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Guter Rad ist teuer

  Guter Rad ist teuer |
Jährlich sterben mehrere Radfahrer in Leipzig, fast 1.000 werden verletzt. Tut sich zu wenig in Sachen Fahrradsicherheit? Was muss unternommen werden, um den Druck von den Radwegen zu nehmen? Und welche Hoffnung winkt mit dem Projekt Tempo 30? Die Titelgeschichte aus der August-Ausgabe des kreuzer 08/21.
Grün zeigt die Ampel, die Pedale rotieren. Reibungslos geht es gegenüber der Runden Ecke auf den Dittrichring – auf den Radweg. Die Ampelschaltung läuft parallel zu der der Autos. Jeder sieht jeden, man kommt sich nicht ins Gehege. Der Verkehr läuft. Vorbei an der Musikhochschule, dem Schauspielhaus. Alles fließt. Und plötzlich ist der Radweg verschwunden. 
Wenige Meter vor der Kreuzung Gottschedstraße endet die Markierung. Der eben noch schwungvolle Radler findet sich mitten auf der Straße wieder und muss eine straffe Bremsung hinlegen, um nicht den an der Ampel wartenden Müllwagen zu übersehen. Der abrupt im Nichts endende Radstreifen am Dittrichring ist nur ein Ärgernis von vielen für Leipzigs Radfahrer. Für ein Drittel bedeutet das Radeln in Leipzig Stress, zwei Drittel fühlen sich gefährdet. Die Autodichte nimmt in der Stadt weiter zu. Zusätzlichen Druck besonders auf die Radwege werden ab Herbst Elektro-Roller bringen, die dann zwei Verleihfirmen anbieten werden. Und viele im sächsischen Klein-Paris schielen staunend aufs französische Paris, wo in atemberaubender Geschwindigkeit die Autostadt demontiert wird. »Wenn man am Dittrichring Tempo 20 plus fährt, dann hat man grüne Welle und kommt bis zum Neuen Rathaus ohne Stopp und Autokontakt«, sagt Christoph Waack, Leipzigs Radverkehrsbeauftragter, beim Gespräch mit dem kreuzer im Technischen Rathaus. »Außerdem herrscht hier Mischverkehr«, ergänzt Michael Jana, Leiter des Verkehrs- und Tiefbauamtes. »Die Fahrradfahrer dürfen ausdrücklich die Fahrbahn benutzen. Das ist ein Entgegenkommen an die Radfahrer.« Robert Strehler hat, wenn man ihn auf den Dittrichring anspricht, eine ganz andere Meinung – schon aus Berufung. »Wenn das das Ergebnis nach zwei Jahren ist, dann kann das doch nicht zufriedenstellend sein«, sagt der Leipziger Vorstandsvorsitzende des hiesigen ADFC-Ablegers, des Allgemeinen Deutschen Fahrrad Clubs. Mit festem Blick schaut er aus dem Fenster auf das Verkehrsgeschehen vor dem ADFC-Büro. »Da gibt es ein rechtskräftiges Urteil.« Im Oktober 2018 kippte das Oberverwaltungsgericht Bautzen das städtische Radfahrverbot auf dem Promenadenring, zu dem der Dittrichring gehört. Seitdem suchte das Verkehrsamt nach Lösungen, bis es im April 2021 schließlich am Dittrichring den Streifen markierte. Für Strehler geht das viel zu langsam. »Warum fehlt der 
politische Mut?«, sagt er hinsichtlich des steigenden Verkehrsaufkommens. Der Radverkehr habe gefühlt zugenommen, meint Strehler. Laut Kraftfahrt-Bundesamt stieg 2020 die Zahl der PKWs in Leipzig trotz Pandemie um 1,1 Prozent auf rund 233.000 Fahrzeuge. »Zu welchen Kosten nimmt man das hin?«, fragt Strehler. »Es ist für Autos immer noch zu leicht in Leipzig.