Vieles im kulturellen Leben ist derzeit Kompromiss, irgendwo zwischen »Besser als nichts« und »Sie waren stets bemüht«. Nicht aber die beiden ersten Lesungen der Saison im Haus des Buches mit Clemens Meyer und Daniela Krien – die hätten schöner nicht sein können. Was freilich vor allem an den beiden Lesenden und ihren Werken liegt, aber eben auch wesentlich mit dem coronabedingten Szenario zu tun hat.
Hier erst am Dienstag- und dann am Donnerstagabend im Garten zu sitzen, in den seichten Hügeln unter den drei riesigen Ahornbäumen und zarten Lichterketten, das ist ungefähr 258-mal besser als drinnen im Saal, wo man Meyer, Krien und ihren Gesprächspartnern in jedem anderen Jahr hätte lauschen müssen. Aber reden wir ein anderes Mal vom »Charme« der Literaturhaus-Innenräume und halten uns hier an die beiden Lesungen der aktuell größten Leipziger Literatur-, kurzes Zögern, aber ja: -stars.
Auf den ersten Blick haben Clemens Meyer und Daniela Krien nicht viel gemein. So verschieden ihre Romane und Erzählungen, ihre Stile sind, so unterschiedlich wirken sie auf der Bühne. Hier die elegante Leisetreterin, da der ungelenke Dampfplauderer. Hier ein Glas Wein, dort eine Flasche Bier. Aber wie es eben mit dem ersten Blick ist: er sieht nur die Oberfläche. Belesen und reflektiert sind sie beide, überzeugt von ihrer Vorstellung des Schreibens und in der Lage, das überzeugend darzulegen (was freilich das Ringen darum nicht ausschließt). Beide lachen viel mehr, als es ihre Texte vermuten lassen, beide hatten gerade Geburtstag – Meyer ist am 20. August 43, Krien am 25. August 45 Jahre alt geworden. Beide leben »hier« und erzählen Geschichten »von hier«.
Wobei sich Meyer in seinem nächsten Roman nicht nur vom Hier, sondern auch gleich noch vom Jetzt entfernen wird, wie er am Dienstagabend berichtet. Es sei ein großes Werk, an dem er schon seit Jahren arbeite und das längst noch nicht vollendet sei. Sehr wohl fertig – wenn auch so knapp, dass der Autor selbst es erst an diesem Abend in der Hand hält – ist »Nacht im Bioskop«, eine Geschichte aus dem Roman-Kosmos, die nun beim Leipziger Verlag Faber und Faber erscheint. Ein namenloser Mann wandert darin durch jene vielnamige Stadt, die heute Novi Sad heißt, aber auch schon Neusatz, Neoplanta, Újvidék und Nový Sad hieß. Was, euphemistisch ausgedrückt, von einer wechselvollen Geschichte zeugt, deren bekannteste Ereignisse wohl das Massaker von 1942 und die NATO-Luftangriffe 1999 sind. Im Umfeld jener Erschießung von über eintausend Menschen im Januar ’42 siedelt Meyer seine Erzählung an, die entsprechend düster und eisig geraten ist – dabei aber von dem ihm eigenen Sound getragen wird. Was einerseits daran liegt, dass der stets durch seine Texte schnurrende Meyer ja zu den Wenigen gehört, die nicht nur schreiben, sondern auch lesen können. Andererseits aber auch daran, dass er es mal wieder schafft, eine Geschichte in ganz konkretem historischen Setting auf eine überzeitliche Ebene zu heben, indem er sich mehr für deren mythischen Kern als für historische Details interessiert. Er wolle »etwas Universelles erzählen«, berichtet er im fluffigen, aber auch erkenntnisreichen Gespräch mit seinem Verleger Michael Faber und Literaturhaus-Programmleiter Thorsten Ahrend.
Daniela Krien hingegen wird zwei Tage später vom Leipziger Literaturwissenschaftler und Journalisten Tino Dallmann (der ab und an auch für den kreuzer schreibt) in ein so unterhaltsames wie intelligentes Gespräch verwickelt, dem die wieder vollen, aber gänzlich anders bevölkerten Gartenklappstuhl-Reihen aufmerksam lauschen. Kriens Erzählungsband »Muldental« ist soeben ein zweites Mal (nach 2014) erschienen, nachdem ihr Roman, »Die Liebe im Ernstfall«, 2019 ein so großer Erfolg war. Krien liest die erste Geschichte des Erzählungsbandes, in dem sie »der schmale Grat zwischen Schicksal und Schuld« interessiere. Da ist eine Frau, Marie Novacek, die von der Stasi solange unter Druck gesetzt wird, bis sie Berichte über ihren Mann liefert. Und da ist ihr Mann Hans, der schwer gekränkt ist, als er davon erfährt, und schwer krank ist, sodass er – auf Hilfe angewiesen – sie jahrelang moralisch erpressen kann. Wo hört da das Schicksal auf und wo macht sich wer schuldig? In welchem Moment kippt die Sache? Sie schreibe »über Gefühle, ohne sentimental zu werden«, heißt es in der Begründung zur Verleihung des Sächsischen Literaturpreises an Daniela Krien in diesem Jahr (in dem Clemens Meyer dessen Äquivalent in Sachsen-Anhalt erhält, den Klopstock-Preis für neue Literatur). Das mag auch daran liegen, dass Kriens Texte zunächst doppelt so lang sind wie die letztendlich veröffentlichten Bücher. Man müsse beim Schreiben alles zulassen, sich nicht vor Peinlichem scheuen oder anderweitig zensieren, erklärt Krien ihren Ansatz. Erst, wenn alles da ist, gelte es, das Überflüssige rauszustreichen.
»Meine Helden sind keine Gewinner. Dennoch finden einige ihr Glück. Aber auch jene, deren Schicksal ihre Kräfte übersteigt, … verdienen einen Platz in der Literatur«, heißt es im Vorwort von – ja, von wem der beiden wohl? Meyer oder Krien? Raten Sie mal! Kleiner Tipp: der Satz: »Am meisten nützen die Krisen. Alles andere ist banal«, stammt ebenfalls von ihr. Man könnte sich durchaus vorstellen, sie mal gemeinsam auf einer Bühne zu sehen, diese beiden so unterschiedlichen-und-doch-auch-wieder-nicht Leipziger Literatur-Stars.