anzeige
anzeige
Kultur

»Geschichten, die einen was angehen«

Im Interview mit dem Verleger Jan Wenzel und Gestalter Wolfgang Schwärzler

  »Geschichten, die einen was angehen« | Im Interview mit dem Verleger Jan Wenzel und Gestalter Wolfgang Schwärzler

Mit seinem gewaltigen Collage-Band »Das Jahr 1990 freilegen« gewann der Verlag Spector Books aus Leipzig den Preis der Stiftung Buchkunst für das »Schönste Buch 2020«. Der kreuzer sprach mit Verleger Jan Wenzel und Gestalter Wolfgang Schwärzler über ihre Arbeit an diesem gigantischen Projekt, das Unbehagen in manchen Fotografien und das Glück, wenn Bücher sich mehrfach lesen lassen.

kreuzer: Das Jahr 1990 - steht es Ihnen nun, nachdem Sie Unmengen an Material gesichtet haben, klarer oder weniger klar vor Augen?

Wolfgang Schwärzler: 1990 war ich 7 Jahre alt und knapp 600 Kilometer von Leipzig entfernt. Das Jahr hat meinen Alltag zu der Zeit nicht wesentlich verändert. Ich kann nur ein paar schwammige Erinnerungen an Tagesschau-Sendungen mit meinen Eltern ins Gedächtnis rufen.Die intensive Zusammenarbeit mit Jan am Buch war für mich eine Chance, das Jahr aus einer neuen Perspektive nachzuerleben und mir ein gänzlich neues Bild der ›Wiedervereinigung‹ zu machen. Man kann also sagen: Mir war die Komplexität des Jahres noch nie so bewusst wie jetzt.

Jan Wenzel: Man kann sich in diesem Jahr verlaufen. Anfangs dachte ich, die Gefahr wird größer, je detailierter man sich die Ereignisse bewusst macht, die 1990 dicht aufeinander folgen oder nebeneinander herlaufen. Aber die Arbeit an dem Buch, die ja acht Monate zu meinem Alltag gehörte, hat zu einer große Vertrautheit mit all den unterschiedlichen Perspektiven und Ereignissen geführt. Wahrscheinlich kenne ich inzwischen keinen Zeitraum so genau wie dieses Jahr. Ich bewege mich heute in ihm ähnlich sicher, wie man sich nachts in der eigenen Wohnung bewegt – man kennt auch im Dunkeln jeden Gegenstand und findet sich blind zurecht.

kreuzer: Welches Teilstück dieses beeindruckenden Mosaiks hat Sie persönlich am meisten bewegt?

Schwärzler: Als Gestalter und visuell orientierter Mensch bewegen mich neben den Geschichten vor allem die Fotografien. Die vielen Gesichter, in die das Gefühlschaos dieses Jahres eingeschrieben ist – den Abgebildeten mal bewusster, mal unterbewusst. Es war toll, einen Einblick in die Archive der Fotografen zu bekommen. Sie haben uns großes Vertrauen und Freiheit in der Bildauswahl eingeräumt. Das ist alles andere als selbstverständlich und wir sind sehr dankbar dafür. Als Beispiel ein Bild von Gerhard Gäbler auf der Doppelseite 454. Es zeigt einen Flur im Arbeitsamt Leipzig. Im Hintergrund erstreckt sich der Gang in Zentralperspektive, gefüllt mit Wartenden. Im Vordergrund gibt es zwei Personen die unscharf, in die Kamera blickend, von links nach rechts vorüberziehen – geisterhaft – anwesend und abwesend zu gleich. Das Bild versetzt mich in ein Unbehagen, das vermutlich nur ein Bruchteil des Gefühls widerspiegelt, in dem sich die Menschen befunden haben müssen. Im krassen Gegensatz dazu stehen die Freude überstrahlten Gesichter eines Jungen und seines Vaters, aufgenommen am 3. Oktober von Andreas Rost (Seite 513). Der Vater mit einer Bier- und der Junge mit einer Sprite-Dose in der Hand.

