Marcus Stück ist wissenschaftlicher Leiter an der DPFA-Akademie für Arbeitsgesundheit Leipzig, forscht zu Stressprävention und entwickelt entsprechende Trainings für Kinder und Erwachsene. Wir haben mit ihm über neue Belastungen für Familien und Lösungswege in Zeiten von Corona gesprochen.
kreuzer: Sie forschen aktuell bereits zu den psychischen Folgen der Coronakrise?MARCUS STÜCK: Aktuell arbeiten wir an einer Studie zur psychischen Verarbeitung des Corona-Virus und zu seinen Auswirkungen auf Familien und Kinder. Ziel unserer Arbeit ist es, später Handlungsinstrumente zu haben, um die Folgen von Corona mit den Menschen aufzuarbeiten. Denn Fakt ist, dass diese Krise wahrscheinlich eine nachhaltige Veränderung mit sich bringt.
kreuzer: Können Sie solche Veränderungen schon jetzt beobachten?STÜCK: In der gegenwärtigen Krise muss man sich klar darüber sein, dass wir es hier mit einem Desaster ähnlich einer Naturkatastrophe zutun haben. Viele Vorgänge sind uns gar nicht bewusst. Ein Beispiel: Am elften September 2001, also am Tag der Terroranschläge in den USA, hatten wir zufällig Probanden Blut abgenommen. Wir konnten feststellen, dass in Krisensituationen Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin ansteigen und dass stressbedingt viele Dinge im autonomen reaktiven Bereich, zum Beispiel im Immunsystem, ablaufen. Der Körper aktiviert seine Abwehrmechanismen. Viele der Prozesse dringen überhaupt nicht ins Bewusstsein, sondern werden abgewehrt. Und was abgewehrt wird ist hauptsächlich Angst.
Manche Menschen vermeiden gewisse Themen. Sie hören nicht auf die Regeln, die ausgesprochen wurden und gehen trotzdem auf die Straße oder zu Corona-Partys. Sie machen viele Witze oder treffen sich irgendwo im Café. Andere kaufen das Regal mit Toilettenpapier leer. Warum hamstern sie? Auch das sind Abwehrmechanismen, um die Angst zu bewältigen. Diese Abwehrmechanismen wollen wir erforschen.
kreuzer: Reagieren Kinder anders als Erwachsene?STÜCK: Ich denke schon, dass Kinder möglicherweise ein besseres Verständnis für solche Naturkatastrophen haben als Erwachsene. Erwachsene brauchen jetzt erstmal Zeit, um sich anzupassen. Kinder hingegen passen sich relativ schnell an sich ändernde Bedingungen an.
Was außerdem deutlich wird, ist, dass Erwachsene so ein hartes Erlebnis vielleicht mal brauchen, um zu bestimmten Erkenntnissen zu kommen. Kinder haben aus meiner Sicht schon viel früher wahrgenommen, dass etwas nicht stimmt: Dass das Tempo viel zu schnell war, dass Eltern kaum Zeit für sie hatten. Die Kinder freuen sich jetzt natürlich darüber, wenn Eltern zuhause sind und mehr Zeit für sie haben.
kreuzer: Wie kann man den Familienalltag in der aktuellen Situation so angenehm wie möglich gestalten?STÜCK: Das Geheimnis besteht aus Präsenz, Kommunikation, dem Aufstellen und liebevollen Einhalten von Regeln. Wenn Eltern jetzt plötzlich im Homeoffice arbeiten, ist das natürlich ein Stressfaktor, der auch zu Stressreaktionen führt. Es gibt einen Spruch in der Pädagogik: »Du kannst ein Kind nur so weit bringen, wie du selbst auch schon gekommen bist.« Ich denke, dass Erwachsene in dieser Situation an ihrer Geduld arbeiten müssen, aber auch an der Wahrnehmung der Bedürfnisse des Kindes und an liebevoller Grenz- und Regelsetzung.
Außerdem ist eine gute Arbeitsteilung im Haushalt wichtig. Wird im Homeoffice gearbeitet, ist das oft eine zusätzliche Belastung für die Frau, die dann nicht nur Arbeitnehmerin ist, sondern zugleich auch noch Mutter, die zusätzlich den Haushalt erledigt. Es ist also wichtig, dass Aufgaben gut verteilt sind und eingeschlafene Kommunikation wieder in Gang gesetzt wird. Man kann zum Beispiel Zeiten einführen, die regeln, wann getobt wird und wann die Eltern arbeiten müssen. Und wenn das nicht klappt, muss man kommunizieren. Das ist zwar anstrengend, aber wie ich finde auch ein positives Resultat dieser Krise.
kreuzer: Sie haben ein eigenes »Entspannungstraining mit Yogaelementen für Kinder« entwickelt. Wie sieht das genau aus?STÜCK: Wir arbeiten nicht nur mit Yoga, sondern auch mit Musik und Tanz für Kinder. All diese Methoden setzen natürlich eines voraus: Dass Eltern sich Zeit nehmen. Wir haben das Entspannungstraining damals entwickelt, um Prüfungsangst zu reduzieren. Das Training besteht aus Körper- und Fantasiereisen, Massagen, verschiedenen sensorischen Übungen aber auch Yoga-Asanas. Ziel ist es, den Kindern Achtsamkeit, Präsenz- und Entspannungsfähigkeit zu vermitteln. Es kann enorme Effekte haben, wenn man ein Kind, das sehr bewegungsorientiert ist, hinlegt, ihm eine kleine Geschichte erzählt und ihm liebevoll den Rücken streichelt. In den den letzten Jahren hat das Bedürfnis der Kinder, von ihren Eltern liebevoll berührt oder gestreichelt zu werden so sehr zugenommen, dass man binnen kürzester Zeit Wunder bewirken kann.
kreuzer: Was bedeutet das für die aktuelle Situation?STÜCK: Es steht und fällt mit dem Interesse der Eltern, dem Kind etwas zu geben, was ihm hilft, seine Anspannung zu regulieren. Und das sollte ritueller Bestandteil der täglichen Familienroutine sein. Man könnte sich zum Beispiel Zeit nehmen, um ein bisschen Yoga zu üben, möglicherweise ein wenig Musik einzulegen oder auch zu tanzen und zu malen. Und vielleicht wird auch mal eine kleine Massage gemacht und die Füße gestreichelt oder eine Fantasiereise erzählt. Was Kinder wollen, ist Fantasiefähigkeit und Kreativität. Wenn die Krise etwas Gutes hat, dann, dass sich die Leute mehr um ihre Kinder kümmern müssen. Dass sie kreativ werden müssen, dass sie sich anpassen müssen und dass sie Zugang zur eigenen Sensibilität erlangen können.