Zur Jubiläumsausgabe des Immergut Festivals in Neustrelitz kam sogar die SPD. Sonst war alles gut – auch das Wetter. kreuzer-Autorin Juliane Streich teilt ihr Tagebuch mit kreuzer-online.
Bleibt alles anders. Grönemeyer-Motto-mäßig feierte das Immergut dieses Jahr seinen 20. Geburtstag – drei Tage lang, Himmelfahrt sei Dank. Und es sieht auch alles anders aus. Die Hauptbühne wurde verschoben, die Zeltbühne gleicht jetzt eher einem Zirkuszelt als einer Dorffest-Location, die Lesebühne ist hinter Hängematten versteckt.
Der erste, der zusätzliche Tag soll im Zeichen von Bands aus dem deutschsprachigen Raum stehen, die ein bisschen anecken – wobei die meisten auch ansonsten gut ins Programm gepasst hätten. So wie International Music, deren Songs ein bisschen nach Zeitlupe klingen, nach Runterkommen in selbstoptimierenden Zeiten, nach Verweigerungshaltung bei all den Möglichkeiten. Drei Typen, die über Magenschmerzen klagen und »ich will nicht in die Schule« singen. Sie haben Spaß hier, wir haben Spaß hier. Es ist halt noch früh.
Zu etwas fortgeschrittener Stunde spielen die schmerzhaft klingenden Karies ihren dunklen, treibenden Postpunk. Holly lassen Dinge kalt und die vier Stuttgarter berühren ganz kühl. Bei Isolation Berlin dann ordentlich pogen. Herzschmerz feiern, Schnaps trinken, Freunde umarmen, weiterstolpern, versinken, Selbstmordideen mitgrölen und Spaß dabei haben.
Nahles ist zu dem Zeitpunkt noch Parteivorsitzende
Der Vorstellung einer so genannten unbequemen Band kommen die zuletzt auftretenden Berliner von Gewalt am nächsten. Das Publikum ist nach der partytauglichen Band Frittenbude spärlicher geworden, steht in übersichtlichen Reihen vor der Bühne und hört dem schreienden Patrick Wagner zu, der zwischen Rabea Erradis Basslines und Helen Henflings Gitarrenriffs über amtsdeutsche Drohungen, im Alter fortschreitende Existenzängste und Widersprüchlichkeiten des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens singt – mit einer Dringlichkeit, der sich nur die entziehen können, die darauf warten, dass die Indiedisko losgeht.
Die startet nach halb drei mit all den Hits, die in den letzten 20 Jahren auf dem Immergut abgefeiert wurden. Nicht repräsentative Umfragen ergaben im Nachhinein, dass die Indie-DJs aus Rostock am Freitagabend am meisten überzeugten, vor dem Chemnitzer Atomino-Team am Donnerstag und den Berliner King Kong Kicks Samstagnacht. (Hallo Spencer! Wo war eigentlich der Karrera Klub?)
Manuela Schwesig ist auch da. Die Ministerpräsidentin von Meck-Pomm redet darüber, wie wichtig Festivals für die Region sind, sagt zum Thema Fusion allerdings nicht wirklich was Konkretes. Andrea Nahles ist zu dem Zeitpunkt noch Parteivorsitzende. Bleibt alles anders.
Gepertler Schweiß und Rum Tonic
Heinz Strunk liest Geschichten über Menschen vor, die im Tatort immer als erstes sterben, wie er sagt. Einer zum Beispiel hängt an dem Flügel eines Windrades und fragt sich, wie er da hingeraten ist. Ein anderer macht einen Teeladen auf in einer Gegend, wo alle nur Kaffee und Schnaps trinken.
Grandios, cool, stilsicher: Sophia Kennedy. Mit einprägsamer Stimme über melancholischen bis fröhlichen Beats oder Klavierklängen singt, spielt und tanzt sie, bis auch wir tanzen. Bester Auftritt des Freitagabends.
Nachts dann das Problem der Schnapsbeschaffung. An der Cocktailbar, die mit Angebotsschildern beklebt ist wie eine Billigbude auf Mallorca, bestellen wir vier Gin Tonic und bekommen vier Rum Tonic. Als wir das bemerken, ist schon alles zu spät.
Samstag am See. Der Shuttlezug spuckt die vom Festivalgelände Geschädigten aus. Geperlter Schweiß versinkt im kalten Mecklenburger Seenwasser genauso wie der Kater. Sommer, Sonne, Urlaubsgefühle mit Pommes-Geschmack.
Maurice Ernst im Schlafanzug
In der Hitze des Geländes lesen Hengameh Yaghoobifarah und Nadia Shehadeh aus dem Buch »Eure Heimat ist unser Albtraum«. Was eine spannende Diskussion über Alltags- und anderen Rassismus hätte werden können, wird leider vom Das Wetter-Moderator entschleunigt, indem er wohlmeinende Fragen nach der praktischen Arbeit mit einem Verlag stellt, anstatt inhaltliche darüber, was man denn nun gegen den beschriebenen Rassismus noch tun kann, außer ihn anzuprangern.
Musikalisch lässt sich Dagobert über die Menschen tragen, Deerhunter haben eventuell etwas zu viel Drogen genommen, Boy Harscher feiert den Hype um einen tollen Song, den sie vorher eine Stunde lang unter anderen Titeln wiederholt. Aber dann Bilderbuch! Maurice Ernst erobert im Schlafanzug Neustrelitz, Europa, the earth. Alle sind hinter seinem Hintern her, singen ein Abschiedslied für Monica, wollen Frisbee spielen und brauchen Power für den Akku.
Die Headliner des Abends zelebrieren die Popmusik, den Sex, den Strom, den europäischen Gedanken. »Alles Gute zum Geburtstag, liebes Immergut«, gratuliert Ernst dem Festival und zeigt sich begeistert. Er habe ja schon auf vielen Festivals gespielt, die einfach so hochgezogen wurden, aber das hier sei sympathischer. Und Recht hat er. Ein Festival für 5000 Menschen, ohne Werbung, gemeinnützig organisiert, mit Kronleuchtern im Baum und Karaoke-Wohnwagen darunter. Bleibt alles anders und zu hoffen, dass es das Immergut auch die nächsten zwanzig Jahre noch geben wird.