« Leicht ist auch ein Radfahrer »übersehen«, wie es bei entsprechenden Unfällen in der Tagespresse dann heißt – erst Mitte Juli wurde ein 10-jähriges Kind in Grünau von einem LKW schwer verletzt, als es mit dem Fahrrad die Lausener Straße kreuzte. Am selben Tag überfuhr ein PKW-Fahrer eine Radfahrerin an einer Ampel in der Rosa-Luxemburg-Straße, weil er die Rotschaltung nicht beachtete. »Übersehen« werden ist besonders gravierend, wenn LKWs beteiligt sind und es zu den berüchtigten »Rechtsabbiege-Unfällen« kommt. Bei diesen fahren LKW-Fahrer los, obwohl sie das aufgrund ihrer durch den toten Winkel behinderten Sicht gar nicht dürften. Im Jahr 2018 ereigneten sich 15 solcher Unfälle, 2019 waren es 12, 2020 waren es 16. Jedes Jahr starben dabei zwei Menschen. »Fatales Versagen« Einer dieser Unfälle passierte am 22. Mai 2019 auf der Jahnallee und endete für eine 20 Jahre junge Radfahrerin tödlich. Es war mittags, gegen 12.30 Uhr, als sie Richtung Lindenau unterwegs war. Als ein LKW-Fahrer auf der Allee rechts in den Cottaweg einbiegen wollte, überrollte der 57-Jährige die Radfahrerin mit seinem Lastwagen. Sie verstarb noch am Unfallort. Knapp zwei Jahre später, im April 2021, begann der Prozess gegen den LKW-Fahrer, dem fahrlässige Tötung vorgeworfen wurde. Dieser entschuldigte sich vor Gericht bei den Eltern der Radfahrerin, es tue ihm leid, »er könne das gar nicht beschreiben«. Mit 15 Kilometern pro Stunde sei er abgebogen, ohne davor zum Stehen zu kommen. Die Staatsanwaltschaft stellte fest, dass der Unfall durch einen Blick in den Rückspiegel wahrscheinlich hätte vermieden werden können. Von einem »fatalen Versagen« sprach der Verteidiger. Die Richterin Sabine Hahn verurteilte den in Leipzig ansässigen Vater von drei Kindern letztlich zu einer Geldstrafe, die mit 180 Tagessätzen à 30 Euro bemessen wurde. Zudem wurde ihm ein zweimonatiges Fahrverbot auferlegt. Auch wenn das aus Sicht einiger Aktivisten wie eine milde Strafe erscheinen mag, zeigt sich auch die Schwierigkeit, mit solchen Fällen juristisch umzugehen. Wie kann einer strukturellen Bedrohung für bestimmte Verkehrsteilnehmer vor Gericht Rechnung getragen werden? Welche (politische) Signalwirkung können solche Urteile haben? Richterin Hahn verwies im Urteil auch auf die dauerhafte Gefahr für Radfahrende und Fußgänger auf der Jahnallee. Die gefährliche Unfallstelle sei laut ihr noch immer nicht angemessen entschärft worden. »Der Tod dieser jungen Radfahrerin sollte uns allen eine Mahnung sein«, sagte sie. Zu einem persönlichen Gespräch mit dem kreuzer standen die Angehörigen der getöteten Radfahrerin nicht zur Verfügung. Nun, da der Gerichtsprozess vorbei ist, möchten sie mit dem Fall abschließen. [caption id="attachment_127991" align="alignright" width="291"] Foto: Christiane Gundlach[/caption] Mahnungen allein reichen selbstverständlich nicht. Das fast ikonografische weiße Geisterrad am Wilhelm-Leuschner-Platz, das an eine 16-Jährige erinnert, die im Mai 2018 hier unter einem LKW starb, konnte spätere Unfälle auch nicht verhindern. Helfende Abbiegeassistenten werden frühestens 2022 Pflicht – alle städtischen LKWs verfügen bereits darüber. Und wenn die Polizei angesichts solcher Gefahren öffentlich die Radfahrenden gemahnt, einmal mehr zu schauen und bloß nicht auf seinem Vorfahrtsrecht zu bestehen, ist das eine reichlich hilflose Geste. Kein Wunder, dass sich Radfahrer in Leipzig nicht sicher fühlen. »Fast 70 Prozent der Radfahrer hier fühlen sich gefährdet, noch mehr bedrängt«, sagt Robert Strehler. Das habe der sächsische Fahrradklima-Test 2020 ergeben. »39 Prozent nennen Radfahren in Leipzig Stress.« Und mehr als 80 Prozent sehen häufig Konflikte zwischen Fahrradfahrern und PKW-Lenkern. Das kommt nicht von ungefähr: Leipzig wächst weiter und jeder Zuzug bedeutet weitere Verkehrsteilnehmende – und damit Frust aller Beteiligten sowie die Notwendigkeit zu handeln. Die Unzufriedenheit der Leipziger mit der Radverkehrssituation ist gestiegen, wie der Bericht zum Qualitätsmanagement für den Radverkehr (BYPAD Audit 2020) zeigt. In der städtisch beauftragten Studie wird die stagnierende Radverkehrsentwicklung bemängelt: »Ganz deutlich wurde die Unzufriedenheit mit den wenigen sichtbaren Erfolgen der letzten Jahre geäußert.