Eine Lappin, die in Uppsala ihre Vergangenheit loswerden will, eine Kopfgeburt von Regisseur Christian Petzold, ein dreckiger kleiner Gangsterfilm mit Starensemble und ein 14-Jähriger in Italien, der die Zuschauer fordert, erschreckt, entsetzt – das alles in den neuen Kinofilmen dieser Woche.
Film der Woche: Elle Marja ist, genau wie ihre Schwester Njenna, als gebürtige Lappin Angehörige der skandinavischen Ureinwohnerethnie, die im Schweden der 1930er Jahre als minderwertig angesehen wird. Ihr Volk, das sich heute »Sámi« nennt, gilt durch die damals praktizierte Rassenlehre als geistig unterentwickelt und minderbegabt. Das bekommt auch Elle Marja zu spüren. Vor allem in der Schule, wo man ihr die samische Sprache brutal austreibt und sie Opfer einer zutiefst erniedrigenden Untersuchung im Biologieunterricht wird. Der Rest ihrer Familie hat sich jedoch in ihr Schicksal gefügt und geht in Folkloretracht und ärmlichen Verhältnissen der Rentierzucht nach, so, wie die Gesellschaft es für sie vorsieht. Irgendwann hat die intelligente 14-Jährige aber genug von der Ungleichbehandlung und dem klaglosen Verharren in Traditionen und wagt den Ausbruch: Nahezu mittellos begibt sie sich in die Studentenstadt Uppsala, um mit einer neuen Identität als »schwedische« Christina ein anderes, selbstbestimmtes Leben zu beginnen. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht so einfach ablegen.Bemerkenswert ist das authentische Spiel von Laiendarstellerin Lene Cecilia Sparrok: In der Rolle der jugendlichen Elle Marja ist sie Herz und Seele des Films und verleiht ihrer Figur eine gleichermaßen rebellische wie verletzliche Seite. Amanda Kernell ist nicht zuletzt mit ihrer Hilfe ein stilles Drama geglückt, das einen dunklen Fleck auf der weißen Weste des heute so toleranten Schwedens beleuchtet. Die Regisseurin, die selbst eine Sámi ist, lässt Elemente ihrer eigenen Autobiografie in ihr sehenswertes Spielfilmdebüt einfließen und zeigt anhand der Rahmenhandlung um die gealterte Elle Marja/Christina auch die Probleme, die viele Angehörige der Samen-Minderheit bis heute mit ihrer Identität haben, weil sie ihrem kulturellen Erbe unverhohlen ablehnend gegenüberstehen. PETER HOCH
»Das Mädchen aus dem Norden«: ab 5.4., Passage Kinos, Schaubühne Lindenfels (OmU)
Ein Café in Paris. Eine flüchtige Begegnung. Georg (Franz Rogowski) bekommt den Auftrag, einen Brief abzuliefern. Seine Belohnung: ein Platz im Auto nach Marseille. Er muss die Stadt verlassen. Überall wimmelt es von Polizei. Die Faschisten haben die Metropole eingenommen. Die Hafenstadt ist sein letzter Ausweg. Doch der Empfänger des Briefes ist tot. Bei ihm findet er einen Brief des mexikanischen Konsulats, der ihm einen Pass und eine Passage nach Amerika verspricht. Da ist auch noch ein Brief von der Frau des Toten, die er in Marseille treffen soll. Georg schlüpft in die Rolle des Mannes und tritt die Reise gen Süden an. Die ständige Angst entdeckt zu werden ,begleitet ihn ebenso wie die Schuld und die moralische Verpflichtung. »Transit« verwirrt. Da ist die Rede von den Deutschen, die das Land besetzen. Den Flüchtlingen, der ständigen Bedrohung durch die Faschisten. All das vor dem Hintergrund des heutigen Frankreichs. Es ist ein cleverer Schachzug von Regisseur Christian Petzold, die Handlung von Anna Seghers‘ Roman aus dem Dritten Reich ins Heute zu übersetzen. Dieser Kunstgriff sorgt allerdings neben der fremden Erzählerstimme für Distanz zum Betrachter. Kam »Barbara«, Petzolds letzter Berlinale-Erfolg, aus dem Herzen, ist »Transit« eine reine Kopfgeburt.
