Unzählige Bücher überfluten den Markt. Linn Penelope Micklitz und Josef Braun helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl. Diesmal blättert und liest Familienredakteur Josef Braun sich durch »Der Wal im Garten« von Sabine Rufener. Und erfährt dabei wie kompliziert und schön es sein kann, wenn ein Wal vor der Haustüre liegt.
Ein Wal im Garten - das ist für niemanden etwas Alltägliches. Und doch scheint die junge Lille nicht besonders überrascht über ihren neuen Mitbewohner. Eher ärgert sie sich, denn der Wal liegt auf ihrem Fahrrad, was bedeutet, dass sie zu spät zur ersten Schulstunde kommen wird.
»Der Wal im Garten« kämpft nicht um die Aufmerksamkeit der Leserinnen. Knallige Farben? Fehlanzeige. Stattdessen dominieren gedeckte Kombinationen aus Grün, Blau, Braun oder Gold. Die Autorin und Illustratorin Sabine Rufener hat verschiedene Drucktechniken angewandt. Kombiniert mit zurückhaltenden Zeichnungen verleihen diese ihrem Buch eine traumgleiche Atmosphäre. Man schlägt es auf, und gleich scheint sich der Puls zu beruhigen. Das erinnert an »Die verlorene Seele«, das Kinderbuch von Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk und Illustratorin Joanna Concejo.
[caption id="attachment_122525" align="alignright" width="238"] Kommt ohne knalligen Farben aus: »Der Wal im Garten«; Cover: Kunstanstifter 2021[/caption]
Auch in der Art ihrer Erzählung sind sich beide Bücher ähnlich. Ruhig im Ton entwickeln sie ihre Geschichten. Im Fall von »Der Wal im Garten« geht diese so weiter: Während seiner Tage an Land wird der Wal immer kleiner. Gleichzeitig wächst seine Sehnsucht nach dem Meer. Irgendwann bittet er Lille um Hilfe. In einem Eimer transportiert sie ihn auf ihrem Fahrrad zum Strand. Wieder übernehmen die Bilder einen Großteil der Erzählung. Bis im entscheidenden Moment des Abschieds die Worte ganz ausbleiben. Stattdessen vertraut die Autorin auf eine Doppelseite mit ihrer Protagonistin vor einem phänomenalen Sonnenuntergang.
»Der Wal im Garten« ist eines dieser Bücher, die für Erwachsene genauso faszinierend sind wie für Kinder. Das passt zum Konzept der Kunstanstifter. Der Mannheimer Verlag konzentriert sich vornehmlich auf Bilderbücher mit starkem künstlerischen Anspruch. Manchmal gerät dabei der kindliche Leser etwas aus den Augen, nicht jedoch bei Sabine Rufener. Gekonnt schafft sie den Sprung von Kunst zu Kind. Dabei ist der Respekt, den sie ihrer jungen, stets etwas scheuen Protagonistin entgegenbringt, durchgehend spürbar.