« Und weiter: »Die Gesamtnote betrug nun 2,3 von maximal 4,0 erreichbaren Punkten, 2014 wurde Leipzig noch mit der Note 2,7 bewertet. Der vorliegende Bericht sieht Schwächen etwa bei den Themen Infrastruktur und Sicherheit. So heißt es beispielsweise, die Infrastruktur zum Radfahren sei in die Jahre gekommen und bedürfe einer generellen Überprüfung.« »Leipzig ist keine Autostadt« Dabei hat sich der Fahrradverkehr hier in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. In den Wendejahren machte die Beteiligung der Fahrräder am städtischen Gesamtverkehr noch fünf Prozent aus, 2015 entfielen rund 17,3 Prozent darauf. Bis 2020 sollte er laut städtischer Zielvorgabe im Mobilitätskonzept auf 20 Prozent steigen – die anvisierte Zahl wurde auf 2025 verschoben. Vielleicht erreicht der Radverkehr auch heute schon ein Fünftel vom Gesamtkuchen, darauf einstellen will sich die Stadt offenbar erst später. Dabei ist das Feilschen um ein paar Prozentpunkte bei Erhebungen, die nur alle Jahre mal durchgeführt werden, kein strategisch kluges Vorgehen. Akute Lösungen bringt es erst recht nicht hervor. Auf Dauer helfen neben der Unterstützung des Radverkehrs nur der Ausbau des Öffentlichen Personennahverkehrs – er soll einst 25 Prozent erreichen, sank aber in der Pandemie – und des Fußverkehrs, bei dem 20 Prozent angepeilt sind. Denn alle alternativen Verkehrsformen sind gefragt, um den Autoverkehrsanteil zu reduzieren und den Druck von den Straßen zu nehmen, was nicht nur angesichts der Verkehrssicherheit sinnvoll, sondern auch ökologisch geboten ist. Immerhin hat die Stadt 2019 den Klimanotstand ausgerufen. Das kann letztlich nichts anderes als eine Neuaufteilung des Stadtraums heißen. Schließlich sind selbst parkende Fahrzeuge Hindernisse im Straßenraum und bedeuten ein Platzproblem. »Das sind zehn bis zwölf Quadratmeter, die entweder die Straße einnehmen oder einfach herumstehen«, sagt Robert Strehler vom ADFC. »Alles, was die Leute aus den Autos herausholt, ist positiv. Solange es für die Menschen so einfach ist, die Wege in der Stadt mit dem PKW zurückzulegen, wird sich nichts ändern. Es ist ja verständlich, dass jeder für sich den bequemsten Weg geht – nur ist der für alle eben nicht gut.« Das werden modernere Autos nicht lösen, im Gegenteil. Denn der Trend zu den für den Stadtraum überdimensionierten SUV hält an. Im ersten Halbjahr 2021 stieg der Anteil dieser Sport Utility Vehicles an allen Neuzulassungen bundesweit laut Kraftfahrt-Bundesamt auf 24 Prozent – ein Plus von rund drei Prozent. Man könne nicht prognostizieren, was die gestiegene PKW-Zahl künftig bedeute, sagt Michael Jana. »Viele Menschen bringen ihre Autos mit, wenn sie nach Leipzig ziehen«, so der Verkehrsamtleiter. »Sie merken dann hoffentlich, dass sie das hier gar nicht mehr brauchen.« Das sei die Herausforderung, vor der er die Stadt sieht: »Leipzig ist keine Autostadt, wir räumen dem anderen Verkehr mehr Platz ein. Aber das, was wir in Leipzig leben wollen und worauf wir mit unserer Mobilitätsstrategie hinarbeiten, muss jeder Zugezogene erst einmal erleben können.