Ein Ticket-Kontrolleur drückt einem jungen Mann die Luft ab. Ich stehe daneben, schreie und filme – über eine Minute lang. Warum?
Der Mitarbeiter sei mit sofortiger Wirkung vom Dienst freigestellt worden, antworteten die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) dem kreuzer auf Twitter. Es ist die Reaktion auf ein Video, das ich aufgenommen habe und das der kreuzer veröffentlicht hat. Zu sehen ist, wie ein LVB-Kontrolleur einen jungen Mann auf dem Boden im Würgegriff hält – so lange, bis dessen Kopf rot anläuft und seine Bewegungen langsamer werden. »Was die Bilder zeigen, ist für uns nicht akzeptabel«, schreiben die LVB.
Nicht akzeptabel finden einige auch, dass ich gefilmt habe. »Warum greift da niemand ein?«, fragt einer in den Kommentaren. Mehrere weisen auf das Recht zur Nothilfe hin und dass wir Umstehenden den Kontrolleur mit Gewalt hätten stoppen können. Seit dem Vorfall frage ich mich, ob ich mich richtig verhalten habe – als Privatperson und als Journalist.
Das Zeitgefühl verloren
Als ich mein Video zum ersten Mal anguckte, war das Erschreckendste für mich, dass es über eine Minute dauerte. Eine Minute und 15 Sekunden schaute ich zu und brüllte den Kontrolleur an, ohne dass er seinen Griff lockerte. In meinem Zeitgefühl war alles viel schneller gegangen. Das Video endet, weil ich die 110 anrief. Während ich die Polizei am Hörer hatte, ließ der Kontrolleur den jungen Mann los. Auf seinem Hals sah ich deutliche Druckspuren, aber er konnte wieder Luft holen.
Dass in meiner Wahrnehmung alles sehr schnell vorbei war, ist wohl ein Grund, warum ich den Kontrolleur nicht angegriffen habe. Ich kann nicht sagen, was ich getan hätte, wenn er noch länger zugedrückt hätte. Vielleicht hätte ich ihn attackiert. Während ich da stand, konnte ich spüren, wie meine Hemmungen gegenüber Gewalt immer mehr abnahmen. Trotzdem konnte ich mich nicht überwinden.
Videos sind Beweismaterial
Stattdessen habe ich sofort gefilmt, nachdem ich gesehen hatte, was passiert. Videos sind Beweismaterial und Menschen verhalten sich anders, wenn sie merken, dass sie aufgenommen werden – dachte ich zumindest. Den Kontrolleur schien das nämlich wenig zu beeindrucken, genauso wie die Rufe der Umstehenden, dass der junge Mann keine Luft bekomme. Nachdem ich das realisiert hatte, war ich überfordert und in Panik.
Plötzlich war ich selbst in einer Situation, die ich bisher nur vom Bildschirm kannte. Auch ich habe bei ähnlichen Videos darauf gehofft, dass jemand mehr tut, als zu filmen. Ich habe überlegt, wie ich reagieren würde und ob ich in der Lage wäre, Gewalt anzuwenden. Jetzt kann ich sagen: Der Gedanke war da. Ich dachte darüber nach, wie und wo ich den Kontrolleur treffen müsste, damit er nachgibt.
Dem Opfer nicht schaden
Aber ich hatte auch Angst, dem jungen Mann damit zu schaden. Ich rechnete damit, dass der Kontrolleur noch fester zudrücken würde, wenn er angegriffen wird. Denn genau das tat er, als ein anderer an seinem Arm zerrte. Er hob den Kopf des Mannes kurz vom Boden und drückte ihn Richtung Nacken. Wenn eine erste Attacke keinen Erfolg gehabt hätte, sich der andere Kontrolleur und die Kontrolleurin in den Weg gestellt hätten, hätte das die Lage des Mannes vielleicht noch verschlechtert.
Und überhaupt: Was wäre passiert, wenn ich zugeschlagen hätte, statt zu filmen – wenn es das Video nicht gäbe? Wäre der Kontrolleur weiter ganz normal zur Arbeit gegangen, weil Aussage gegen Aussage stünde? Wem hätten Behörden und LVB geglaubt? Wäre die Nachricht auf den Startseiten überregionaler Medien gelandet oder als kleine Polizeimeldung in der LVZ versandet? Und wäre der Inhalt der Nachricht ein würgender Kontrolleur oder eine Gruppe, die einen Kontrolleur angreift?
Versucht, das Richtige zu tun
Ein Polizist, mit dem wir vor Ort gesprochen haben, verteidigte die Kontrolleure. Sie hätten keinen leichten Job. Wie verhältnismäßig der Kontrolleur gehandelt habe, könne er nicht beurteilen, weil er die Situation nicht gesehen habe und die Vorgeschichte nicht kenne. Dank des Videos können sich alle selbst ein Bild machen. Bei den LVB hat es offensichtlich dazu beigetragen, dass der Kontrolleur suspendiert wurde.
Das ist ein gutes Ergebnis. Ob ich deshalb rückblickend richtig gehandelt habe, kann ich nicht sagen. Je mehr Anschuldigungen kommen, desto mehr zweifle ich daran. Ich bin froh, dass dem jungen Mann nichts Schlimmeres passiert ist und wünsche niemandem, in so eine Lage zu kommen. Zu Hause vorm Bildschirm lässt sich leicht sagen, was wir Umstehenden hätten tun müssen. Dabei haben wir wenigstens versucht, das Richtige zu tun. Die Straßenbahnen waren an dem Abend gut gefüllt. Zum Helfen ausgestiegen sind nur wenige.