anzeige
anzeige
Kultur

Der Nazi und der Orgasmus

Nach dem Tod von Edgar Hilsenrath

  Der Nazi und der Orgasmus | Nach dem Tod von Edgar Hilsenrath

Hatte man einen deutschen Autor je lustigere, gewitztere, verschmitztere Texte lesen hören? 92 Jahre nachdem er in Leipzig geboren wurde, ist Edgar Hilsenrath gestorben. Verfickte Scheiße.

Ficken. Hatte man einen alten, ja, gebrechlichen Menschen dieses Wort je selbstverständlicher sagen hören? Oder überhaupt je sagen? Und hatte man einen deutschen Autor je lustigere, gewitztere, verschmitztere Texte lesen hören als damals, 2009 in Paris? Eher nicht. Vielleicht fünfzehn Leute waren ins Musée d’Art et d’Histoire du Judaïsme gekommen, um Edgar Hilsenrath zu hören und zu sehen – zu erleben, war man hinterher geneigt zu sagen, denn dieser Überachtzigjährige, dem eben noch auf die Bühne geholfen werden musste, funkelte mit seinen Augen in den Saal, erklärte (wie alle Intellektuellen es tun) in sehr okayem Französisch, dass sein Französisch nicht ausreichend sei, um auf Übersetzung zu verzichten. Und dann las er eine Kurzgeschichte, in der jemand den Präsidenten der USA anrufen will und eine Zufallsnummer wählt, woraufhin zufällig der Präsident der USA rangeht. Ein herrlicher Quatsch! Leicht und absurd, mehr Woody Allen als deutscher Klassiker. Überhaupt: So sehr Hilsenrath im Exil die deutsche Sprache auch vermisst hatte, wie er an jenem Abend erzählte, so undeutsch waren seine übrigen Texte. Als Einstieg: sein größter Erfolg und größter Coup, »Der Nazi & der Friseur«, ein tatsächlich lustiger Roman über den Holocaust aus Tätersicht und die Anfänge des Staates Israel (ein KZ-Aufseher nimmt darin nach 45 die Identität seines ehemals besten Freundes an, der als Jude im KZ ermordet wurde). Dann für alle, denen Célines »Reise ans Ende der Nacht« zu fröhlich ist, Hilsenraths tiefschwarzes Debüt »Nacht« übers Unmenschsein im jüdischen Ghetto – der Mensch als Tier im Kampf ums nackte Überleben, 658 Seiten lang. Schließlich das ganze Gegenteil dessen: die herrlich-doofe Mafia- und Spionage-Farce »Moskauer Orgasmus« über die New Yorker Familie Pepperoni und den Lustmörder Karl Schnitzel, der den russischen Dissidenten Sergej Mandelbaum unter dem Eisernen Vorhang durchschmuggeln soll, damit er die Mafiatochter Anna-Maria heiraten kann.

Edgar Hilsenrath, in Halle aufgewachsener Sohn eines jüdischen Kaufmanns, floh 1938 nach Rumänien, wo er in ein Ghetto verschleppt wurde. Nach Jahren in Palästina, Frankreich und den USA lebte er ab 1975 wieder in Deutschland – »ohne Gram und Hassgefühle«, wie er selbst sagte. Am 30. Dezember, 92 Jahre nachdem er in Leipzig geboren wurde, ist er nun gestorben. Verfickte Scheiße.


Kommentieren


0 Kommentar(e)