« Das sähen alle Entscheidungsträger so, entsprechende Aufträge gebe es aus dem Stadtrat und auch der Umstand, dass es mit Christoph Waack einen eigenen Radverkehrsbeauftragten gibt, unterstreiche das. Dieser ist für alle in der Stadtverwaltung ein Ansprechpartner und fungiert auch als Vermittler zu den Verbänden. Eine »Institution« nennt ihn Jana. Waack selbst räumt ein, dass die Planungen oft viel Zeit erfordern und nach vielen Abstimmungen getroffene Beschlüsse schon wieder veraltet sein könnten. Als Beispiel nennt er einen Kreisverkehr in Hirschfeld, der im nächsten Jahr gebaut werden soll, um eine Unfallstelle zu entschärfen. Seit 2008 wurde da diskutiert, waren Planungen erforderlich, die Finanzierung, ein Planfeststellungsbeschluss. »Das dauert dann zehn, zwölf Jahre, bis wir tatsächlich zum Bauen kommen«, so Jana. »Die daraus resultierenden Anforderungen überschlagen sich mit der Realität.« Will heißen: In einer sich so schnell entwickelnden Stadt kann man nur zu spät kommen. »Die Planungen sehen natürlich aus wie die von vor fünf Jahren«, räumt er ein. »Wir haben dort noch nicht die Radverkehrsanlagen Richtung Borsdorf geplant,    keine Radfahrstreifen auf den Trassen, weil man zum damaligen Zeitpunkt nicht so weit gedacht hat. Das würden wir heute natürlich machen, es muss aber neu geplant werden.« [caption id="attachment_127989" align="alignright" width="320"] Foto: Christiane Gundlach[/caption] Aufruf zur Rücksichtnahme Und agiert man mal zügig, gibt es auch wieder Kritik. So hat die Stadt endlich das Parken auf dem Gehweg in der Erich-Zeigner-Allee unterbunden – das quasi gewohnheitsrechtlich ausgeübt wurde. »Nun stehen die Autos auf der Straße und behindern den Radverkehr«, ärgert sich Robert Strehler. »Da hat die Stadt richtig reagiert, um die Fußgänger zu schützen, aber doch nur halbherzig. Sie hätten sagen müssen: ›Hier ist einfach kein Platz zum Parken.‹ So werden keine Kinder gefahrlos in die Schule radeln können.« »Da sind wir beim Ahnden des Gehwegparkens schneller gewesen als mit dem zweiten Schritt«, erklärt Janta. »Wir werden das Parken auf der Fahrbahn in den nächsten Tagen unterbinden. Und Radverkehrsanlagen prüfen.« Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Auch das kritisierte Stückwerk am Promenadenring werde nicht so bleiben: »Das war nur ein Anfang«, so Jana. »Bei den weiteren Abschnitten müssen noch Sachverhalte abgeklärt werden. Bis Ende des Jahres wollen wir die Fahrradanlage am westlichen Ring bis zum Neuen Rathaus beziehungsweise den großen Verkehrsknotenpunkt umsetzen.« Nicht immer kann man alle Wünsche umsetzen und eine Radverkehrssituation wie auf der Bornaischen Straße schaffen, die sogar der ADFC lobt, meint Christoph Waack. »Umgestalten im Bestand bereitet uns die größten Schwierigkeiten«, sagt er. Das kann man auf der Karl-Heine-Straße beobachten, wo die Fahrradfahrer zugunsten der Fußgänger nun auf die Fahrbahn ausweichen müssen. Zwar ist dort ein Radstreifen markiert, PKW-Fahrbahn und Bahnschienen führen aber zur beengten Situation, zumal die in die Parkbuchten ein- und ausfahrenden Kurzzeitparker Hindernisse darstellen. Aufgrund des Baumbestands konnte der Radstreifen aber nur zwischen Fahrbahn und Parkbuchten angebracht werden.   Das Thema Parken beziehungsweise das eingebildete Recht auf einen Parkplatz ist ein Hauptärgernis, was die Sicherheit angeht. »85 Prozent der für den Fahrradklima-Test Befragten stimmten der Aussage zu: ›Bei uns wird großzügig geduldet, wenn AutofahrerInnen auf Radwegen parken‹«, sagt Robert Strehler. »Dass sie hier andere massiv gefährden, merken die Autofahrer nicht einmal.« Er fordert mehr Rücksicht – auch von Fahrradfahrern: »Andere rechts überholen oder Ampeln überfahren ist genauso falsch. Es braucht bei allen Rücksicht, Nachsicht, Vorsicht.