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Kultur

Familienfreundliches Alerta antifascista

Beim Kosmos in Chemnitz war alles schön, wenn nicht die Rechten wären

  Familienfreundliches Alerta antifascista | Beim Kosmos in Chemnitz war alles schön, wenn nicht die Rechten wären

50.000 Menschen kamen am Donnerstag zum Kosmos nach Chemnitz unter dem Motto »Wir bleiben mehr«. Grönemeyer lachte und lebte, ein Höcke-Hitlergruß wurde fast verboten und die Party des Tages haben wir verpasst.

Not so fun fact: Chemnitz ist so schlecht mit der Bahn zu erreichen wie keine andere Stadt der Republik. Auch dieses Jahr ist direkt Schienenersatzverkehr auf der Strecke von Leipzig. Früher hatte Chemnitz das nun nicht mehr so zeitgemäße Ziel, eine autogerechte Stadt zu sein. Davon zeugen die großen mehrspurigen Straßen. Jan Kummer (bildender Künstler, AG Geige-Musiker, Kraftklub-Vater) kann dem auch etwas Positives abgewinnen: »Auf den breiten Straßen kann man gut Konzerte feiern.« Und das machen sie auch.

Schon letztes Jahr kamen 65.000 Menschen, als als Reaktion auf die rechten Ausschreitungen nah dem Tod von Daniel H. beim Konzert #wirsindmehr Kraftklub, die Toten Hosen, Marteria und andere aufraten. Wegen der provokanten Songs und Zeilen von Feine Sahne Fischfilet (»Niemand muss Bulle sein«) und K.I.Z. (»Ich ramm dir die Messerklinge in die Journalistenfresse«) gabs Unmut bei der Bild und auf Twitter.

Familienfreundliches Line-up 2019: Grönemeyer, Alligatoah, Tocotronic

Unter dem Motto »Wir bleiben mehr« ist das Line-Up in diesem Jahr familienfreundlicher. Neben Tocotronic, Großstadtgeflüster und Alligatoah heißt der Headliner jetzt Herbert Grönemeyer. Ein Künstler, auf den sich alle einigen können. Junge Hipster, Rentnerpärchen, auch die Chemnitzer Bürgermeisterin klatscht mit. Grönemeyer spielt seine Hits von »Männer« über »Flugzeuge im Bauch« bis »Alkohol«, doch ist das kein Wohlfühl-Gig zum Mitschunkeln, denn der Bochumer betont immer wieder seine Botschaft: »Wir bewegen uns keinen Millimeter nach Rechts« ruft er. »Wir grenzen keinen aus. Niemand wird diskriminiert.« Punkt. Grönemeyer ist gut drauf, springt auf der Bühne herum, lacht und lebt und ist sichtlich bewegt von den Zehntausenden, die ihre Handytaschenlampen im Takt winken. Seinen Song »Mensch« dichtet er am Ende um, singt mit allen »Chee-eem-nitz«.

»Alerta alerta Antifascista« rufen einige Fans beim Konzert der Rapper Zugezogen Maskulin. Eine Antifa-Fahne wird geschwenkt, ein paar Bengalos gezündet. Wegen solcher Parolen war das Konzert vom letzten Jahr im sächsischen Verfassungsschutzbericht in der Rubrik »linksextrem« gelandet.

Angespannte Stimmung vor der sächsischen Landtangswahl

Dort, wo im August letzten Jahres Daniel H. getötet wurde, trägt nun ein Stein im Straßenbelag seinen Namen. Jemand hat eine rote Grabkerze dazugestellt und ein Foto von ihm. Vor dem Dönerladen steht ein DJ-Pult. Junge Leute tanzen fröhlich zu elektronischer Popmusik. Mit Kreide wurden Worte wie »Respekt« und »Weltoffenheit« auf die Straße gesprüht. Eine Frau kommt und zündet die vom Wind erloschene Kerze wieder an. Ihr Freund versucht derweil wütend, mit dem Fuß die Worte »Toleranz« und »Rücksicht« wegzuwischen.

Anna Pöhl vom Verein Support, der Opfer von rechter Gewalt unterstützt und beim Kosmos einen Stand hat, erwartet kein ruhiges Jahr: »Vor der Landtagswahl ist extrem viel los.« Wahlhelfer und Plakatekleber werden angegriffen und diejenigen, die Flyer gegen Neonazis verteilen.

Auch Gabi Engelhardt vom Bündnis Aufstehen gegen Rassismus warnt, dass die rechten Schikanen vor der Sachsen-Wahl im September schlimmer werden. »Wir werden mit Anzeigen überhäuft», sagt sie. Tatsächlich kommen an ihrem Stand auf dem Kosmos vier Polizisten in voller Montur vorbei. Grund: Ein Poster mit Björn Höcke, der den Hitlergruß zeigt. Darunter der Satz: »Nie wieder! Keine Bühne der AfD«. Es gab eine Anzeige wegen des Verdachts auf Verwenden verfassungsfeindlicher Zeichen. Nach einer Prüfung der Polizei darf es dann aber doch verteilt werden.

Breites Programm als Ersatz für das entfallene Stadtfest

Ein paar Meter weiter in der Innenstadt, deren breite Straßen für die Autos gesperrt sind, kommt eine Gruppe Jugendlicher mit zwei Einkaufswagen, in dem sie unter anderem Klappstühle transportieren. Mit denen bauen sie improvisierte Fußballtore auf, fangen an zu spielen. »Schaff dir deinen Freiraum!« ist ihr Motto. Fußballflashmob ist da eine Möglichkeit. An einer anderen Ecke werden noch Leute fürs Speeddating gesucht. Das Stadtfest fällt dieses Jahr aus, dafür sind hier viele Akteure der Stadt eingebunden. Das Museum Gunzenhauser hat kostenlos geöffnet, die Chemnitzer Filmnächte machen mit, der Chemnitzer Basketballverein Niners hat ein kleines Spiel mit Kraftklub- und anderen Musikern organisiert (Team Felix hat übrigens gewonnen) und vor der Jacobikirche gibt es Wein und Wasser, um ins Gespräch zu kommen.

Auch auf gendergerechte Sprache wird geachtet. Zumindest bei Großstadtgeflüster. Sängerin Jen Bender nennt die ihr zujubelnden Fans: »Ihr Scheißer und Scheißerinnen!« (klingt besser als »Ihr Scheißenden!«)

Die wahrscheinlich beste Party – sagt zumindest Instagram – findet aber nachts im Weltecho statt. Kraftklub-Sänger Felix Kummer feiert mehr oder weniger heimlich seinen Geburtstag und die Gäste, die sich auf der Bühne des kleinen Chemnitzer Klubs das Mikrofon reichten, heißen Caspar, Zugezogen Maskulin, Tarek von K.I.Z., Nura von SXTN und die Schwestern Blond. Kummer selbst spielt zum ersten Mal seinen neuen Solo-Song »9010« und alle gehen krass ab. Nur wir nicht, weil wir die Zeichen der Sozialen Medien nicht gedeutet oder auch einfach nicht gelesen haben. Stattdessen trinken wir Bier unter den unbeweglichen Augen des übergroßen Kopfs von Karl-Marx in dieser zwiespältigen Stadt, die einst seinen Namen trug.


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