Tamara Solidor (40) ist Sexarbeiterin und Generalsekretärin des Berufsverbandes für erotische und sexuelle Dienstleistungen, wo Sie auch für den Nothilfefonds zuständig ist. Sie engagiert sich politisch, organisiert Netzwerktreffen für Sexarbeiterinnen. Der Nothilfefonds, der sich durch Spenden generiert, wurde im März für Sexarbeiterinnen in Not gegründet, nachdem Sexarbeit verboten wurde. Sexarbeit war eine der ersten Branchen, die von einem Verbot wegen der Corona-Pandemie betroffen war. In Leipzig dürfen Sexarbeiterinnen inzwischen wieder arbeiten. Im Gespräch mit kreuzer erzählt Solidor die Einzelheiten und Konsequenzen des Berufsverbots.
kreuzer: Frau Solidor, wie ist die aktuelle Situation in Leipzig in Bezug auf die Sexarbeit?TAMARA SOLIDOR: Seit Mitte Juli gestatten Gesundheits- und Ordnungsamt wieder Escorttätigkeiten, Haus- und Hotelbesuche sind erlaubt. Seit dem 1. September dürfen auch Prostitutionsstätten unter Einhaltung der Hygienevorschriften wieder geöffnet haben, allerdings darf dort kein Geschlechtsverkehr angeboten werden.
kreuzer: Wie wird der Geschlechtsverkehr definiert?SOLIDOR: Als penetrativer Sex.
kreuzer: Durch Reproduktionsorgane?SOLIDOR: Genau. Wir stolpern immer wieder über die gesetzliche Definition von Geschlechtsverkehr, die die tatsächliche Berufspraxis meiner Branche nur zu einem Bruchteil beschreibt.
kreuzer: Sexarbeit war einer der ersten Berufe, die im März coronabedingt verboten wurden. Wie haben Sie die Zeit überstanden?SOLIDOR: Sehr schlecht. Ich hatte über sechs Monate Einnahmenausfall. Ich habe zwei Kinder zu versorgen. Irgendwann wurde es zu prekär und ich fing an, heimlich bzw. illegal zu arbeiten. In Bezug auf die Coronahilfen des Bundes besteht für unsere Branche das Problem, dass diese nur für laufende Betriebskosten verwendet werden durften. Wenn ich im Bordell oder als Escort arbeite, dann habe ich aber so gut wie keine Betriebskosten.
kreuzer: Sie haben Coronahilfe im Rahmen des Soforthilfeprogramms der Stadt Leipzig für Selbständige beantragt, Ihr Antrag wurde abgelehnt. Mit welcher Begründung?SOLIDOR: Im Juli habe ich die Coronahilfe für Soloselbständige in Höhe von 2.000 Euro beantragt. Als ich zuerst einmal keine Rückmeldung bekam, fragte ich bei der Stadt nach, und da hieß es, dass Erotik- und Prostitutionsstätten von dem Hilfsprogramm ausgeschlossen seien. Ich bin aber keine Erotik- oder Prostitutionsstätte, sondern eine Soloselbständige. Nach dieser Logik wären Schauspielerinnen ja das Gleiche wie ein Theaterhaus. Ich reichte daraufhin Widerspruch ein, aber auch dieser wurde abgelehnt. Mir wurde mitgeteilt, ich könne ihn »freiwillig« zurückziehen, ansonsten kämen Verwaltungskosten auf mich zu. Ich habe aber nicht zurückgezogen, sondern prüfe derzeit weitere Schritte. Es gibt keine rechtliche Grundlage, mich oder andere Sexworker auszuschließen. Es handelt sich um eine legale, angemeldete Tätigkeit, wie alle anderen zahlen wir entsprechend Steuern.
kreuzer: Kennen Sie andere Kolleginnen, die ebenso keine Coronahilfe bekamen?SOLIDOR: Ja. Da ich die Ansprechperson für den Nothilfefonds des Berufsverbandes bin, bekam ich sehr viel mit. Gerade jene Menschen, die ohnehin prekär arbeiten, wurden von einem Tag auf den anderen komplett jeder Lebensgrundlage beraubt: Menschen, die auf dem Straßenstrich arbeiten, jene ohne klaren Aufenthaltsstatus, transgeschlechtliche oder wohnungslose Menschen... Sämtliche Anlaufstellen waren plötzlich geschlossen: Keine Tafel, keine aufsuchenden Sozialarbeiterinnen, keine Beratungsstellen, keine Notunterkünfte, keine Schlafstellen. Auch Menschen, die nicht in Deutschland sesshaft sind und Familie im Herkunftsland versorgen, wurden mit enormen Schwierigkeiten konfrontiert. Die Grenzen waren dicht, selbst wenn sie es gewollt und das Geld gehabt hätten, konnten sie nicht mehr nach Hause. Prostitutionsstätten mussten von heute auf morgen schließen, das heißt jene aus dem Ausland, die in deutschen Prostitutionsstätten wohnen, waren über Nacht obdachlos, und wussten nicht, wohin. So eine Not gab es in dieser Branche hier bisher noch nie.
