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»Marx ließ diese Lücke«

Der Leipziger Philosoph Christian Schmidt über sein neues Marx-Buch, die Raben von London und den Übersetzungsprozess von Theorie zu Politik

  »Marx ließ diese Lücke« | Der Leipziger Philosoph Christian Schmidt über sein neues Marx-Buch, die Raben von London und den Übersetzungsprozess von Theorie zu Politik

Berühmte Thesen und Zitate von Karl Marx werden besonders im Karl-Marx-Jahr 2018 vorgetragen wie besonders schöne Stücke aus der Rumpelkammer eines Historienfilms. Einen souveränen Überblick, eine Haltung zu seinem Werk und Wirken wagen wenige. Christian Schmidt, Privatdozent am Institut für Philosophie der Universität Leipzig, hat in der Reihe »Zur Einführung« im Junius Verlag seinen Standpunkt markiert.

kreuzer: Sie sind in Leipzig geboren und aufgewachsen. Als Kind und Jugendlicher der DDR muss Ihnen Karl Marx ja schon sehr früh begegnet sein – auf diversen Briefmarken, dem 100-Mark-Schein der DDR, am Karl-Marx-Platz. Wer Staatsbürgerkunde in der Schule hatte, bekam es mit Karl Marx zu tun. Erinnern Sie sich an diesen Marx?

CHRISTIAN SCHMIDT: Ja, das war eine mythisch überhöhte historische Gestalt, wie auch Luther in der Jungen Gemeinde. Bis auf einzelne Merksätze im Staatsbürgerkundeunterricht haben wir aber nicht mitbekommen, was Marx gesagt hatte, geschweige denn Texte von ihm gelesen. Am beeindruckendsten fand ich das Kinderbuch »Mohr und die Raben von London«, das den Manchesterkapitalismus in düstersten Farben beschrieb. Karl Marx und Friedrich Engels waren die Helden, die den verelendeten arbeitenden Kindern halfen.

kreuzer: Und der Held Karl Marx hat Ihnen damals schon gefallen?

SCHMIDT: Ja (lacht), ich erinnere mich sogar, als 14-Jähriger einmal in ein Poesiealbum in die Rubrik »historische Vorbilder« Marx und Luther eingetragen zu haben. Aber mit dem echten Marx hatte dieser Held nur teilweise zu tun.

kreuzer: Der echte Marx wurde zwischenzeitlich auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt. Heute ist das ein bisschen anders. Wie war denn Ihr Verhältnis zu Marx in der Zwischenzeit? Sind Sie Marxist geblieben oder erst geworden?

SCHMIDT: Von »geblieben« kann, wie gesagt, keine Rede sein. In den neunziger Jahren hat Marx für mich gar keine Rolle gespielt. Da fand ich die französische Nachkriegsphilosophie interessanter. Meine eigentliche Beschäftigung mit Marx erfolgte dann vor diesem Hintergrund. Und der Marxismus als ein fest gefügtes System existiert, abgesehen von einzelnen Sekten, inzwischen ja auch gar nicht mehr. Ich würde heute sagen, dass Marx für mich ein wichtiger Autor ist, an dem ich viel für mein eigenes Denken gelernt habe und lerne. Aber das gilt auch für Foucault, Heidegger, Hegel und Spinoza. Ich weiß nicht, ob ein solcher Pluralismus einem Marxisten, wie man ihn sich landläufig vorstellt, überhaupt erlaubt ist.

kreuzer: Marx, einer unter vielen Philosophen, da fällt einem ja gleich ein berühmter Marx-Satz ein. »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.«

SCHMIDT: In seinen Polemiken setzt Marx sich häufig mit sich selbst auseinander. Das führt dazu, dass manche Positionen etwas überzogen werden. Hier geht es ihm in Wirklichkeit darum, dass zum Interpretieren auch das Verändern hinzukommen muss.

kreuzer: So hemdsärmelig ist die Philosophie ja selten. Was ist denn für Sie, aus philosophischer Sicht, das Spannende an Marx?

SCHMIDT: Marx versuchte zu verstehen, warum der starke Impuls einer Befreiung, der von den bürgerlichen Revolutionen, insbesondere von der Französischen Revolution von 1789, ausgegangen ist, in der Zeit um 1840 so schnell verebbt. Warum sich dieses große Versprechen der Freiheit und einer endgültigen Befreiung der Menschen von Unterdrückung und Ausbeutung nicht durchsetzt. Marx war ein Anhänger dieser großen Freiheits- und Gleichheitsideen. Er suchte zeitlebens danach, was es bedeuten würde, diese großen Ideen Wirklichkeit werden zu lassen.

kreuzer: Freiheit, dabei denkt man landläufig nicht unbedingt an Marx. Im Gegenteil – die »Diktatur des Proletariats« liegt wohl näher.

