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Film

Der Tradition verhaftet

Die Leipziger Produktion »Stollen« legt ein Erzgebirgsdorf unters Brennglas des globalen Wandels

  Der Tradition verhaftet | Die Leipziger Produktion »Stollen« legt ein Erzgebirgsdorf unters Brennglas des globalen Wandels

Dicht hängen Nebelschwaden überm Tal. Die Kälte kriecht über das Erzgebirge. Der Ort Pöhla blickt auf eine 800-jährige Bergbaugeschichte zurück. Heute herrscht zur dunklen Jahreszeit Hochsaison in der Region. Wenn Schwibbögen in den Fenstern leuchten, werden die Öfen angeworfen und der Stollen angeschnitten, während unter Tage die Besuchergruppen durchgeschleust werden – jährlich rund 10.000 Touristen kommen in den Adventswochen hierher.

Die Region hat sich eine Zukunft geschaffen, wurde 2019 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Die Abwanderungsquote ist relativ gering, sagt Laura Reichwald. »Harte Arbeit gehörte schon immer zum Selbstverständnis der Menschen. Als der Bergbau ging, wurde der Region die gesamte Existenzgrundlage genommen. Wie sie sich jetzt ihre Heimat als Touristenregion erschließen, das bewundere ich.«

Die gebürtige Hallenserin hat einen Dokumentarfilm über das Erzgebirge und seine Menschen gedreht. Für den in Leipzig produzierten Film erhielt sie im Januar den Max-Ophüls-Preis. Dabei wuchs Reichwald gar nicht in der Bergwerksregion auf und studierte dann Kunst mit Schwerpunkt Film in Hamburg, später Dokumentarfilm an der Babelsberger Filmuniversität.

Ihr Interesse gilt den Geschichten vor ihrer Haustür. »Ich wollte eine Gegenwartsbeschreibung vom Osten machen und habe festgestellt, dass es in meinem Dorf nur noch die Bäckerei gibt als sozialen Ort. All die anderen Geschäfte sind weg. Deshalb wollte ich eigentlich etwas über die Bäckerei machen und dachte mir, Stollen ist ein schönes Gebäck, an dem man die harte Arbeit und den sozialen Treffpunkt festmachen kann.«

Mit ihrer Bildgestalterin Janine Pätzold reifte die Idee, die Geschichten dieser Region zu erzählen. In Pätzolds zweiter Heimat verdichteten sich diese schließlich zu Momenten, in denen sich globale Themen spiegeln. »Deshalb haben wir uns dazu entschlossen, einen genauen Film zu machen. Und waren fast ein Jahr lang für die Recherche dort.«

In der Kirche und Bäckerei, im Bergwerk hatten sie die Kamera stets zur Hand, drehten aber nie. »Dadurch hatten wir eine Art Berechtigung, nur weil wir überall waren und eine Menge Kaffee tranken«, sagt Reichwald. »Am Ende hat es niemanden mehr gestört hat, dass wir Weihnachten mit der riesigen Kamera durch den Mittelgang der Kirche tobten. Es war einfach völlig selbstverständlich.«

»Stollen« ist ein Film über die wichtige Rolle der Tradition für die Erzgebirgler. Dazu zählt Liedgut, wie die inoffizielle Hymne des Erzgebirges »Deutsch und frei wollen wir sein«. Im Film wird sie von einer Runde ehemaliger Bergarbeiter angestimmt: »Heil euch, ihr deutschen Brüder«. Unvermittelt entbrennt eine Diskussion über die Geschichte des Lieds. Man wolle sich nicht in die rechte Ecke drängen lassen. Einer dreht sich zur Kamera, erklärt, dass das 1908 geschriebene Lied später durch die Nazis vereinnahmt wurde, ebenso wie die Wismut sich das Steigerlied aneignete. Ein schwieriger Moment fürs Filmteam, aber auch das gehört für Reichwald dazu. »Ich wollte ein differenziertes Bild von diesem Traditionskomplex zeichnen, dabei nicht einfach urteilen, sondern sie das selber auffächern lassen. Deshalb war es wichtig, auf den Moment zu warten, wo sie es mir erklären.«

Wenige Filme setzen sich mit der Region auseinander. Der bekannteste ist wohl Volker Koepps Doku über »Die Wismut« (1993). Er zeigt das Erzgebirge Anfang der Neunziger als dreckige, dunkle Region. Damit hat sie heute nichts mehr gemein. Die Protagonisten vor Reichwalds Kamera wirken zufrieden. Ihr Rückhalt liegt in der Gemeinschaft. »Wir sind schon immer arme Leute gewesen«, sagt eine. Die Arbeit gehört zu ihrem Leben ebenso wie der Glaube.

»Es gibt keine Tradition ohne Bergbau«, so ein anderer. Auch deshalb entsteht gerade ein neuer Stollen: Das Erzgebirge hat eines der größten Zinnvorkommen der Welt. »Wenn man E-Autos will, muss man Bergbau betreiben«, sagt ein Unternehmer. »Warum sollte man das dann nicht vor der eigenen Haustür tun, statt Ausbeutung zu schaffen, wo sie unsichtbar für uns ist?« Auch hier liefert Reichwalds vielschichtiger Film ein Gesprächsangebot. Im Winter, wenn die Saison im Erzgebirge beginnt, wird der Film hoffentlich die Gelegenheit dazu bekommen, sie anzustoßen.

LARS TUNÇAY


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