»Transit«: ab 5.4., Passage, 19.–25.4., Kinobar Prager Frühling
In den Neunzigern beackerte das US-Kino höchst erfolgreich das Genre des dreckigen kleinen Gangsterfilms. In der jüngeren Vergangenheit ist die Spielwiese für allerlei schräge und zwielichtige Gestalten eher im skandinavischen Kino beheimatet. »Gringo« steht ganz klar in dieser Tradition, setzt aber dennoch eigene Akzente. Einer davon liegt in seiner Verortung: Nicht nur, dass der Film die zweite Regiearbeit des Australiers Nash Edgerton ist, dessen Bruder Joel neben den Südafrikanern Charlize Theron und Sharlto Copley und dem aus England stammenden David Oyelowo vor der Kamera steht – auch der Handlungsort ist zu großen Teilen jenseits der US-Grenze zu finden. Den mittleren Angestellten und ewigen Punching Bag des Schicksals Harold verschlägt es mit seinen Chefs, der biestigen Elaine und dem schmierigen Richard, nach Mexiko. Dort soll ein großer Deal über die Bühne gehen, von dem Harold nur wenig ahnt. Doch je mehr er die Machenschaften hinter den Kulissen des Pharmakonzerns durchschaut, desto weniger hat er zu verlieren. Was das amerikanische Pärchen – der kleine Drogendealer Miles und die ahnungslose Sunny – damit zu tun hat, warum der Kartellboss »Black Panther« hinter Harold her ist und was die amerikanische Drogenbehörde zu all dem sagt, das bleibt bis zum Schluss spannend. Mit tiefschwarzem Humor angereichert, lebt »Gringo« neben der wendungsreichen Story und der soliden Action vor allem von seinem Ensemble: Joel Edgerton, gerade noch in »Red Sparrow« zu sehen, darf hier das vollblütige Arschloch geben und wird nur noch übertroffen von Charlize Theron, die absolut keine Skrupel hegt, um ihre Ziele zu erreichen. David Oyelowo beweist komödiantisches Talent als Spielball des Skripts. Ein kurzweiliges Vergnügen, temporeich und stets überraschend.
»Gringo«: ab 5.4., Cineplex
Alles begann mit den Unruhen von Rosarno 2010, bei denen afrikanische Einwanderer auf den Hass der einheimischen Bevölkerung stießen. Die Ereignisse inspirierten den jungen italienischen Filmemacher Jonas Carpignano zu seinem ersten Kurzfilm »A Chijàna«, in dem er die Flucht von Ayiva aus Burkina Faso nach Italien begleitete. Carpignano zog es 2014 wieder zurück in die Straßen Kalabriens. Sein zweiter 16-Minüter offenbarte einen Blick in die ärmlichen Roma-Siedlungen in der Region, gesehen aus den Augen des Teenagers Pio. Aus Ayivas Geschichte wuchs »Mediterranea«, Carpignanos Langfilmdebüt. Aus Pios Geschichte entstand nun »A Ciambra« – bei uns kurz »Pio«. Der 14-Jährige lebt inmitten seiner Großfamilie. Drei Generationen teilen sich das winzige Heim. Umgeben von Müll wachsen er und seine kleinen Geschwister auf. Der Vater ist ein Säufer, der große Bruder feilt an seiner Karriere als Krimineller. Pio strebt ihnen nach, will selbst ein Mann sein in der Gesellschaft der Machos. Einzig sein Freund Ayiva versucht ihn auf die richtige Bahn zu lenken. Doch die Afrikaner sind in der Gesellschaft im Süden, die Roma mit Verachtung straft, noch weniger wert. Carpignano erzählt seinen Film konsequent von unten, aus den Augen des Jungen. Die Kamera klebt an seinem Rücken, auf seiner Schulter und weicht ihm auch dann nicht von der Seite, wenn die Erwachsenen den Plot voran ins unausweichliche Unheil treiben. Pio ist immer dabei und wenn er ausgeschlossen wird, findet er einen Weg rein. Die 118 Filmminuten, die wir ihn begleiten, fordern, erschrecken, entsetzen. Doch die Unmittelbarkeit öffnet einen Blick in die Welt des Heranwachsenden, die dokumentarisch nah ist und unter die Haut geht. Das liegt auch am unglaublich natürlichen Spiel des Hauptdarstellers Pio Amato, um den sich die vierzehn Mitglieder seiner echten Familie reihen.
»Pio«: ab 5.4., Schaubühne Lindenfels