Die neuen Kinostarts reißen nicht ab und so wird die Wahl immer schwieriger – vor allem bei den gelegten Terminen. In dieser Woche besonders zu empfehlen, der Dokumentarfilm »Uta« über die Leipziger Straßenmusikerin und das irische Drama »Nowhere Special«. Außerdem zu sehen ist der Film »Titane«, der sich thematisch zwischen Körperpolitiken und Identitätsfindung bewegt.
Es hatte sich bereits im Sommer angekündigt und kühlt auch im Herbst nicht ab: Der Kinokalender ist voll. Ein Festival reiht sich an die nächste Filmreihe und auch die Startliste quillt über. Alle wollen ins Kino, nur Kinos gibt es nicht genügend für alle – von Besuchern ganz zu schweigen. So kommt es im Windschatten vom 25. Bond zu dem traurigen Zustand, dass zwei der wichtigsten Filme unterzugehen drohen: Mario Schneiders berührender Dokumentarfilm »Uta« läuft an gerademal drei Tagen zu unmöglichen Zeiten und das bewegende irische Drama »Nowhere Special« gleich nur in Grünau. Was uns bleibt ist der Appell an die Leipziger, die Gelegenheit wahrzunehmen, und an die Kinobetreiber doch bald einen Platz für ein würdiges Nachspiel freizuräumen.
Film der Woche: John ist 35, Fensterputzer und hat in seinem Leben vielleicht den ein oder anderen Fehler gemacht. Doch bei seinem dreijährigen Sohn Michael will er alles richtig machen. Seine Frau verließ die beiden kurz nach der Geburt und so kümmert er sich aufopferungsvoll um den Kleinen. Doch John ist unheilbar krank und ihm bleiben nur noch wenige Monate, um eine Familie für Michael zu finden und sich von ihm zu verabschieden. Gemeinsam mit einer Sozialarbeiterin besuchen sie Paare, die als potenzielle Kandidaten infrage kommen und unterschiedliche Gründe für den Wunsch nach einer Adoption haben. Aber wie findet John heraus, welche die richtigen sind? Wird Michael seine neue Familie akzeptieren und wie wird er reagieren, wenn ihn nach der Mutter auch noch sein Vater zurücklässt? Dieser Frage geht Regisseur und Drehbuchautor Uberto Pasolini (»Still Life«) behutsam, unsentimental und authentisch nach. Vieles bleibt unausgesprochen, spiegelt sich aber in den Blicken und Gesten dar. Der kurze Einblick in die Pflegefamilien erzählt viel über deren soziale Hintergründe. Pasolinis Film steht dabei ganz in der Tradition des britischen Sozialdramas von Regisseuren wie Ken Loach. Seine beiden Hauptdarsteller sind ein absoluter Glücksgriff: James Norton (»Mr. Jones«) und der kleine Daniel Lamont sind ein überzeugendes Vater-Sohn-Gespann und sorgen dafür, dass die bittersüße Geschichte tief unter die Haut geht.
»Nowhere Special«: ab 7.10., Cineplex
Nach einem Autounfall im Kindesalter wird Alexia dauerhaft eine Titanplatte zur Stabilisation ihres Schädels implantiert. Dem Hinweis des Arztes, neurologische Veränderungen zu beachten, folgt niemand. Trotz des Traumas entwickelt Alexia ein inniges, von sexueller Begierde getriebenes Verhältnis zu Autos, menschliche Annäherungsversuche wehrt sie gewalttätig ab – bis hin zu einer voll ausgeprägten Karriere als Serienmörderin. Von der Polizei verfolgt, nimmt sie die Identität eines vor Jahren spurlos verschwundenen Jungens an und gerät in die zunächst erzwungene Obhut von dessen Vater und der von ihm geführten Feuerwehr-Einheit.