« Ähnliches ist von den Herren vom Amt zu hören, die sich ebenfalls mehr Rücksicht wünschen. Rücksicht hätte auch Björn Trabert (Name geändert) gut gebrauchen können, der alle Strecken in Leipzig mit dem Fahrrad zurücklegt. Vor einem Jahr wollte er an einem zum Stehen gekommenen Auto vorbeifahren. Der Fahrer des Wagens habe sich durch ihn offenbar provoziert gefühlt und Trabert zuerst am Hinterrad touchiert. Als dieser wütend mit der Hand auf die Motorhaube schlug, sei ihm das Auto »mit quietschenden Reifen« hintendrauf gefahren. »Das Rad lag unterm Auto und wurde zehn Meter über die Straße geschleppt. Danach ist er auf mich losgegangen«, erzählt Trabert. »Ich hab Panik bekommen.« Die genaue Unfallstelle möchte er aus Angst vor dem Autofahrer nicht nennen, das Verfahren gegen diesen läuft noch. Björn Trabert zog sich ein gebrochenes Handgelenk, blaue Flecken und Kratzer zu. Damit habe er »wahnsinniges Glück« gehabt. Trabert betrachtet den Vorfall nicht als Einzelfall, bemerke in den letzten Jahren eine »Zunahme an Aggressivität«. Trabert sieht die Verantwortung auch bei der Verwaltung: »Die Verkehrsplanung trägt nicht dazu bei, die Situation zu entschärfen.« E-Roller: Der Verkehrsdruck steigt Nicht alles können bauliche Anlagen regeln. »Es geht ja nicht nur um Infrastruktur, sondern auch um Aufklärung«, sagt Waack. Auf manche Ereignisse kann man nur reagieren oder versuchen, sie zu steuern. So kommt die für den Herbst geplante Verkehrssicherheitskampagne pünktlich zum Einzug eines neuen Verkehrsmittels nach Leipzig. Zwei Verleihfirmen – TIER und VOI – werden dann Elektro-Scooter anbieten. »Wir haben ausführlich beraten, wie wir das anhand der Erfahrungen in anderen Städten hier gestalten können«, sagt LVB-Sprecher Marc Backhaus. Das kommunale Verkehrsunternehmen übernimmt als städtischer Mobilitätspartner die Abwicklung. Denn einfach überall im Stadtgebiet abstellen darf man sie nicht. Dafür sind Mobilitätsstationen vorgesehen; derzeit zirka 30. Sie sollen verhindern, dass die Roller wie in anderen Städten achtlos abgestellt die Wege versperren. Aus Köln kam zuletzt gar die Meldung, dass zahlreiche Scooter im Rhein landeten. Das immerhin ist für Leipzig auszuschließen. »An den Stationen stehen auch Leihräder und Leihautos bereit, sie liegen in Nähe zum ÖPNV, was die Einbindung der E-Scooter in unser gesamtes Mobilitätssystem ermöglicht«, hofft Backhaus. Mit ihnen könnte man etwa die letzten Kilometer des Arbeitswegs zurücklegen. »Das wird die Zeit zeigen. Wir können uns innovativen Fortbewegungsmitteln ja nicht verschließen, sondern müssen den Rahmen schaffen.« Michael Jana vom Verkehrsamt glaubt hingegen, dass die Roller eher etwas für Touristen sind. »Ob sie tatsächlich etwas Mobilität für den Alltag bringen, wird sich zeigen.« Wie viel mehr Druck die auf 20 Stundenkilometer gedrosselten Mikrofahrzeuge für die Radwege bedeuten, ist noch nicht abschätzbar. Auch der ADFC will sie nicht verdammen, sondern abwägen. »Wir müssen das System anpassen, denn die fahren vor allem auf dem Radweg. Das hätte man sich vorher klarmachen können. Hat die Stadt eine Antwort darauf?« Was die Sicherheit angeht, verweist Robert Strehler auf ein innerstädtisches Tempo 30. »Dann wären Überholvorgänge ungefährlicher, weil sich die Radler in den fließenden Autoverkehr einreihen können.« Das klingt optimistisch angesichts der bundesweiten Unfallstatistik der Polizei. Demnach wurden 2020 bei mehr als 2.100 Unfällen mit E-Scootern Tausende Menschen verletzt, davon 386 schwer, 1.907 leicht. Fünf Menschen starben. Bei nahezu Dreiviertel der Unfälle seien die Rollerfahrer hauptverantwortlich gewesen. Städte wie Paris drohen bereits, den Verleihern das Geschäft zu verbieten, wenn sie nicht dafür sorgen, dass ihre Kunden die Verkehrsregeln einhalten. Quo vadis, Klein-Paris? Paris ist auch ein Hoffnungszeichen für viele Fahrradfahrende. Die Seinemetropole ist nämlich von einem großen Wandel ergriffen, findet sich in beachtlichem Tempo zur Radfahrer- und Fußgänger-freundlichen City umgebaut. Das sei beachtlich, was da passiert, sagt Amtschef Jana: »Allerdings gab es dort extrem wenig Fahrradverkehr, weshalb es nicht so beeindruckend aussieht.