Wie in der Print-Ausgabe des kreuzer vom September berichtet, hat die Sächsische Staatsregierung unter Federführung des Innenministeriums im April den Entwurf für ein neues Polizeirecht vorgestellt, der seither für kontroverse politische Diskussionen sorgt. Dabei treten einige der neu geplanten Bestimmungen als potentiell besonders konfliktträchtig hervor. Sie sollen deshalb in der mit diesem Artikel begonnenen Serie einzeln vorgestellt und näher erklärt werden.
Den Anfang macht § 30 des geplanten neuen Sächsischen Polizeibehördengesetzes. Das gesamte Gesetz richtet sich an die Polizeibehörden, das sind neben anderen vor allem die Ordnungsämter der Gemeinden, Städte und Landkreise. Die konkrete Vorschrift erlaubt – in rechtstechnisch gehaltener Sprache –, »personenbezogene Daten in öffentlich zugänglichen Räumen durch den offenen Einsatz technischer Mittel zur Bildaufnahme und -aufzeichnung [zu] erheben, soweit dies [...] bei Vorliegen einer abstrakten Gefahr [...] erforderlich ist.« Angefertigte Bildaufzeichnungen sind unverzüglich, spätestens aber nach zwei Monaten zu löschen bzw. zu vernichten. Ausnahmen gelten, wenn die Aufnahmen für die – näher eingegrenzte – Strafverfolgung, die Gefahrenabwehr oder zur Geltendmachung bestimmter Ansprüche noch benötigt werden.
Videoüberwachung im Schwimmbad oder Bus
Die Vorschrift entwickelt trotz ihres technisch anmutenden Wortlauts eine erhebliche Anwendungsbreite: In der Sache wird die – auch dauerhafte – Videoüberwachung des Geschehens in öffentlich zugänglichen Räumen und die Speicherung dieser Videoaufnahmen bis zu zwei Monaten Dauer gestattet. Den Polizeibehörden wird damit zugleich ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der Aufgezeichneten erlaubt. Die erfassten Bereiche sind dabei denkbar vielfältig. Denn es kommt für die Annahme eines »öffentlich zugänglichen Raums« weder darauf an, ob dieser Raum Wände oder eine Überdachung hat, noch spielt eine Rolle, wer Eigentümer oder Besitzer des Raumes ist. Per Video überwacht werden könnten also zum Beispiel Straßen, Wege und Plätze, Einkaufspassagen und -zentren, die Besucherbereiche in Behörden, Hochschulen, Sporthallen und -stadien, Schwimmbäder, Parkhäuser, Straßenbahnen und Busse. Dort soll die Videoüberwachung die Begehung von Straftaten, also etwa von Sachbeschädigungen, Diebstählen oder Körperverletzungen verhindern. Die Verhinderung solcher Straftaten rechtfertigt an sich auch die Überwachung gefährdeter Bereiche durch Videoaufnahmen. Entscheidend ist aber, dass der Gesetzgeber mit der Überwachungsbefugnis nicht gleichsam über das gewollte Ziel hinausschießt.
Die volle Tragweite der Norm zeigt sich dabei erst am Begriff der »abstrakten Gefahr«. Dieser Begriff ist im Polizeirecht schon lange in Verwendung. Der Gesetzentwurf liefert an anderer Stelle auch eine Definition dessen, was als abstrakte Gefahr gelten soll. Er greift dabei eine Formulierung teilweise auf, die von der Rechtsprechung entwickelt wurde. Die abstrakte Gefahr beschreibt danach eine »nach allgemeiner Lebenserfahrung oder den Erkenntnissen fachkundiger Stellen mögliche Sachlage, durch die im Fall ihres Eintritts eine Gefahr für ein polizeiliches Schutzgut entsteht«.
Abstrakte Gefahr: Taubenfüttern
Bislang und auch weiterhin gibt es Bereiche, in denen der Begriff der abstrakten Gefahr gute Dienste leistet. Er erlaubt es den Polizeibehörden, gegen Verhaltensweisen einzuschreiten, die für sich genommen ungefährlich sind, aus denen aber – und gerade darauf stellt die Rechtsprechung ab – typischerweise Gefahren resultieren. Praktisch zeigen lässt sich das etwa an den auch in Sachsen üblichen Taubenfütterungsverboten: Tauben zu füttern ist an sich ungefährlich. Durch das Überangebot an Nahrung vermehren sich die Tiere jedoch stark. In der Folge kommt es regelmäßig etwa zu starken Verschmutzungen der Gehwege und Straßen sowie zu Schäden an Hausfassaden, Dachabdeckungen und Dachrinnen oder an parkenden Fahrzeugen. Da sich das Vergrämen oder gar die Tötung der überzähligen Tauben als überaus aufwendig und schwierig gestaltet, erlaubt die abstrakte Gefahr, in der Ursachenkette aus Füttern, Vermehren und Verunreinigen bis zu der Handlung zurückzugehen, die sich praktikabel unterbinden lässt und mit der regelhaft die weiteren Zustände verbunden sind.
Rucksack als Zeichen für möglichen Ladendiebstahl
Bei der im Entwurf des Innenministeriums vorgesehenen Definition einer abstrakten Gefahr, die auch die Videoüberwachung öffentlich zugänglicher Räume ermöglicht, fehlt jedoch das für die Rechtsprechung entscheidende Merkmale der typischerweise eintretenden Folgen eines Handelns. Es bedarf vielmehr nur einer »möglichen« Sachlage. Der vermeintlich geringe sprachliche Unterschied hat deutliche praktische Konsequenzen. Auch hierzu ein Beispiel: Zur Begehung von Ladendiebstählen kommt nicht selten eine Umhängetasche oder ein Rucksack zum Einsatz. Betritt nun ein Mensch mit einem Rucksack ein Einkaufszentrum, so lässt dies als möglich erscheinen, dass der Mensch einen Ladendiebstahl begehen wird – auch wenn der Rucksack typischerweise für völlig andere Zwecke genutzt werden mag. Nach dem Entwurf des § 30 des Sächsischen Polizeibehördengesetzes würde jedoch dies bereits genügen, damit die Ordnungsämter diesen Menschen im Einkaufszentrum per Video überwachen könnten.
Der Entwurf zur Reform des sächsischen Polizeirechts schlägt mit anderen Worten eine erhebliche Ausweitung der Videoüberwachungsbefugnisse der kommunalen Ordnungsämter vor, die die Debatte um das Reizthema Videoüberwachung sicher neu befeuern wird.
RALPH ZIMMERMANN