Ebenso wie ihr Langfilmdebüt »Raw« siedelt Julia Ducournau »Titane« thematisch im Spannungsfeld von Körperpolitiken und Identitätsfindung an. Lief jener – vielleicht wegen kolportierter Ohnmacht in Festivalsälen – nicht in den hiesigen Kinos, sorgt das Renommee der in Cannes vergebenen Goldenen Palme nun für viele Termine, selbst in den Arthouse-Spielstätten. Kompromisslose Wundinszenierungen und das Überschreiten von Körpergrenzen, für die Teile des französischen Kinos ums Millennium herum mit dem Label »neue Härte« versehen wurden, finden sich in »Titane« ebenso wie die ästhetisierte, mit Pop-Elementen versehene Darstellung soldatischer Männlichkeit im Sinne Claire Denis‘. Ungeachtet dieser Referenzen stellt »Titane« ein höchst eigenständiges Werk dar, das in seiner Radikalität die Herausforderung der Herbstsaison ist.
»Titane«: ab 7.10., Regina Palast, Kinobar Prager Frühling, Passage Kinos, Schauburg
Jeder ist seines Glückes Schmied? Die größte Lüge in der angeblichen Leistungsgesellschaft ist die Botschaft, dass es jeder schaffen kann. Jeder starte mit gleichen Chancen, müsse sich nur anstrengen. Dass das nicht wahr ist, beweisen immer wieder Studien. In Politik und Gesamtgesellschaft kommt die Wahrheit dennoch nicht an. Darin wird auch »Klassenkampf« nichts ändern. Im Dokumentarfilm thematisiert Sobo Swobodnik anhand der eigenen Biografie den fast unmöglichen Klassenaufstieg, reflektiert über die Schranken und berichtet auch darüber, wie es als Aufgestiegener ist. Denn seine Herkunft kann man nie ganz abstreifen, Scham und Außenseiter-Gefühl begleiten einen zeitlebens. Swobodik lässt seine Biografie von Margarita Breitkreiz erzählen, die auch mal doppelt und dreifach auftritt. Sie ist Fotos zertrümmernd im Elternhaus zu sehen, in einem Saurierpark, einem Fitnessstudio und Regionalzug. Zusätzlich interviewt sie sich selbst in der Rolle von Autorinnen wie Didier Eribon und Annie Ernaux. Man klebt an ihren Lippen, es bedarf aber großer Konzentration, ihr zu folgen. Der Film bleibt vor allem ein illustrierter Vortrag, die formale Strenge muss man mögen. Außerhalb eines politisch links interessierten Arthouse-Publikums wird der Film also niemanden erreichen, niemanden überzeugen, der um die Klassengesellschaft eh schon weiß. Dann kann man auch einfach Didier Eribon lesen.
TOBIAS PRÜWER
»Klassenkampf«: 8.10., Kinobar Prager Frühling
Weitere Filmtermine der Woche
Das andere Leben - Kalter Krieg und Konterrevolution
(D 2020, Dok) - Globale
Die vierte Episode der Sendereihe wirft einen Blick auf das Verhältnis zwischen Bundesrepublik und DDR. - Globale
Passage-Kinos
• Donnerstag 07.10., um 20:00 Uhr
Drei Schritte zu dir
(USA 2019)
Stella und Will lernen sich im Krankenhaus kennen, doch ihre Krankheit zwingt sie dazu, Abstand voneinander zu halten.
R: Justin Baldoni, D: Haley Lu Richardson, Cole Sprouse, Moises Arias, USA 2019, 117 min
Passage-Kinos
• Donnerstag 07.10., um 18:00 Uhr
Fortschritt im Tal der Ahnungslosen
(D 2019, Dok; OmU) - anschließend Gespräch mit Filmteam
Florian Kunert bringt syrische Geflüchtete und ehemalige Werksarbeiter des volkseigenen Kombinats »Fortschritt« zusammen. - mit Regiegespräch
R: Florian Kunert, D 2019, Dok, OmU, 69 min
Schaubühne Lindenfels
• Donnerstag 07.10., um 20:00 Uhr
In-Zeit-Sprung
- im Rahmen der 9. Leipziger Tanztheaterwochen
In Rosenhof in Schwand inmitten des Schwarzwalds nehmen ältere Tänzer und Tänzerinnen an einem Projekt des katalanischen Tänzers und Choreografen Pilar Buira Ferre teil.- im Rahmen der 9. Leipziger Tanztheaterwochen
R: Gabriel Flain, D/E 2019, 80 min
Luru-Kino in der Spinnerei
• Donnerstag 07.10., um 20:00 Uhr
Wenn man eine Liebe hat ...
