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Kultur

Ein Leben zwischen Heim und Pflegefamilie

Aufwühlend: Alex Wheatles »Home Girl«

  Ein Leben zwischen Heim und Pflegefamilie | Aufwühlend: Alex Wheatles »Home Girl«

Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diesmal entdeckt Familienredakteur Josef Braun mit »Home Girl« ein Buch, das tiefen Einblick in die Welt staatlicher Fürsorge gewährt und dabei stark berührt.

Naomi ist ein 14-jähriges Mädchen, das ohne Mutter aufwachsen muss. Die hat sich die Pulsadern aufgeschnitten, woraufhin Naomis Vater zum Trinker geworden ist. Naomi hat sich um ihn gekümmert. Sie hat geputzt, gekocht und die Stromrechnungen bezahlt, bis das Jugendamt sie von dort wegholte. Seitdem lebt das Mädchen ein Leben zwischen Heimen und Pflegefamilien. Die einzige Konstante bilden ihre Sozialarbeiterin Louise und ihr Erdmännchen, das sie überallhin mitnimmt.

Der Schriftsteller Alex Wheatle ist selbst im Heim aufgewachsen. Für seine junge Heldin findet er eine Sprache, die gekonnt wechselt zwischen Unsicherheit und jugendlichen Neologismen. Immer wieder erfinden Naomi und ihre Freundinnen Worte, mit denen sie versuchen sich und ihre Umwelt zu begreifen. Da wird die Zigarette schon mal zum Krebslutscher und eine Gläubige ist eine Frau, die »bei Jesus in der Mannschaft spielt.« Naomi ist selten um ein Wort verlegen und lässt genauso wenig Menschen an sich heran. In der englischen Kleinstadt, in der sie lebt, kommt sie damit zunächst ganz gut durch. Doch schließlich trifft sie auf Menschen, die sich vom Mundwerk des jungen Mädchens nicht beeindrucken lassen. Die auch noch da bleiben, nachdem Naomi all ihre Abwehrtaktiken angewendet hat.

»Es gibt nette Menschen auf der Welt, Naomi. Lass dich nicht von den Fiesen und Gemeinen zwingen, dich umzubringen«, denkt Wheatles Protagonistin an einer Stelle. Da hat sie schon einiges durchgemacht. Der Autor hat sein Buch allen Kindern gewidmet, »die in Heimen oder Pflegefamilien gelebt haben oder leben«. Sie nimmt er in seinen Geschichten so ernst, wie das in Jugendbüchern eher selten geschieht. »Home Girl« ist ein außergewöhnliches Buch, über ein außergewöhnliches Mädchen. Es ist durchweg gut geschrieben. Besonders an den Stellen, wenn Naomis Fassade für Sekunden aufbricht. Aber auch in den Momenten, wenn sie der Welt entgegen schreit, wie schlecht sie von ihr behandelt wird. Denn auch das ist eine Botschaft dieses Buches: Wut kann ein positives Gefühl sein. Vor allem, wenn sie berechtigt ist.


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