern. Leider hat er über die Jahre zu viel Angriffsfläche im Bereich der Orchesterpflege geboten und sich damit selbst ein Bein gestellt. Auch Ausflüge in bizarre ästhetische Niederungen waren inklusive, aber eher verzeihlich: Geschmackliche Entgleisungen hat auch jeder traditionelle, kanonorientierte Orchester- und Opernspielplan aufzuweisen und nur im Kontrast lernt man Gutes schätzen und Neues kennen. Kurzweilige Konzerte in verschiedenen Besetzungen mit Beats oder Medieneinsatz fanden auch an weniger konventionsgebundenen Orten wie Schaubühne, UT Connewitz oder dem Werk 2 ein natürliches Zuhause, was wiederum neues Publikum generierte, weil Orchestermusik sich plötzlich urban, zugänglich ohne Dresscode gab. Für Leipziger Verhältnisse, für eine Stadt ohne internationale Festivals zeitgenössischer Musik, ist das ein erster Schritt in der Ausrichtung eines gewichtigen Klangkörpers, der in zeitgemäßer Weise an die Gegenwart andockt. Diese innovative Ausrichtung des Orchesterspielplans 
ist Järvi zu verdanken und gleichzeitig sein Verdienst an diesem Klangkörper. Kaum aber hat das Publikum das Prinzip der MDR-Festivals verinnerlicht, endet nun Järvis Vertrag zum Ende der Spielzeit 2017/18.

Für den MDR wird es nicht leicht werden, eine ähnlich charismatische, nicht nur in der Klassikblase sich bewegende und denkende Musikerpersönlichkeit zu finden, die aber gleichzeitig die Herausforderungen eines speziellen Repertoires für einen klassisch geprägten Klangkörper ernst nimmt, um dadurch dessen spielerisches Potenzial voll zur Entfaltung zu bringen. Für die Stadt jedenfalls wäre ein Selbstverständnis, das neben klassischen Qualitätsmarken auch auf Orchester oder Ensembles mit avanciertem, risikofreudigem Spielplan und Festivals setzt, ein glaubwürdiges Aushängeschild auf dem Weg zur Weltstadt.


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