« In Leipzig bewegt es sich auf hohem Niveau, dafür langsam, könnte man ergänzen. So sind von den 525 Kilometern hiesigen Radwegen zum Beispiel 40 Prozent seit 2009 entstanden. Und es soll weitergehen, verspricht Jana. Aus dem gerade gestarteten »Aktionsprogramm Radverkehr« werde man nun »vieles auf der Straße umgesetzt sehen«. Waack ergänzt: »Wir werden über den Sommer hinweg ungefähr sieben Kilometer Radverkehrsanlagen markiert haben. Bis ins nächste Jahr setzen wir weitere Maßnahmen um.« Das 
Aktionsprogramm ist für zwei Jahre konzipiert und beinhaltet Infrastrukturmaßnahmen und Kommunikationsarbeit mit einem Gesamtvolumen von fast 8,7 Millionen Euro. Ein Punkt sieht ausdrücklich »effizientere Kontrollen und Sanktionierungen« bei Falschparken auf Radwegen vor. Vor allem wünscht sich Verkehrsamtschef Jana mehr Unterstützung aus Berlin. »Auf bundespolitischer Ebene muss sich etwas tun. Wir brauchen als Kommunen mehr Handlungsfähigkeit, vor Ort nach den Bedürfnissen zu agieren.« »Die neue StVO war, wenn auch mit einem Jahr Verzögerung, ein großer Schritt«, so Waack. »Dadurch können wir jetzt Abstellplätze für Lastenräder einrichten. Die Anordnung von Fahrradstraßen liegt jetzt im Ermessen der Straßenverkehrsbehörde.« Mehr Handlungsfreiheit steckt auch hinter dem bundesweiten, von der Stadt Leipzig initiierten Tempo-30-Pilotprojekt (s. Kasten). »Man dreht es einfach um, wenn man sagt: Jetzt ist nicht mehr Tempo 50, sondern Tempo 30«, erklärt Jana. »Dann muss eine Behörde nicht mehr einzeln beweisen, dass eine Gefahr vorliegt, um 30 km/h anzuweisen. Und sie kann, wenn es gute Gründe wie den Verkehrsfluss gibt oder Ähnliches, an Straßen auch Tempo 50 ausweisen.« 30 wären die neue Normalität. »Riesenwurf«, sagt Amtsleiter Michael Jana unter Nicken des Radbeauftragten Waack. Auch Robert Strehler vom ADFC hält das für unbedingt geboten: »Tempo 30 wäre auf viele Sicherheitsprobleme eine richtige Antwort. Hoffentlich bleibt es nicht beim Pilotprojekt, sondern wird auf Dauer eingerichtet.« Denn man dürfe nicht vergessen: »Straße ist ein Ort der Begegnung.«
U-30-Party Leipzig will Tempo 30 testen – für bessere Luft und Sicherheit In einem Pilotprojekt wollen sieben deutsche Großstädte großflächig Tempo 30 testen. Dieses geht auf eine Leipziger 
Initiative zurück. Baubürgermeister Thomas Dienberg warb, zwei Anträge von Linken und Grünen im Stadtrat aufgreifend, bei verschiedenen Städten um gemeinsames Handeln. Die Initiative wird vom Deutschen Städtetag unterstützt, OBM Burkhard Jung hat sich in Doppelfunktion als Stadtoberhaupt wie Städtetagspräsident dafür starkgemacht. Dem Plan nach soll nur auf wenigen Hauptverkehrsstraßen eine Geschwindigkeit von 50 km/h zulässig sein. Die Deutsche Umwelthilfe und die WHO sprechen sich schon länger für Tempo 30 aus. Beeinträchtigungen erwarten die Initiatoren nicht: »Die Leistungsfähigkeit für den Verkehr wird durch Tempo 30 nicht eingeschränkt, die Aufenthaltsqualität dagegen spürbar erhöht.« Sie erhoffen sich aber sauberere Luft und mehr Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer. Das Pilotprojekt muss noch vom Verkehrsministerium genehmigt werden.

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