SCHMIDT: Im »Kommunistischen Manifest« ist die Diktatur des Proletariats eine Despotie, die dazu dienen soll, die Produktionsmittel, die sich in der Hand der Bourgeoisie befinden, in die Hände des Proletariats als organisierte Klasse, also in die Hände des Staates, zu überführen. Erst mal hat das nichts mit Freiheit zu tun, sondern mit Unterdrückung. Aber Marx sagt, über das Eigentum, um das es dabei geht, Eigentum, mit dem sich selbstbestimmt produzieren, ein selbstbestimmtes Leben führen lässt, verfügen 95 Prozent der Bevölkerung ohnehin nicht. Für ihn ist es deshalb ein fadenscheiniges Argument zu sagen, man braucht das Eigentum, um Freiheit zu realisieren. Laut Marx muss es darum gehen, andere Formen des gemeinsamen Lebens und des gemeinsamen Produzierens, die tatsächliche Freiheit realisieren, zu ermöglichen. Die Geschichte hat nun aber gezeigt: Die Verstaatlichung, gedacht als kurze Übergangsphase, hat sich verselbstständigt und zu ganz neuen Herrschafts- und Unterdrückungsformen geführt. Hier zeigt sich eine von Marx’ ganz großen Schwächen.

kreuzer: Dass er so etwas wie die DDR oder die Sowjetunion nicht vorausgesehen hat?

SCHMIDT: Marx beschreibt die neue Gesellschaft bestenfalls in Halbsätzen. Hauptsächlich beschäftigt er sich mit dem Kapitalismus. Es ging ihm nicht darum, das Wünschbare zur Grundlage einer Theorie zu machen. Er ist ein Theoretiker des Kapitalismus, und darin liegt seine große Stärke. Für ihn organisiert das Proletariat die Revolution selbst. Es braucht keine genialen Anführer, die einen Plan oder ein Konzept für die befreite Gesellschaft machen. Die Freiheit entsteht aus der Auseinandersetzung mit den Bedingungen des eigenen Lebens. Beispielsweise hat er es immer abgelehnt, darüber zu diskutieren, was demokratische Grundstandards einer befreiten, einer postkapitalistischen Gesellschaft sein können oder wie denn dann genau die Produktion organisiert werden soll. Das sind Fragen, denen Marx aus dem Weg ging. Diese Lücken wurden dann von marxistischen Bewegungen gefüllt, und daraus ist so etwas wie die DDR oder die Sowjetunion geworden. Einerseits kann man also sagen, das waren keine Lösungen, die Marx vorgeschlagen oder auch nur vorhergesehen hätte, andererseits muss man aber sagen, er hat genau diese Lücken gelassen.

kreuzer: Wenn man davon ausgeht, dass die Sowjetunion oder die DDR Experimente waren, die versucht haben, diese Idee – die Diktatur des Proletariats – zu verwirklichen, und wir uns einig sind, dass diese Experimente krachend gescheitert sind: Ist damit auch Marx gescheitert?

SCHMIDT: Das wäre eine zu starke Identifikation. Falsch wäre es aber auch zu sagen, die DDR oder die Sowjetunion hatten nichts mit Marx zu tun. Es gibt da eine gewisse Differenz zwischen der Ausdeutung und Umsetzung in einen tatsächlichen Gesellschaftsentwurf. Das ist übrigens eine Differenz, die schon zu Marx’ Lebzeiten einsetzt. Als mit dem Gothaer Programm die Vereinigung der Arbeiterbewegung in Deutschland stattgefunden hat, hat Marx heftig opponiert. Wilhelm Liebknecht ließ ihm daraufhin ausrichten, er solle die Füße stillhalten. Gotha sei Politik und wenn er und Engels Ärger machten, oder sich von dem Programm distanzierten, dann ständen sie sofort außerhalb der Arbeiterbewegung. Da kann man schon sehen, dass in dem Übersetzungsprozess von Theorie zu Politik etwas passiert, wo die politischen Bewegungen durchaus eigenständig agieren und sich weder darum kümmern, was die theoretischen Grundlagen sind, noch auf theoretische Einwände reagieren.

kreuzer: Wie komme ich denn bei der Suche nach der Freiheit auf das Feld der Ökonomie?

SCHMIDT: Die Ökonomie ist bei Marx das Feld, auf dem im Kapitalismus Freiheit und Gleichheit in Unterdrückung und Ausbeutung umschlagen. Der Arbeitsvertrag wird zwischen formal freien und gleichen Subjekten abgeschlossen, nur dass die eine Person gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, während die andere Person am längeren Hebel sitzt. Für solche Verhältnisse und ihre Konsequenzen ist Marx sensibel.

kreuzer: Die meisten, die beispielsweise bei Amazon arbeiten oder als Sicherheitsdienst in der Bibliothek ihre Rente aufbessern, vielleicht sogar diejenigen, die in der sogenannten Kreativwirtschaft ihr Glück versuchen, die wissen doch Bescheid. Die wissen doch, dass sie ihre Arbeitskraft oder irgendein Produkt verkaufen müssen, weil sie sonst nicht ins Kino gehen können und so weiter. Was hat Marx denn diesen Menschen heute noch zu sagen?

SCHMIDT: Marx hat »Das Kapital« nicht für Arbeiterinnen und Arbeiter geschrieben. Ihm ging es darum, die wesentlichen Begriffe und Zusammenhänge der neuen Wissenschaft Volkswirtschaftslehre zu erfassen, die damals politische Ökonomie oder Nationalökonomie genannt wurde. Aber eines der wesentlichen Ergebnisse dieser theoretischen Arbeit war der Nachweis, dass die Abhängigkeit der Arbeitenden kein persönliches Versagen ist. Es ist der Effekt einer Struktur, in der ihre Bemühungen immer nur dazu beitragen, die ökonomische Ungleichheit zu verstärken. In einer Welt, in der wir uns alle als Manager und Unternehmer unserer selbst sehen sollen, ist es wichtig, das zu wissen. Und Marx erklärt auch, warum es uns plausibel erscheint, dass die Arbeitskraft eine Art Kapital ist – obwohl sie das nicht ist.


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