kreuzer: Warum glauben Sie, dass die Politik nicht soweit gedacht hat, welche Folgen die sofortige Schließung und der Ausfall der Hilfsstrukturen haben würde?SOLIDOR: Aufgrund der Pandemie war man gezwungen, schnell zu handeln. Allerdings wurde im Nachhinein nichts unternommen, um die Folgen auch für uns abzufangen. Zwischen den Vorstellungen, die viele Politikerinnen von uns haben und dem, was unsere Lebens- und Arbeitsrealität ist, liegt eine enorme Kluft, die während der Pandemie noch extremer zu Tage getreten ist. Viele Maßnahmen für Sexarbeit gehen komplett an der Lebens- und Alltagspraxis der Menschen vorbei und ignorieren die tatsächlichen Bedarfe. Mal aus Unwissenheit, mal aus Ignoranz, im schlimmsten Falle kalkuliert.
kreuzer: Sexarbeiterinnen wurden in Bezug auf die Coronapandemie teils mit Superspreadern gleichgesetzt. Ist die Infektionsgefahr in Ihrer Branche wirklich höher?SOLIDOR: Corona ist keine Geschlechtskrankheit. Gerade wir in dieser Branche – wir sind Hygieneprofis. Desinfizieren, auf unsere Gesundheit achten, uns testen lassen, Hygienepläne einhalten – wir machen das seit Jahrzehnten. Unsere Gesundheit ist unser Kapital. Wir wurden in dieser Pandemie dazu gebracht, illegal und ungeschützt arbeiten zu müssen. Bei der Sexarbeit ist es nun so, dass die Abschaffung sicherer Arbeitsplätze uns nicht schützt, sondern im Gegenteil gefährdet. Wenn ich lese, dass Karnevalsvereine Hilfen in Millionenhöhe erhalten, da werde ich sprachlos. Das ist eine Vergnügungsbranche, die im Gegensatz zu Sexarbeit keinen Mehrwert hat. Sexarbeit ist nämlich Care-Arbeit und äußerst politisch.
kreuzer: Inwiefern?SOLIDOR: Bei dem Umgang mit der Sexarbeit geht es ganz oft darum, Sexualität zu sanktionieren, vor allem weibliche und nicht heteronormative. Viele glauben, dass der Diskurs über die Sexarbeit nichts mit ihnen zu tun habe. Das ist ein absoluter Trugschluss. Wenn die Gesellschaft und die Politik sich dazu berufen fühlen, in die körperliche Selbstbestimmung von Menschen einzugreifen, dann haben wir ein ganz grundsätzliches Problem. Es ist zu kurz gedacht, wenn man sagt: »Ja, okay, dann dürfen Männer halt nicht zu Huren gehen.« Wenn wir Sexarbeiterinnen nicht frei darüber entscheiden dürfen, was wir mit unserem Körper tun, dann schafft das Präzedenzfälle für viele andere Möglichkeiten moralischer Interventionen von staatlicher Seite.
kreuzer: Wie sehen Sie die Forderungen für ein permanentes Sexkaufverbot nach dem schwedischen Modell, für die die Coronakrise als Anlass diente?SOLIDOR: Aus Ländern, die dieses Modell eingeführt haben, erreichen uns immer wieder Nachrichten: Die Gewalt hat zugenommen, die Verdienste sind schlechter geworden, die Hilfsangebote praktisch nicht mehr existent. Auch Studien belegen, dass eher die Sexarbeiterinnen kriminalisiert werden als die Freier. Wenn in Zeiten, in denen Menschen meiner Branche obdachlos werden, nichts zu essen haben, in höchster Verzweiflung leben, keine Solidarität erfahren, ihre Lage dazu instrumentalisiert wird, um ein Sexkaufverbot zu fordern – das ist Menschenverachtung.