Wenzel: Mir fallen zwei Dinge ein: Das eine ist ein Datum – der 5. Februar 1990. An diesem Tag beschloss der Zentrale Runde Tisch, dass der Wahlkampf für die letzte Volkskammerwahl, die am 18. März stattfand, allein von politischen Akteuren aus der DDR bestritten werden sollte, und wenige Stunden später traten in Bonn die Generalsekretäre von CDU und SPD vor die Kameras und verkündeten, dass der Beschluss des Runden Tisches für sie nicht bindend ist. Das war ein Akt großer Respektlosigkeit vor der Demokratiebewegung in der DDR, der Wahlkampf der dann vor allem von Kohl und Brandt bestritten wurde, hat dem entstehen einer politischen Öffentlichkeit schweren Schaden zugefügt, einen Schaden, der teilweise bis in die Gegenwart reicht. Interessanterweise hat zum Beispiel jemand wie Kurt Biedenkopf bereits im Februar 1990 genau gesehen, wie problematisch diese Einmischung war, die vorallem aus Machtkalkül erfolgte und darauf abzielte, Menschen, die in der demokratischen Revolution gerade ihre politische Reife gezeigt hatten, zu entmüdigen, sie wie Kinder zu behandeln, die noch nicht reif waren für die Macht.

Als zweites möchte ich das Buch »Das letzte Jahr« von Martin Gross nennen, das zu meiner wichtigsten Textquelle wurde. Martin Gross, der im Januar 1990 vom Schwarzwald nach Dresden gezogen war, um das Jahr 1990 dort zu beobachten, ist für mich der genauste und hellsichtigste Chronist dieses Jahres. Als wir an dem Buch arbeiteten, war der Autor nicht auffindbar, alle Suche, war vergebens: weder der Verlag, in dem das Buch 1992 das erste Mal erschienen war, konnte weiterhelfen, noch die Suche im Internet. Als das Buch dann erschienen war, und in jeder Besprechung auch die Texte von Martin Gross erwähnt wurden, hoffte ich, dass sie wie eine Suchmeldung wirken. Und tatsächlich fand ihn im Juni diesen Jahres ein Journalist, und inzwischen ist bei Spector Books eine Neuauflage von »Das letzte Jahr« erschienen. Das unserer Textmontage dazu geführt hat, dieses Buch wieder ins Bewusstsein zu rücken, es wiederzuentdecken, freut mich als Herausgeber außerordentlich.

kreuzer: Sie sagten, dass man das Buch nicht von vorne nach hinten lesen solle, sondern immer wieder aufschlagen muss. Welche der von Ihnen versammelten Geschichten sollte jeder in Leipzig kennen?

Schwärzler: Diese Frage fällt mir schwer zu beantworten. Als Wahl-Leipziger interessiert mich jetzt, welche Geschichten mir die Leipziger noch über das Buch hinaus erzählen würden.

Wenzel: Vor kurzen erschien eine Besprechung von Alf Mayer, in der eine Passage aus der Einleitung des Theoriebands Geschichte und Eigensinn von Alexander Kluge und Oskar Negt zitiert wurde: »Vom Leser wird bei diesem Buch Eigeninteresse erwartet, indem er sich die Passagen und Kapitel heraussucht, die mit seinem Leben zu tun haben. Auf diese Weise gliedert sich das Buch rasch auf. Es gibt Bücher, die man von Anfang bis zum Ende liest. Es gibt aber auch Bücher, deren Tugend in der Wiederholbarkeit liegt. Einer liest darin und dann liest er wieder darin. Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch.« – Das ist die Haltung mit der man »Das Jahr 1990 freilegen« lesen sollte, man findet die Geschichten, die einen was angehen.


Kommentieren


0 Kommentar(e)