In der Leipziger Südvorstadt sitzt ein Unternehmen, bei dem alle wissen, wie viel der andere verdient. Ein Paradigmenwechsel. Wie fühlen sich die Mitarbeitenden damit?
Philipp Nikolaus weiß genau, wie viel seine Kolleginnen verdienen. In einer Tabelle kann er das jederzeit einsehen. Transparentes Gehaltssystem nennt sich das und stellt eine Tradition in Frage: Das dunkle Geheimnis um die Ziffern auf der Gehaltsabrechnung der anderen.
Nikolaus arbeitet als Personaler in dem Leipziger Unternehmen the nu-company. Die Firma wirbt mit dem Slogan: »Ist die Welt noch zu retten? Wir glauben dran. Und fangen mit der Lebensmittelindustrie an.« Nikolaus begleitet Bewerberinnen von der Stellenausschreibung bis zum 1. Arbeitstag. Er hat sich Zeit genommen, um mit dem kreuzer unter Pandemiebedingungen ein Gespräch zu führen. Draußen ist es so winterlich kalt, dass die Fingerspitzen taub werden, aber bei Zoom ist immer Zimmertemperatur. Im offenen Büro des Unternehmens scheint keine Spur von Winterblues, die Mitarbeitenden, die durch das Rechteck auf meinem Bildschirm erscheinen, winken mir fröhlich zu.
Gemeinsame Entwicklung des Gehalts
Seit zwei Jahren sind die Gehälter der Mitarbeiterinnen transparent. Interessierte bewerben sich mit einem »Skillset«, wie Nikolaus es nennt, und ordnen sich selbst eine der Gehaltspositionen zu. Die Firma arbeitet mit einem gestaffelten Modell. Zusätzlich ordnet die Firma die Bewerberin mit Erfahrungen aus Bewerbungsgespräch und Lebenslauf ein. Anschließend kann eine offene Diskussion über die Entscheidung stattfinden. Das »Skillset« soll durch eine Analogie mit Seil und Knoten messbar werden. In der Beschreibung einer der Gehaltspositionen heißt es dann etwa: »Weiß noch nicht viel über Seile, möchte aber alles darüber lernen.«
War die Einführung eines transparente Gehaltsmodells eine ethische oder eine unternehmerische Entscheidung? Nikolaus erklärt: »Wir arbeiten so ethisch korrekt wie möglich und finden es wichtig, dass Gehaltsgespräche von einem Bauchgefühl losgelöst sind.« Die Mitarbeiterinnen wissen dadurch, welche Schritte sie für eine Gehaltserhöhung gehen müssen. Nicht ihre Beziehung zum Personaler solle ihr Gehalt beeinflussen, sondern allein ihre Fähigkeiten. Alle drei Monate haben die Neueingestellten die Möglichkeit, über das Gehalt zu sprechen – alle sechs Monate ist es Pflicht. Das bedeutet nicht immer, dass die Firma ihren Angestellten ein höheres Gehalt anbieten will, sondern ist eher ein »Growth-Talk«. Bin ich an meinen Aufgaben gewachsen? Wie nehme ich meine Rolle ein?
Wird mit Transparenz alles besser?
Geld ist schön. Unangenehm wird es, wenn es ungleich verteilt ist. Ist es nun besser, diese Verteilung auch noch mit ansehen zu müssen? Patrick Burkhardt ist Webentwickler bei der the nu-company. Er sagt, er habe noch nie in die Tabelle hineingeschaut. »Bei mir hat sich nichts geändert, aber ich kann mir vorstellen, dass es für viele Kolleginnen interessant war und bestimmt auch dafür gesorgt hat, dass sie sich verglichen haben.« Auch Nikolaus meint, dass ein negativer Punkt der Transparenz aufkommender Neid sein kann. Er selbst habe sich noch nie über Geld identifiziert.
Burkhardt bezeichnet das transparente Gehaltssystem als einen Kontrollmechanismus. »Falls Personen sehr viel mehr verdienen, kann man fragen, wodurch dies begründet ist und eine offene Diskussion darüber führen. Ist es okay, dass eine Person gerade mehr verdient? Kein Hörensagen. Es ist alles viel durchsichtiger«, sagt er. Problematisch findet er, wenn das Gehaltsystem bestimmte Qualitäten nicht mitdenkt. Etwa die Fähigkeit, sich gut um Kolleginnen zu kümmern.
In Unternehmen, in denen Burkhardt zuvor gearbeitet hat, sei eine seltsame Gerüchteküche entstanden. In der Mittagspause wurde darüber philosophiert, was andere verdienen. Wie viel die Vorgesetzte wohl bekommt? Er findet die Vorstellung mittlerweile ziemlich befremdlich, in einem Unternehmen zu arbeiten, dass nicht transparent mit Gehältern umgeht. Man mutmaße dann, wie weit die Schere auseinandergehe »Diese Unsicherheit führt meiner Meinung nach zu viel mehr Konflikten, als es ein offener Umgang tun würde«, sagt er.