(DDR 1986, Dok)
Der Dokumentarfilm zeigt die Arbeitsabläufe im Werkzeugmaschinenkombinat Fritz Heckert in Karl-Marx-Stadt.
R: Gitta Nickel, DDR 1986, Dok, 76 min
Lixer
• Donnerstag 07.10., um 20:30 Uhr
New Wave - Beste Kurzfilme der Ukraine 2021
UT Connewitz
• Freitag 08.10., um 20:00 Uhr
Aus dem Schatten
(CH 2019; OF) - anschließend Gespräch mit Gästen
Als die Sozialpädagogin Christa Liniger 1977 ihre erste Stelle im Sozialdienst einer psychiatrischen Klinik in einer eher ländlich geprägten Gegend antritt, strotzt sie förmlich vor Motivation, wird jedoch durch den patriarchalischen Klinikleiter Professor Sennhauser gebremst. - anschließend Gespräch mit Gästen
R: Marcel Gisler, D: Anna Schinz, Matthias Britschgi, Stefan Kurt, CH 2019, OF, 92 min
Cinémathèque in der Nato
• Dienstag 12.10., um 19:00 Uhr
Die Juden der Anderen. Geteiltes Deutschland, verteilte Schuld, zerteilte Bilder
- Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland (BRD 1972, Dok), Flammen (DDR 1967, Dok) - mit Gespräch
Die Dokumentarfilme »Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland« (BRD 1972) und »Flammen« (DDR 1967) mit anschließendem Gespräch.
Zeitgeschichtliches Forum
• Dienstag 12.10., um 19:00 Uhr
Kommen Rührgeräte in den Himmel?
(D 2016, Dok) - in Anwesenheit des Regisseurs - Globale
Dokumentarfilm über Nachhaltigkeit und die Wertschätzung unserer Besitztümer. - in Anwesenheit des Regisseurs - Globale
R: Reinhard Günzler, D 2015, Dok, 91 min
Neues Schauspiel Leipzig
• Dienstag 12.10., um 20:00 Uhr
Dear Future Children
(D/GB/AT 2020, Dok) - im Rahmen der Kritischen Einführungswochen
Dokumentation über drei junge Aktivistinnen, die in drei verschiedenen Ländern dafür kämpfen, dass die Welt in Zukunft besser ist.
R: Franz Böhm, D/GB/AT 2020, Dok, 92 min
Pöge-Haus
• Mittwoch 13.10., um 19:00 Uhr
Electric Cinema: Kinowanderungen
Mobiles Kino im öffentlichen Raum.
Stadtgeschichtliches Museum/Neubau
• Mittwoch 13.10., um 20:00 Uhr
Ernesto Che Guevara
(F/CH 1994, Dok) - Globale
Dokumentarisches Porträt des Revolutionsführers. - Globale
R: Roberto Massari, F/CH 1994, Dok, 105 min
Passage-Kinos
• Mittwoch 13.10., um 20:00 Uhr
Ghosts / Hayaletler
(TUR/F/QAT 2020; OmU) - anschließend Regiegespräch
Vier verschiedene Protagonisten und Geschichten zeigen, wie sich das moderne Istanbul verändert hat. - am 13.10. mit anschließendem Regiegespräch
Cinémathèque in der Nato
• Mittwoch 13.10., um 19:00 Uhr
Im Keller
(AT 2014, Dok)
Was unsere Nachbarn, die Österreicher, im Keller so treiben, zeigt uns Ulrich Seidl deutlich sichtbar mit den Mitteln der Inszenierung. Ein delikater Blick auf zivilisierte Unzivilisiertheit.
R: Ulrich Seidl, AT 2014, Dok, 82 min
Ost-Passage-Theater
• Mittwoch 13.10., um 20:00 Uhr